Vorwort
Wer die Entwicklung im Bereich der Behindertenhilfe verfolgt, wird unschwer erkennen, dass in den letzten Jahren auf dem Gebiete des Autismus vieles in Bewegung geraten ist. Wohl in keinem anderen Bereich gibt es eine so dynamische Entwicklung, aber auch kontrovers geführte Diskussion, die sich sowohl innerhalb unterschiedlicher Disziplinen wie Medizin/Psychiatrie, Neurowissenschaften, Psychologie, Rehabilitations-, Heil- oder Sonderpädagogik als auch zwischen den verschiedenen Fachgebieten vollzieht.
Neuere Statistiken aus führenden Industrienationen zeigen auf, dass Autismus heute nicht mehr als eine eher seltene Behinderungsform in Erscheinung tritt. Nach US-amerikanischen Untersuchungen nimmt Autismus im Kontext von Behinderungen (developmental disabilities) derzeit am stärksten zu. So hat kürzlich, im März 2012, das National Institute of Mental Health, eine Unterabteilung des U.S. Departments of Health and Human Services, neueste Zahlen veröffentlicht, nach denen davon ausgegangen werden kann, dass unter 88 Neugeborenen ein autistisches Kind ist. Diese aktuellen Zahlen bestätigen den bislang auf der Grundlage von Statistiken des US-Centers for Disease Control and Prevention konstatierten Trend, dass sich in den letzten Jahren die Anzahl von autistischen Kindern drastisch erhöht hat1.
Wie in den USA wird gleichfalls in Großbritannien Autismus wesentlich häufiger diagnostiziert als noch vor einigen Jahren. Während in Großbritannien eine Prävalenzrate von etwa 1% zugrunde gelegt wird, weist eine Erhebung aus Südkorea gar einen Wert von 2,64% aus2. Vor diesem Hintergrund kann auf jeden Fall einer im Lancet3 veröffentlichten Studie gefolgt werden, die mit einer Prävalenzrate von über 1% an autistischen Menschen rechnet.
Dieser Wert wird gleichfalls für Deutschland vermutet.
Interessant ist die Frage nach den Gründen für den genannten Trend. Neben einem wachsenden gesellschaftlichen Bewusstsein und einer höheren Sensibilität in Bezug auf Autismus, vor allem im Hinblick auf sogenannte Asperger- oder hochfunktionale Autist(inn)en, wird auf veränderte und erweiterte Kriterien zur Diagnostizierung von Autismus, auf eine frühere Diagnostizierung im frühkindlichen Alter sowie auf verfeinerte, genauere Instrumente zur Erfassung autistischer Verhaltensweisen verwiesen. Ferner spielen Interessen und die Hoffnung von Eltern eine Rolle, durch eine neue oder exaktere Diagnose aus dem Autismus-Spektrum bzw. durch die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (autism spectrum disorders) anstelle einer sogenannten geistigen Behinderung (intellectual disability) bessere Unterstützungsleistungen zu bekommen. In dem Falle scheint die Zunahme von Autismus-Diagnosen auch artifiziell zu sein.
Nichtsdestotrotz spielt für betroffene Personen, repräsentiert durch Selbstvertretungsgruppen, die Überwindung einer unzureichenden Erfassung von Autismus und den damit verknüpften Besonderheiten und Problemen (u. a. im Bereich der Aktivitäten des alltäglichen Lebens) eine zentrale Rolle. So haben sich beispielsweise in den letzten Jahren immer mehr Personen zu Wort gemeldet, die ursprünglich als »geistig behindert« oder »gefühls- und verhaltensgestört« und erst im Erwachsenenalter als sogenannte Asperger- oder hochfunktionale Autist(inn)-en diagnostiziert wurden.
Zugleich wird ein weiterer Aspekt von Betroffenen kritisch gesehen – nämlich die Pathologisierung autistischen Verhaltens. Bis heute scheint es eine nahezu weltweite Gepflogenheit zu sein, Autismus als psychische Krankheit oder Störung wahrzunehmen. Auch wenn derzeit immer mehr Disziplinen, Forscher/innen und Fachleute dazu übergehen, den Begriff des Autismus durch den der Autismus-Spektrum-Störung (autism spectrum disorders) zu ersetzen, ist eine grundsätzliche Änderung dieser Sichtweise nicht erkennbar. Die beiden weltweit verbreiteten Klassifikationssysteme ICD-10 (ab dem Jahr 2015 ICD-11) und DSM 5 (vor dem Jahr 2013 DSM-IV) sind medizinischer Art und führen uns ein entsprechend symptomorientiertes Bild vor Augen.
