Wohin mit der Wut?
»Dunkelheit kann keine Dunkelheit vertreiben, nur das Licht kann das. Hass kann keinen Hass beenden, nur die Liebe kann das.«
— Martin Luther King
Letzte Nacht hatte ich einen Traum: Ich sah Menschenmengen in panischer Flucht, brennende Städte, Bomben, schreiende Kinder. Der Traum war nicht weit von der Realität entfernt, wie ich am Morgen las: In Calais räumte die französische Polizei in derselben Nacht gewaltsam den »Jungle«, ein Flüchtlingslager, in dem über viele Monate eine Hüttenstadt mit selbstverwalteter Infrastruktur, gegenseitiger Hilfe, Schule, Kirche und Restaurants gewachsen war. Einige Tausend Menschen stehen wieder einmal im Nichts. Doch in meinem Traum war etwas anders: Ein Fernsehzuschauer, der das alles mit ansah, zwischen Werbung für Katzenfutter und Smartphones, blieb nicht auf seinem Hintern hocken. Er sprang aus seinem Sessel und mitten in die Bilder hinein – um zu helfen. Ich schreibe das Buch auch für diesen jungen Mann aus meinem Traum. Für alle, die etwas tun wollen. Und dafür, dass wir lernen, was wir tun können.
Die meisten von uns leben hinter gut gesicherten Wahrnehmungsschwellen. Wir sehen, aber fühlen nicht. Theoretisch kennen wir die Apokalypse, in der sich ein großer Teil der Tier- und Menschenwelt befindet, aber wir empfinden nicht mehr als eine dumpfe Bedrohung, die wir möglichst schnell weg-konsumieren. Wir wissen, dass Hunger als Kriegswaffe eingesetzt wird, dass Kinder verhungern. Verhungern! Es geschieht jetzt in diesem Moment, hier auf diesem Planeten! Allein der Anblick eines einzelnen dieser Kinder würde unser Herz zerreißen, und es sind viele tausend jeden Tag. Wie kommt es, das wir nicht schreiend auf die Straße rennen, wenn wir so etwas Entsetzliches hören? Woher kommt unsere gottverdammte Duldsamkeit? Warum ziehen wir nicht los, bis wir wissen, was wir tun können, um den globalen Wahnsinn zu beenden? Wo ist der Mensch, der Anteil nimmt, sich mit anderen zusammen tut und klug und wirkungsvoll handelt?
Ich kann mich gut daran erinnern, wie fassungslos ich als Kind war, als ich realisierte, dass man doch hin kann in die Hungergebiete, zu den hungernden Menschen. Man zeigte mir Fotos von ihnen. Und wenn Fotografen in die Gebiete reisen können, könnten doch Lebensmittel hin transportiert werden. Aber es geschah nicht, man ließ sie sterben, jeden Tag aufs Neue, seit vielen Jahren, und wir leben weiter, wir essen, trinken, schlafen wie immer. Für mich war dieser Wahnsinn der Normalität der Bruch mit der Welt der Erwachsenen.
Inzwischen bin ich selbst erwachsen. Manchmal kommt es mir so vor, als befinden wir uns inmitten eines groß angelegten Menschenversuchs, eines Tests dafür, wie viel Vernichtung von Leben wir noch über uns ergehen lassen, ohne zu sagen: Stopp! Es reicht!
Wir haben unser Herz verschlossen vor dem, was auf dieser Welt vor sich geht, denn wenn es offen wäre, könnten wir nicht so weiterleben wie bisher. Im Zustand des verschlossenen Herzens aber streben wir vergeblich nach Glück und Erfüllung oder Erleuchtung. Chronischer Liebeskummer, Unruhe, Potenzprobleme oder Gefühle von Sinnlosigkeit haben mehr mit der Weltsituation zu tun, als wir denken – ob wir sie bewusst wahrnehmen oder nicht. Auch deshalb – um wieder lieben zu können – müssen wir lernen, wie wir in der Welt wirksam handeln und helfen können.
Gleichgültigkeit ist die neue Form des Faschismus, sagte der Zeitzeuge und Berufsschulpfarrer Hans de Boer. Es ist Gleichgültigkeit, die unsere Normalität am Leben erhält. Es ist der Drang, die nicht gewagte Anteilnahme zu kompensieren, die die Konsumindustrie ölt.
Und wenn wir das Herz doch öffnen? Wenn wir es wagen, ein kleines Stück jenes Schmerzes wahrzunehmen?
Zwei Beispiele:
Im Winter 2015 beschießt vor Lesbos die türkische Küstenwache Boote mit Flüchtlingen mit Wasserkanonen und sticht auf die Schlauchboote mit Messern ein, bis sie untergehen. Das geschieht mehrmals. Bis zum Regierungswechsel Griechenlands war das sogar allgemeine Praxis, auch der griechischen Küstenwache. Machen wir uns das klar: Es gehört zur akzeptierten Grenzsicherung des zivilisierten Europas, ganze Familien von Schutzsuchenden ertrinken zu lassen, absichtlich!
