Pestalozzis Schrift ´Die Abendstunde eines Einsiedlers` gehört wohl zu seinen am meisten gelesenen Schriften. Er verfaßte sie im Winter des Jahres 1789/90, als seine Armenanstalt auf den Neuhof scheiterte und endgültig aufgelöst wurde. Seine düstere Stimmung, die ihn aufgrund des unglücklichen Verlaufes seines Projektes ergriff, drückt sich aus in gedankentiefen und in feierlicher Sprache formulierten Aphorismen. Pestalozzi selbst bezeichnete seine Schrift in einem Brief vom 09. Juni 1779 an den ihm befreundeten Baseler Ratsschreiber und Historiker Isaak Iselin als „Vorred zu allem, was ich schreiben werde“[22]. ´Die Abendstunde eines Einsiedlers` ist somit als Präludium zu seinem folgenden literarischen Schaffen anzusehen. Sie enthüllt in der Tat entscheidende grundlegende Überzeugungen des Verfassers und gibt die Richtung und das Ziel seines Wirkens an. 1780 erschien ´Die Abendstunde` in der Maiausgabe der von Iselin verlegten Zeitschrift ´Ephemeriden der Menschheit`. Bild 2 zeigt die betreffenden Ausgabe. Ursprünglich hatte Pestalozzi seiner Schrift den Titel ´Lineamente von der Bestimmung des Mentschen, in seinen Classen und Lagen, mit höheren Aussichten` zugedacht und damit wohl umrißhaft das Thema seiner niedergeschriebenen Gedanken einfangen wollen; er entschied sich dann allerdings doch für den stimmungsvolleren Titel ´Die Abendstunde eines Einsiedlers`. Iselin, der die Schrift 1780 redigierte, nachdem Pestalozzi sie ihm in erwähntem Brief zusandte, fand die Schrift „sehr erhebend, bisweilen etwas schwazhaft“[23]. Iselin meinte mit seinem Urteil wohl die ausgeprägte Bildhaftigkeit und die zahlreichen Wiederholungen, denen sich Pestalozzi in seinem literarischen Schaffen bediente, die im Grunde aber Stilelemente des alttestamentarischen Parallelismus und die Freude an Umschreibungen widerspiegeln. Pestalozzi sah sich selbst in erster Linie auch nicht als Schriftsteller, wie er in einem Brief an Iselin vom 13. August 1779 gestand. Er schrieb: „Denn ich bin nicht zum Schriftsteller gebildet. Mir ist wohl, wenn ich ein Kind auf meinem Arm habe, oder ein Mensch, woher er kommt, mit Gefühl für Menschlichkeit vor mir steht. Und dann vergesse ich die arme Wahrheit, die sich auf der Feder modeln läßt, und gehe an der Hand der lieben Natur ohne Buch und Führer, so wie ein Mann in Zwilch neben mir gehen kann, meine Straße, und weiß so wenig von den Fußwegen und schönen Spaziergängen der Schriftsteller als ein Dorfjunge“[24]. Pestalozzis Bemühen um das Theoretische in seinen Schriften stand immer im Dienste der praktischen Brauchbarkeit und Anwendbarkeit für den Menschen.
Bild 2: Titelblatt der Maiausgabe der ´Ephemeriden der Menschheit` aus dem Jahre 1780[25]
´Die Abendstunde eines Einsiedlers` liegt in drei Fassungen vor:
1. Dem ´Entwurf` aus dem Jahre 1779,
2. dem Erstdruck in Iselins ´Ephemeriden`, Jahrgang 1780, Maiheft,
3. dem Neudruck in der von Niederer redigierten ´Wochenzeitschrift für Menschenbildung`, Jahrgang 1907, Nr. 13 – 14.
Niederer hat in seinem Neudruck Streichungen und Änderungen vorgenommen; u.a. gab er Pestalozzis Schrift den Titel: ´Pestalozzis erste Darstellung des Wesens und Umfangs seiner Methode`.
Ich habe mich in der folgenden Analyse dem Erstdruck der ´Abendstunde` in den ´Ephemeriden` aus dem Jahre 1780 bedient. Meine Leitfrage für die Auseinandersetzung mit dem Text lautete: Was ist die Struktur der Idee der Menschenbildung bei Pestalozzi?
Ich beginne mit Pestalozzis Eingangsfrage nach dem Wesen des Menschen und seiner Grundüberzeugung von der Wesensgleichheit aller Menschen. Ich folge Pestalozzi weiterhin auf seine Suche nach allgemeiner Menschenwahrheit, die den Menschen in seinem Innersten befriedigt, und zeige die Bahn der Natur auf. Dies führt mich schließlich zu Pestalozzis Idee der Menschenbildung und seiner Theorie der drei Lebenskreise.
Pestalozzis Ausgangsfrage, von der aus er seine weiteren Fragen und Theorien entfaltet, wird schon im ersten Satz seiner Schrift deutlich: „Der Mensch, so wie er auf dem Throne und im Schatten des Laubdaches sich gleich ist: der Mensch in seinem Wesen, was ist er?"[26] Gleichzeitig mit der Frage nach dem Wesen des Menschen enthüllt er aber auch seine Grundüberzeugung, daß alle Menschen in ihrem Wesen gleich sind.
