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Perspektiven erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung

VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl222 Seiten
ISBN9783531910369
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis34,99 EUR
In diesem Sammelband finden sich die aktuellen Perspektiven und Positionen der führenden FachwissenschaftlerInnen der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Neben Untersuchungen zum gesellschaftlichen Wandel von Selbstpräsentationen befassen sich die Beiträge mit methodischen Problemen der Analyse von biographischen Materialien und fokussieren insbesondere Reflexionsformate, Eingangssequenzen und Lern- und Bildungsprozesse. Weitere Perspektiven richten sich auf Erträge der Biographieforschung für die Professionsforschung oder für die Lernforschung, vor allem im Rahmen Lebenslangen Lernens.


Dr. Heide von Felden ist Professorin am Pädagogischen Institut der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

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Leseprobe
1 Zum Wandel autobiographischer Formate (S. 30-31)

Es gehört zu den zentralen Erkenntnissen historisch interessierter (Auto-)Biographieforschung, dass jenes Format, das wir auch heute noch mit der Idee der modernen Biographie verbinden, erst relativ jung ist und an die Entstehung der europäischen Moderne gebunden bleibt. Die gelegentlich amüsanten Studien von Carlo Ginsburg4 oder Natalie Zemon Davies (vgl. das folgende, ausführlich dokumentierte Beispiel), die spröderen Arbeiten der französischen École d’Annales, die literaturwissenschaftlichen Analysen von Garraty, Neumann, Niggl oder Scheuer (vgl. Garraty 1957, Neumann 1970, Niggl 1977, Scheuer 1979), auch die klugen sozio-historischen Überlegungen vor allem zur Beichte von Alois Hahn (vgl. Hahn 1982, 1988, Hahn/Knapp (Hrsg.) 1987) – sie alle stimmen darin überein, dass die Fähigkeit, sich selbst und die eigene Entwicklungsgeschichte zum Thema zu machen, auf völlig neuen Erfahrungen der beginnenden Moderne fußt und erst im 18. Jahrhundert einen breiteren literarischen Niederschlag gefunden hat (vgl. dazu ausführlich Alheit/Dausien 1990, Alheit 2000).

Eines der erstaunlichsten und, was die Quellenlage angeht, überzeugendsten Dokumente ist die Rekonstruktion eines Kriminalfalls aus dem späten 16. Jahrhundert, die wir vor allem Natalie Zemon Davis (1989) verdanken. Das Besondere an dieser authentischen Geschichte, in welcher ein gewisser Arnaud du Tilh die Identität des verschollenen Martin Guerre annimmt, ist nicht die Tatsache, dass der Rollentausch über lange Jahre hinweg unbeanstandet bleibt, sondern dass die offensichtliche soziale Duldung des Täuschers – jedenfalls bei den unmittelbar Betroffenen – wider besseres Wissen geschieht und doch nicht einfach als Komplizenschaft ausgelegt werden kann.

Tilh gelingt es, die „Biographie" des Martin Guerre soweit auszufüllen, dessen wichtigste Rollen und seinen Status so funktional wahrzunehmen, dass kein Anlass besteht, seine angemaßte Identität anzuzweifeln. Dabei kann er charakteristische und ausgesprochen sympathische Eigenarten des Arnaud du Tilh (z.B. ein amüsanter und zärtlicher Liebhaber zu sein) sogar beibehalten (vgl. Zemon Davis 1989: 54–71). – „Biographie" erscheint hier also zunächst nicht als einzigartiger Lebensverlauf eines Individuums, sondern als lose Verknüpfung ständischer Funktionen, bestimmter sozialer Rollen und eines plakativen Erscheinungsbildes.

„Biographie" muss gleichsam noch als vormoderner Erfahrungsmodus interpretiert werden. Was den Kriminalfall nun für unsere Zwecke besonders aussagekräftig macht, ist die juristische „Auflösung" der delikaten Täuschung. Arnaud du Tilh wird nach zwei Prozessen schließlich zum Tode verurteilt, nachdem der verschollene Guerre wieder aufgetaucht ist und in den Prozess eingreift. Die umfangreichen Gerichtsakten und besonders der bemerkenswerte Bericht eines der Prozessführer, des berühmten französischen Rechtsgelehrten Jean de Coras, belegen aber eindrucksvoll, dass Tilh in einem Indizienprozess unterliegt, in welchem vor allem eine penible Rekonstruktion der Biographie des (vermeintlichen) Guerre eine Rolle spielt (vgl. ebd.: insbesondere 90ff.). Offensichtlich hat also das Gericht eine sehr viel ‚modernere‘ Vorstellung von biographischer Konsistenz als die Menschen in Artigat, jenem Dorf am Fuße der Pyrenäen, aus dem Martin Guerre stammt.

Und zweifellos verfügt auch Arnaud du Tilh über dieses moderne Verständnis von Identität, weil er sich mit großem Geschick zu verteidigen versteht und die bewundernswerte Kenntnis sogar von intimsten Details der angenommenen Biographie beinahe zu seinem Freispruch geführt hätte (ebd.: 107ff.). Seine Niederlage ist eher dem Zufall geschuldet, dass Guerre tatsächlich zurückkehrt und von seinen Blutsverwandten spontan identifiziert wird. Die Konstruktion einer „Identität-Für-Sich", jene Leistung, die dem modernen Individuum in immer kürzer werdenden Abständen abverlangt wird, hat Tilh auf bemerkenswerte Weise vollzogen. Im modernen Verständnis wäre er der wirkliche Martin Guerre.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt6
Einleitung. Traditionslinien, Konzepte und Stand der theoretischen und methodischen Diskussion in der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung8
I. Theoretische Überlegungen28
Wechselnde Muster der Selbstpräsentation: Zum Wandel autobiographischer „ Formate“ in der Moderne129
Überlegungen zu einer Theorie biographischer Entwicklung aus pfadtheoretischer Perspektive*47
Über den Realitätsgehalt autobiographischer Stegreiferzählungen. Methodologische Standortbestimmung eines pädagogischen Zeitzeugenprojektes69
Lerntheorie und Biographieforschung: Zur Verbindung von theoretischen Ansätzen des Lernens und Methoden empirischer Rekonstruktion von Lernprozessen über die Lebenszeit109
Erzähltheoretische Grundlagen in der Biographieforschung: Ein Plädoyer für die Beschäftigung mit den Basiskonzepten129
II. Methodische Differenzierungen156
Biographie und Lebenslauf. Über ein biographietheoretisches Projekt zum lebenslangen Lernen auf der Grundlage wiederholter Erhebungen157
Biographisierungsleistungen in Form von Argumentationen als Zugang zur ( Re-) Konstruktion von Erfahrung174
Nichtlernen im biographischen Kontext. Eine bislang verkannte erziehungswissenschaftliche Kategorie190
Die Souveränität der Erzählenden und die Analyse von Eingangssequenzen bei narrativen Interviews. Erfahrungen aus dem Forschungs- und Interpretationskolloquium207
Autorinnen und Autoren222

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