Gegen diese einseitige Konnotierung richtet sich die Kritik. So schreibt zum Beispiel die Autistin Nicole Schuster in ihrem Buch »Ein guter Tag ist ein Tag mit Wirsing« (2007, S. 326): »Für mich ist mein Autismus keine Krankheit, die es zu heilen gilt … Menschen, die wie autistische Menschen ›anders‹ sind, machen unsere Gesellschaft erst bunt und interessant … Leider definiert man ihre Andersartigkeit in erster Linie über negative Attribute… Es werden Stärken ausgeblendet und Schwächen überbetont.« Unmissverständlich ist ebenso die Stimme aus dem Lager der Selbstvertretungsgruppen autistischer Menschen: »Die Art, wie wir anders sind als andere Menschen, zu pathologisieren, empfinden wir als Diskriminierung«, und »wir wehren uns dagegen, dass Autismus nur über Defizite definiert wird« (Aspies e. V. 2008).
Hinter der Selbstorganisation in Gruppenzusammenschlüssen verbirgt sich eine weltweit operierende Empowerment-Bewegung von Personen aus dem Autismus-Spektrum (autism rights movement), die als Experten in eigener Sache auftreten. Von zentraler Bedeutung ist dabei ihr Hinweis auf persönliche Stärken, der zu einem radikalen fachlichen und wissenschaftlichen Umdenken herausfordert.
Trotz der oben genannten, dominierenden Perspektiven lassen sich zunehmend Persönlichkeiten aus der Fachwelt, der Autismusforschung und der professionellen Praxis auf dieses Umdenken ein. So scheint sich allmählich die Einsicht durchzusetzen, dass heilpädagogische oder therapeutische Konzepte, die das Defizitäre fokussieren und auf symptomzentrierte Interventionen hinauslaufen, letztlich keinen angemessenen Beitrag zur Entfaltung der Persönlichkeit und Unterstützung eines selbstbestimmten Lebens autistischer Menschen leisten. Der zentrale Bezugspunkt, der diese Auffassung fühlbar durchdringt, ist die Stärken-Perspektive. Diese zeigt sich beispielsweise in Beschreibungen autistischer Menschen, wie sie Oliver Sacks vorgelegt hat, vor allem aber in einer wachsenden Zahl an Autobiographien oder Erzählungen, die direkt von Personen aus dem Autismus-Spektrum stammen. Diese Werke öffnen der Bezugs- und Mitwelt die Augen durch eine »Innenansicht«, die Autismus in all seinen Facetten beleuchtet und eklatante Missverständnisse und Fehlinterpretationen im Hinblick auf autistische Verhaltens- und Erlebensweisen aufzeigt.
Von dieser Entwicklung, die unter anderem auch ethisch bedeutsam ist, indem sie die Notwendigkeit einer veränderten Einstellung gegenüber autistischen Menschen signalisiert, gehen wichtige Impulse für weitreichende Änderungen in der Sozial- und Bildungspolitik, Autismusforschung und praktischen Arbeit aus. Wurde zum Beispiel bisher behauptet, dass etwa 75% aller autistischen Personen zugleich geistig behindert seien, so scheint nach neuesten Studien aus dem angloamerikanischen Sprachraum der Zusammenhang zwischen Autismus und geistiger Behinderung mit 30 – 50% weitaus geringer zu sein4.
Das bedeutet zum Beispiel für die schulische Bildung, dass nicht mehr wie bisher Förderschulen, vor allem Schulen mit dem Förderschwerpunkt geistige Entwicklung, als zentrale Lernorte für Kinder und Jugendliche im Autismus-Spektrum in Betracht gezogen werden dürfen. Autistische Schüler/innen haben genauso wie andere behinderte Kinder und Jugendliche nach der von Deutschland soeben ratifizierten UN-Behindertenrechtskonvention ein Recht auf einen Unterricht in einer allgemeinen Schule. Geschieht eine Platzierung in Förder- oder Sonderschulen gegen ihren Willen (bzw. den Willen ihrer Erziehungsberechtigten), steht dies im Widerspruch zur Behindertenrechtskonvention. Darauf haben inzwischen die meisten Bundesländer mit spezifischen Grundsätzen der Unterrichtung von autistischen Schülerinnen und Schülern in allgemeinen Schulen reagiert. Was jedoch fehlt, sind entsprechende Qualifizierungsangebote für Lehrerinnen und Lehrer an allgemeinen Schulen.
Es sehen sich aber nicht nur Lehrkräfte, sondern gleichfalls professionell Tätige in der außerschulischen, therapeutischen oder heilpädagogischen Praxis sowie Angehörige, wie vor allem Eltern autistischer Kinder und ebenso nicht-autistische Mitbürger, vor zahlreiche neue Herausforderungen gestellt. Dabei müssen die bisherigen, traditionellen Einstellungen zu Autismus überdacht und die Formen der Kommunikationen und Interaktionen, der Zusammenarbeit und Unterstützung neu bestimmt werden. Personen aus dem Autismus-Spektrum müssen als Bürger/innen mit Rechten und Wünschen anerkannt werden.
Insgesamt gesehen machen die aktuellen Entwicklungen deutlich, dass bisher vertretene Grundpositionen revidiert und um die Betroffenen-Sicht erweitert werden müssen, wobei immer auch Fragen nach den Konsequenzen für Forschung, Lehre und Praxis neu zu stellen sind. Eine solche Situation ist durch eine...