Kapitel 1
Zeitgemäßes Personalmarketing in der Pflege
Pflege ist Arbeit mit Menschen. Und die Arbeit mit Menschen steht in unserer schnelllebigen, hochtechnologisierten Zeit in besonderem Maße für das, was wirklich wichtig ist: für Nächstenliebe, Sehnsucht nach Beständigkeit und Aufmerksamkeit für den Moment. In der Pflege geht es um Leben oder Tod, sie führt uns aus den Sphären des Onlineshoppings und globalen Netzwerkens zurück zu den wesentlichen Dingen. Das neuste und teuerste Smartphone schützt uns nicht davor, krank und alt zu werden, uns schwach und hilflos zu fühlen.
In Krankenhäusern und Seniorenheimen scheint die Zeit langsamer zu vergehen. Vielleicht fällt es den Pflegeeinrichtungen in Deutschland deshalb etwas schwer, sich in Sachen Personalgewinnung an das Tempo und die Methoden anzupassen, die heutzutage notwendig und gängig sind und von anderen Branchen vorgegeben werden. Es ist ein Clash of Cultures, eine Kollision der Kulturen, doch das muss nicht bedeuten, dass Pflege und zeitgemäßes Recruiting nicht zusammengingen. Es braucht Fingerspitzengefühl und Durchhaltevermögen, um die beiden zusammenzubringen, aber es kann funktionieren.
DEFINITION
Recruiting oder Recruitment bedeuten Personalbeschaffung, Personalgewinnung, Personalmarketing, Mitarbeiterrekrutierung. Diese Begriffe werden in diesem Buch synonym gebraucht, wenngleich sie teils unterschiedliche Aspekte der zugrunde liegenden Aktivität betonen.
Als ich im Februar 2011 als Projektleiterin der zu diesem Zeitpunkt noch namenlosen Onlinekampagne „SOZIALE BERUFE kann nicht jeder“ bei der Diakonie Deutschland anfing, lagen auf meinem Schreibtisch ein paar altmodische Berufebroschüren und ein Ausbildungsstättenverzeichnis in einer fünf Jahre zuvor zuletzt aktualisierten Ausgabe. Das war alles – und es ließ sich als Zustandsbeschreibung sehr gut für weite Teile der Branche verallgemeinern (
Kap. 2.1). Nach einigem Stöbern in den archivierten Unterlagen meiner Vorgänger fand ich noch eine DVD mit vier Eineinhalb-Minuten-Clips, die soziale Berufe mit einem Augenzwinkern darstellten: Der Erzieher bereitet sich darin mit Fakirwettbewerb und Ameisenwettsitzen auf den Einsatz im Kindergarten vor, der Altenpfleger ist nach Pizza- und Puddingwettessen bestens gerüstet für die Tortenschlacht im Seniorenheim. Irgendwo versteckt auf der inzwischen längst relaunchten Verbandswebsite
www.diakonie. de waren die Clips auch online, aber eine echte Heimat hatten sie nicht.
Engagierte Jugendkommunikation zwecks Nachwuchsgewinnung hatte es zwar zwischenzeitlich durchaus ein paar Jahre lang gegeben, z. B. in Form von improvisierten Krankenzimmern auf Berufemessen und eines kostenlosen Artikelservices für Schülerzeitungen. Doch nach dem Austritt der verantwortlichen Mitarbeiter war nichts davon übrig geblieben – jedenfalls nichts, was man interessierten jungen Leuten oder Quer- und Wiedereinsteigern in Zeiten des Web 2.0 erfolgversprechend hätte in die Hand drücken können – die Klappbroschüren etwa? Kein Link, auf den man die potenziellen Bewerber guten Gewissens hätte verweisen können – die Berufeinfos auf der alten Version von
www.diakonie.de bestanden im typischen Web-1.0-Stil aus sachlichen Spiegelstrichlisten zu Ausbildungsinhalten und Zugangsvoraussetzungen ohne Ansprechpartner und Kontakte. Und schon gar nichts, was im Entferntesten die Botschaft rübergebracht hätte, die wir heute als Kernaussage unserer neuen Personalmarketingstrategie begreifen: Sozial- und Pflegeberufe machen Spaß und bringen Sinn in dein Leben, sie sind cooler, anspruchsvoller, vielfältiger und moderner als ihr Ruf, und wenn du dich dafür entscheidest, kannst du zu einer Gemeinschaft aus echt netten Fachkräften gehören, die das, was sie tun, gerne tun und sich bewusst dafür entschieden haben.
DEFINITION
Der Begriff Web 2.0 wurde Anfang der 2000er-Jahre geprägt, um das Internet in seiner heutigen interaktiven Form zu beschreiben: Im Gegensatz zum Web 1.0, in dem der Nutzer Inhalte passiv konsumierte, produzieren die Nutzer nun selbst Inhalte und gestalten das Internet aktiv mit. Merkmale des Web 2.0 sind die multimediale Darstellung von Inhalten und die sozialen Netzwerke.
