KAPITEL 2
Die Pferdisch–Philosophie
Wir beginnen Pferdisch zu lernen, wenn wir Pferde nicht nur anschauen, sondern sie wirklich sehen.
Menschen sprechen gerne über Gegenstände, geben ihnen Namen und erzählen Geschichten über sie. Pferde vergegenständlichen die Welt nicht so, wie wir es tun. Wir benennen alles. Kennen wir den Namen von etwas, verleiht uns das eine Art Kontrolle und Macht über die Welt. Betreten wir einen Raum, dann benennt unser Gehirn alles, was sich in diesem Raum befindet: die Tür, das Fenster, die Wand, den Schaukelstuhl, das Buch, die Katze und so weiter. Wissen wir, um was es sich handelt, haben wir auch keine Angst mehr davor. Stellen Sie sich vor, Sie wären von Aliens entführt worden und befänden sich in einem Raumschiff. Wie erschreckend müsste es sein, wenn Sie keines der fremden Objekte um Sie herum identifizieren könnten! Mit Hilfe unserer Vernunft vergegenständlichen und verallgemeinern wir unsere Umwelt. Wir müssen sie nicht direkt erleben und erfahren, um sie zu verstehen. Bei Pferden verhält es sich genau andersherum. Sie leben in einem Fluss der Erfahrung. Sie sind sich dessen auch ununterbrochen bewusst und beziehen Stellung dazu. Sie funktionieren über Sinneswahrnehmung. All ihre Sinne laufen auf Hochtouren, um ihre Aufmerksamkeit gegenüber der Umwelt wach zu halten. Teilt uns ein Pferd mitten in einem Gespräch seine Beunruhigung in Bezug auf seine Umwelt mit, so hat sich alles andere in der Warteschleife einzufinden und wir müssen uns um seine Sorgen kümmern.
Je mehr Übung wir darin haben, auf ihre Sorgen einzugehen, umso sicherer fühlen sich die Pferde in der Welt – zum Glück. Dadurch kommt es beinahe nicht mehr vor, dass ein Pferd scheut, und falls doch, so sortiert es sich zusammen mit uns wieder neu, statt dass es versucht, zu fliehen.
„Ohne Spekulation gibt es keine neue Beobachtung.“
CHARLES DARWIN, 1857
Beobachten lernen
Oft sehen wir ein Pferd an und analysieren sofort seine Eigenschaften oder sein Verhalten. Doch uns muss klar werden, dass wir nicht so präsent, ehrlich und ruhig sein können, wie unser Pferd uns braucht, wenn wir uns auf seine Charaktereigenschaften fixieren.
Schon häufig habe ich Pferdebesitzerinnen gebeten, in Gegenwart ihres Pferdes nicht über das Pferd zu sprechen. Wenn sie mir eine Geschichte über sein Verhalten erzählen möchten, schlage ich vor, das außerhalb des Stalles zu tun. Ich habe unzählige Male gesehen, wie Pferde ihre Ohren anlegten, sich aufspielten oder herumhampelten, wenn ihr Mensch aufgewühlt von ihrem Hintergrund berichtete. Pferde sind Meister darin, Veränderungen in der Körpersprache wahrzunehmen. Das gilt auch für die beinahe unsichtbaren Veränderungen in unserem Körper, wenn wir emotional werden. Wir müssen uns bemühen, die Mikrobewegungen von Pferden zu beobachten. Viele Leute finden es schwierig, ihre inneren Dialoge zu beenden und einfach in der Gegenwart zu sein, um wahrzunehmen, was wirklich um sie herum passiert – ohne dieses zu interpretieren. Es braucht ein wenig Übung, wertfrei zu beobachten, ohne einen kleinen Kommentator im Hinterkopf, der Notizen macht, alles mit allem vergleicht und ständig nach den Ursachen fragt. Es ist eine gute Sache sich Notizen zu machen und im Gesamtzusammenhang nach Ursachen zu suchen. Unser Ziel ist es aber, es nicht zu tun, denn wir wollen lernen, zu beobachten.
Entdeckerdrang
Sobald ein Kind sprechen lernt, lernt es auch, was „Fass das nicht an“ bedeutet. Pferde wollen trotzdem alles anfassen. Wenn wir ihnen nicht ein wenig Raum zugestehen, in dem sie auf Entdeckungsreise gehen können, oder wenn wir keinen Weg finden, um ihnen zu sagen, dass wir der Meinung sind, ein Objekt sei ungefährlich, werden sie immer ängstlicher.
Ist das Vermenschlichung?
Was ich zu tun versuche, widerspricht vermutlich den hergebrachten Vorstellungen über Pferde. Wissenschaftliche Methoden werden laut Wikipedia wie folgt definiert:
„Wissenschaftliche Methoden bestehen aus einer Reihe von Techniken, mit deren Hilfe man Phänomene erforscht, indem man komplexe Systeme in kleinere Teile aufspaltet. Dadurch erwirbt man neues Wissen oder korrigiert und integriert vorheriges Wissen nach neuen Kriterien…und nutzt dafür eine Forschungsmethode, um empirische und messbare Fakten zu erhalten.“
Ich bin keine Wissenschaftlerin, aber ich habe Spaß an der Wissenschaft und mag ihre Logik. Meine Mutter war veterinärmedizinische Assistentin und als Kind verbrachte ich meine freie Zeit in der familiengeführten Tierklinik, wenn ich nicht gerade selbst krank war. Den Umgang mit gestressten Tieren zu erleben und von medizinischen Geräten umgeben zu sein, hat mir einen tiefen Respekt für die Wissenschaft eingeflößt. Da ich einen großen Teil meiner Kindheit in Sauerstoffzelten lag und an Infusionsflaschen hing, wusste ich instinktiv, wie man ein krankes Tier mit fürsorglichem Verständnis erreicht. Durch Unterricht und Beobachtung lernte ich sehr viel mehr als das Tätscheln eines Kätzchens. Ich fand heraus, wie man mit angespannten Tieren umgeht und die Signale erkennt, die darauf hinweisen, dass man kurz davor steht, gebissen oder gekratzt zu werden.