Pestalozzi führt sein Erkenntnisinteresse und seine Grundannahme weiter aus: „Was der Mensch ist, was er bedarf, was ihn erhebt und was ihn erniedrigt, was ihn stärket und ihn entkräftet, das ist Bedürfnis der Hirten der Völker und Bedürfnis des Menschen in den niedersten Hütten“[27]. Pestalozzi ist der Überzeugung, daß derjenige, der „als Erzieher oder Politiker, oder in welcher Funktion auch immer, sich um den Menschen zu kümmern hat“, wissen muß, „mit wem er es zu tun hat, nach welchen Gesetzen dieser Mensch reagiert, sich entwickelt, und wohin er sich entwickeln soll“[28]. Pestalozzi macht sich auf die Suche nach grundlegenden Wesensmerkmalen und inneren psychischen Entwicklungsgesetzen, die allen Menschen gemein sind; er fragt nach einer grundlegenden Menschenbildung, die jedem Menschen zusteht und ihm eine befriedigende Entfaltung seines Wesens ermöglicht.
Pestalozzis Eingangsfrage nach dem Wesen des Menschen und seinen grundlegenden Bedürfnissen verweisen ihn auf die Suche nach einer fundamentalen Wahrheit, die aufgrund der Wesensgleichheit aller Menschen allgemeine Menschenwahrheit sein muß: „Alle Menschheit ist in ihrem Wesen sich gleich und hat zu ihrer Befriedigung nur eine Bahn. Darum wird die Wahrheit ... allgemeine Menschenwahrheit sein“[29].
Im Vordergrund der Überlegungen Pestalozzis steht „nicht die Erkenntnis um ihrer selbst willen, nicht die Erkenntnis als Selbstzweck und als freies Spiel der Erkenntnisvermögen, sondern eine inhaltlich bestimmte Erkenntnis“[30]. Es ist eine „Wahrheit, die ihn (den Menschen; A.d.A.) in seinem Innersten befriedigt, die seine Kräfte entwickelt, seine Tage erheitert und seine Jahre beseligt“[31]. Pestalozzi spricht hier von einer Wahrheit, die den Zweck hat, dem Menschen bei der Befriedigung seiner elementaren natürlichen Bedürfnisse und der Entfaltung seiner inneren Anlagen zu verhelfen; eine praktisch für die Lebensgestaltung anwendbare Wahrheit also, die dem Menschen zu einem erfüllten, glücklichen Leben verhilft.
„Alle reinen Segenskräfte der Menschheit sind nicht Gaben der Kunst und des Zufalls, im Innern der Natur aller Menschen liegen sie mit ihren Grundanlagen, ihre Ausbildung ist allgemeines Bedürfnis der Menschheit“[32]. Jeder Mensch trägt also Wahrheit in sich, sie ist eine natürliche Anlage, die in jedem Menschen schlummert und nach der er strebt, sie zu entfalten.
Pestalozzi regt an: „Mensch, forschest du ... nach Wahrheit, so findest du sie, wie du sie brauchst, für deinen Standpunkt und für deine Laufbahn“[33]. Wahrheit besitzt nach Pestalozzi neben ihrem allgemeinen Gehalt also auch einen individualbestimmten Inhalt, der Spiegel und Grundlage des jeweiligen individuellen Entwicklungsstandes und –verlaufes des Menschen ist und ihn von allen anderen Menschen unterscheidet, ihn unverwechselbar macht. Seine individuelle Wahrheit muß der Mensch ergründen und in seiner praktischen Lebensgestaltung umsetzen, damit er seine inneren Anlagen optimal entwickelt. Pestalozzi führt weiter aus: „Standpunkt des Lebens, Individualbestimmung des Menschen, du bist das Buch der Natur“[34].
Die Wahrheit, von der Pestalozzi spricht, findet in einem engen Kreis ihren Ursprung und dehnt sich von da an aus; dabei ist sie in ihrem allmählichen Voranschreiten je nach Entwicklungsstufe inhaltlich begrenzt: „Du kannst ... nicht alle Wahrheit brauchen. Der Kreis des Wissens, durch den der Mensch in seiner Lage gesegnet wird, ist enge, und dieser Kreis fängt nahe um ihn her, um sein Wesen, um seine nähesten Verhältnisse an, dehnt sich von da aus“[35]. Pestalozzi hält den Menschen dazu an, sich nicht in Vielwisserei zu verlieren, sondern sich auf die Ordnung seiner nähesten Verhältnisse zu konzentrieren und seinen Wissenskreis von dort aus langsam weiter auszudehnen:
„Die Menschenweisheit, die sich durch die Bedürfnisse unserer Lage enthüllet, stärkt und bildet unsere Wirkungskraft, und die Geistesrichtung, die sie hervorbringt, ... ist von der ganzen Kraft der in ihren Realverbindungen feststehenden Naturlagen der Gegenstände gebildet und daher zu jeder Seite der Wahrheit lenksam“[36]. Es handelt sich bei der Menschenbildung also nicht um formale Bildung im herkömmlichen Sinn, wie sie z.B. in der Schule vermittelt wird. Pestalozzi legt bei der Aneignung von Wissen im Gegenteil großen Wert darauf, daß das Wissen inhaltlich an den natürlichen Bedürfnissen des Lebens orientiert ist und...