Die schillernde Welt des modernen Personalmarketings
Auf Basis welcher Studien und Erkenntnisse, welcher Erfahrungen mit unseren Zielgruppen und welcher Portion Bauchgefühl wir unsere Strategie so gestrickt haben, wie sie sich Ihnen heute präsentiert, welche Überlegungen zu welchen Konzepten und Maßnahmen geführt haben und vor allem wie Sie sich durch die Onlinekampagne „SOZIALE BERUFE kann nicht jeder“ für die Personalgewinnung Ihrer eigenen Einrichtung inspirieren lassen können, werden Sie Schritt für Schritt in diesem Buch erfahren. Wer Personalmarketing bislang mangels Know-how, Etat oder personeller Ressourcen noch nicht wirklich offensiv betreibt, erfährt einiges über die Recruitinggrundlagen für Einsteiger und ihre Einsatzmöglichkeiten auch in kleinen oder mittelgroßen Einrichtungen (
Kap. 4). Wer diesbezüglich schon auf dem Laufenden ist, kann sein Repertoire mit einem Blick auf die Recruitingtrends für Fortgeschrittene (
Kap. 5) erweitern. Und wer sich mit beidem auskennt, erhält einen Einblick in den Erfahrungsschatz, den wir in über drei Projektjahren und nach fortwährender Konkurrenzanalyse und -beobachtung gewonnen haben: Was funktioniert und was nicht, was läuft bei den Best Practice-Beispielen richtig und bei den Worst-Practice-Beispielen falsch, was kommt bei den Zielgruppen an und woran lohnt es sich zu arbeiten?
Für die jugendliche Zielgruppe gibt es eine ganz klare Antwort (andere Zielgruppen werden in
Kap. 3 aber ebenfalls betrachtet): Hier funktioniert das Personalmarketing online hervorragend. Das Berufeportal
www.soziale-berufe.com im angesagten Street-Art-Stil, das konsequent nach den Nutzergewohnheiten im Web 2.0 gestaltet ist (Tipps zur Optimierung Ihrer Einrichtungswebsite gibt
Kap. 4.4), bietet jungen Leuten rund 30 Berufefilme und Selbsttests zu den einzelnen Berufen, einen Newsbereich, eine Stellenbörse für Ausbildung, Studium, Freiwilligendienst und Berufseinstieg. Dazu eine Ausbildungsstätten-Suchfunktion und verschiedene Interaktionsmöglichkeiten wie Kommentare, E-Mail-Berufsberatung oder den angegliederten Azubi-Blog
http://blog.soziale-berufe.com. Mehr über solche Onlinetagebücher, in denen Auszubildende in Sozial- und Pflegeberufen über ihren Ausbildungsalltag schreiben, erfahren Sie in
Kap. 4.7.4. Flankiert wird das Portal von einer Social Media-Kampagne u. a. auf Facebook (
Kap. 4.7.1) und Twitter (
Kap. 4.7.2), denn daran kommt zeitgemäßes Recruiting nicht mehr vorbei. Zwei Apps sorgen für das den Jugendlichen heutzutage vertraute Infotainment in Häppchenform.
DEFINITION
Umgangssprachlich meint der Begriff App (Kurzform von Applikation) meist das, was Experten als mobile App konkretisieren, also eine zusätzliche Anwendungssoftware (ein Miniprogramm) für mobile Endgeräte wie Smartphones und Tablets. Es gibt Apps mit Nutzwert wie Währungsrechner- oder Wettervorhersage-Apps und reine Unterhaltungs-Apps wie einfache Spiele oder Bildbearbeitungs-Apps. Außerdem gibt es Web-Apps (webbasierte Apps), die nicht auf das Gerät heruntergeladen werden müssen, sondern online genutzt werden können.
DEFINITION
Der Begriff Infotainment setzt sich zusammen aus Information und Entertainment (Unterhaltung). Man versteht darunter die unterhaltsame Aufbereitung von Informationen.
App Nr. 1, die Spaßversion des Einstiegstests „Bin ich der Typ für die Arbeit mit Menschen?“ (
http://testedich.soziale-berufe.com), die in ein, zwei Minuten zu einer augenzwinkernden Persönlichkeitseinschätzung führt, lässt sich prima auf Veranstaltungen einsetzen. Mit App Nr. 2, dem „Kann nicht jeder“-Bildgenerator (
www.kann-nicht-jeder.de), verwandeln die jungen Nutzer ihr eigenes Foto ruck, zuck in ein Graffiti-Plakat und hinterlassen es mit einem knackigen Spruch versehen digital im öffentlichen Raum. Die dabei entstehenden Testimonials lassen sich im Rahmen des Personalmarketings wunderbar weiterverwerten.
DEFINITION
Ein Testimonial (Empfehlung, Referenz) ist eine Form der Werbung: das Bekenntnis einer (meist berühmten) Person z. B. zu einer Marke, einem Produkt oder eben zu einem Arbeitgeber. Im Personalmarketing funktionieren besonders gut authentische (im Gegensatz zu gekauften) Testimonials, in denen z. B. echte Pflegekräfte in einprägsamen Worten ihre Motivation formulieren.
Was bei der zielgruppengerechten Ansprache Jugendlicher natürlich nicht fehlen darf, ist Bewegtbildinhalt. Die rund 100 Filme auf
www.youtube.com/sozialeberufe – von der Umfrage unter Auszubildenden mit Migrationshintergrund über Reportagen wie „Mein erster Ausbildungstag“ bis hin zu Erklärfilmen mit Bewerbungstipps oder Infos zum demografischen Wandel – werden hunderttausendfach geklickt. Die Produktion von Bewegtbild ist allerdings ein aufwendiges Unterfangen, das oft unterschätzt wird, wenn in Pflegeeinrichtungen spontan die Idee entsteht: „Lasst uns doch mal einen Recruitingfilm machen!“ Tipps dazu finden Sie in
Kap. 4.7.3.
Doch so wichtig und prägend das multimediale Internet in der Lebenswelt der Jugendlichen auch ist (
Kap. 3), den persönlichen Kontakt kann es nicht komplett ersetzen. Am Ende arbeiten Sie nicht nur in der Pflege, sondern auch im...