Ich weiß den medizinischen Fortschritt wirklich zu schätzen. Allerdings sind auch die schrecklichsten Tierversuche über Jahre hinweg im Namen der Wissenschaft verübt worden. Das hatte zur Folge, dass Tiere lediglich als eine Gruppierung von Verhalten und Reaktionen auf Reize betrachtet und daher unter dem Menschen angesiedelt wurden. Zeigte ein Wissenschaftler Mitgefühl, wenn er in diese Form der Wissenschaft einbezogen war, galt er als nicht objektiv. Man nahm an, dass er dann die Ergebnisse des Experiments verfälschte, weil er seine inneren Konflikte, Vorlieben und Gefühle auf das betreffende Objekt oder das Tier projizierte.
Auf der anderen Seite haben wir den Drang, Tiere zu vermenschlichen. Wir schreiben ihnen menschliche Eigenschaften, Gedanken und Verhaltensweisen zu, sowohl in Kinderbüchern als auch in Fernsehserien und Spielfilmen oder in den Sozialen Medien. Viele begründen das damit, dass Menschen eine Verbindung zur Natur brauchen. Die Leere, die durch das urbane und von Technik geprägte Leben entstanden ist, füllen wir aus, indem wir Fantasiebilder von Tieren erschaffen.
»Wenn uns das Verhalten eines Tieres emotional berührt, ist das ein klarer Hinweis darauf, dass wir intuitiv eine Ähnlichkeit zwischen seinem Verhalten und menschlichem Verhalten entdeckt haben. Dies sollten wir in unserer Beschreibung nicht verheimlichen.«
KONRAD LORENZ, HIER BIN ICH – WO BIST DU? (PIPER,1988)
Die meisten unserer Entscheidungen beruhen auf Gefühlen. Wir können uns von unseren Pferden angegriffen oder enttäuscht fühlen, weil wir ihnen menschliche Eigenschaften zugeschrieben haben. „Er weiß, was er tun soll, er ist nur stur.“ „Lass ihm das nicht durchgehen, er versucht, dich für dumm zu verkaufen.“ „Pferde sind von Natur aus faul. Das musst du ihnen austreiben.“ „Er respektiert dich nicht.“ Und: „Er ist mein großes Baby!“ „Er passt so gut auf mich auf.“ „Er ist so ein Schatz.“ Und so weiter. Dies alles sind übliche Fehlinterpretationen von Pferdeverhalten. Leider bestimmen sie zu einem großen Teil das, was wir mit unseren Pferden tun.
Fakt ist, dass wir vermenschlichen, weil sowohl Pferde als auch Menschen Säugetiere sind und beide Arten Gefühle haben. Zuneigung, Auseinandersetzungen, das Bedürfnis, sich sicher zu fühlen sind nur einige Beispiele dafür. Wenn wir aber der Reaktion eines Pferdes menschliche Gefühle zugrunde legen, führt das häufig zu Konflikten. Und die Kluft wird breiter.
Das Problem besteht nicht darin, ob sich die Gefühle eines Tieres auch im Labor bestätigen lassen, da niemand von uns in einem Labor lebt. Die Frage ist vielmehr, ob es uns gelingt, die Körpersprache von Tieren so präzise wie möglich zu erkennen und zu interpretieren, ohne ihr dabei unsere vorgefasste Meinung überzustülpen.
Pferde haben nicht nur Gefühle, sie sind gefühlsbetonte Geschöpfe. Die Art und Weise, wie sie fühlen, ist ein Grund, warum sie uns so anziehen. Pferde haben Pferdegefühle und Menschen haben Menschengefühle. Zusammen könnten wir das Beste, das uns ausmacht, miteinander teilen. Pferdisch bietet uns einen Weg, Klarheit zu finden – sowohl für unsere Beobachtungen als auch für unsere Fähigkeit, sie zu interpretieren.
»Die Angst vor den Gefahren des Anthropomorphismus hat viele Ethologen dazu veranlasst, interessante Phänomene zu leugnen und es wurde offensichtlich, dass sie sich eine gewisse disziplinierte Milde leisten könnten.«
ROBERT HINDE, ETHOLOGY, OXFORD PRESS, 1982
Worauf eine gute Beziehung beruht
Die meisten Menschen forschen nicht über Pferde. Sie reiten auch nicht in der Kavallerie. Kavalleriepferde und ihre Reiter durchliefen gemeinsam ein Trainingslager und waren rund um die Uhr zusammen. Das erklärt die intensive Bindung, die Kameraden unter solchen Umständen in der Regel zueinander haben. Ich besitze einige sehr berührende Schwarz-Weiß-Fotografien aus der vorigen Jahrhundertwende, auf denen Soldaten und ihre Pferde das ausdrücken, was ich als ausgesprochen tiefe Beziehung zueinander bezeichnen würde.
Vielleicht denken Sie, dass es in manchen Reitstunden noch immer zugeht wie beim Militär... Aber es ist wirklich etwas völlig anderes, wenn Pferd und Reiter zusammenleben und -arbeiten, wenn sie aufeinander angewiesen sind und unter nicht immer einfachen Umständen den gesamten Alltag miteinander teilen.
In unserer modernen Welt tauchen die meisten bestenfalls einige Male in der...