Ein anderes Beispiel kommt aus Lateinamerika: Berta Cáceres, Lenca-Indianerin in Honduras, wurde die »Mutter aller Flüsse« genannt, denn sie beschützte die heiligen Flüsse der Lenca gegen die Großstaudammbau-Pläne ihres Landes. Aufgrund des nicht ermüdenden Protestes zogen sich der Hauptinvestor des Projektes und die Weltbank schließlich aus dem Projekt zurück. Doch am 3. März 2016, einen Tag vor ihrem 45. Geburtstag, dringen zwei Unbekannte in Berta Cáceres‘ Haus und erschießen sie im Schlaf. Sie entkommen unerkannt. Bertas Genossen sind sich sicher, dass die von den USA geförderte Regierung dahinter steht. Berta war die 109. Umweltaktivistin, die seit 2010 in Honduras ermordet wurde.
Das sind Nachrichten, bei denen ich keine Tränen mehr habe. Wenn ich das an mich herankommen lasse, werde ich zu einem inneren Explosivkörper, will Riesenhände haben, die Staudämme zerquetschen, die Mörder packen, die Befehlshaber an den Ohren aus ihren Wachstuben und Parlamenten zerren … – bis ich feststelle, dass ich mich mit der Wut in demselben System befinde wie der Krieg. Im Zustand der Wut fühle ich, wie leistungsfähig und angstfrei Menschen sind, wenn sie kein Gesetz und keine Anstandsregel mehr beachten müssen, sondern einfach den Riegel vor ihrer jahrelang zurückgehaltenen und gestauten Lebensenergie wegziehen. Affekt fühlt sich immer gesund an – solange er dauert, viel gesünder jedenfalls als stillhalten. Aber Frieden machen kann ich in diesem Zustand nicht. Wut heilt keine Wut – und ganz sicher nicht, wenn sie alles jemals erlittene Unrecht, jede Schmach und alle eigenen Fehler in einen Feind hineinprojiziert und vernichten will.
Das ist das andere Problem, das ich als Friedensarbeiterin mit der Wut habe: Wenn ich genauer hinschaue, finde ich niemanden, gegen den ich sie richten kann. Ob Attentäter, Politiker, Investoren, verschlafene Bürger – egal, wen ich im Geiste aufsuche: Ich treffe keine ursprünglich Bösen. Ich treffe andere Opfer, Rädchen im Getriebe, unbewusste Gefolgsleute, ursprünglich idealistische, aber durch Sachzwänge und Druck gefesselte Entscheidungsträger, die nichts mehr entscheiden können. Es ist kein Einzelner, es ist ein geöltes System aus globalisierter Wirtschaft, Wissenschaft, Regierungen, Armeen und Medien, das Stück für Stück den ganzen Globus vereinnahmt und vergiftet hat. Und wir sind ein Teil davon, wir erhalten es aufrecht durch die Art, wie wir leben, denken, uns informieren, konsumieren, unsere Beziehungen führen und unsere Kinder aufziehen. Es ist heute unmöglich, in der Gesellschaft zu leben und nicht mit jedem Lebensmitteleinkauf, jedem Stromanschluss, jeder Ferienreise zum Mittäter zu werden. Das Ziel meiner Wut bin also unter anderem ich selbst.
»Be the change you want to see in the world«, sagte Gandhi: Sei die Veränderung, die du in der Welt sehen willst.
Wut ist nicht per se falsch. Wir müssen sie aber richtig lenken. Wut ist ein menschlicher Rohstoff, den wir nicht einfach wegstrampeln, aber durch den wir uns auch nicht wie ein Esel mit einer Möhre an der Nase herumführen lassen dürfen. Nur wütend sein reicht nicht, es macht uns klein, hilflos und lenkbar. Wir müssen in unserer Wut intelligent werden. Sie reinigen von persönlichem Beleidigtsein und Rachegelüsten, von Gefühlen der Ohnmacht, statt dessen anreichern mit Wissen, Umsicht, Wahrnehmung und Mitgefühl und dann gezielt in strategisches Handeln umsetzen. Integrierte, bedachte, geklärte Wut kann unseren Entscheidungen und Handlungen Autorität, Nachdruck, Stringenz, Wirksamkeit und Willenskraft geben, um nicht nur das alte System zu bekämpfen, sondern ein neues aufzubauen. Sie hilft uns, entschlossener vorauszudenken und klarer zu sehen, über Angstschwellen zu gehen und gibt uns den nötigen Biss zur Selbstveränderung. Handle niemals aus dem Affekt! Lenke die Energie der Wut in Taten des Mitgefühls.
Viel zu lange waren wir resigniert angesichts der Machtlosigkeit von Widerstands-, Umwelt- und Friedensgruppen. Das Gefühl der Wirkungslosigkeit im Äußeren trieb uns die politische Handlungskraft aus und führte uns in die Arme einer Therapie- und Selbsterfahrungsbewegung, die immer sagte: »Fangt bei euch selbst an!«
So ließen wir uns auseinanderdividieren – hier die Widerstandsbewegung, dort diejenigen, die »an sich selbst arbeiteten«. Wie unglaublich dumm das war!
Ja, es geht auch um Selbstveränderung, damit wir nicht unbewusst und automatisch die gleichen Strukturen immer wieder wiederholen. Es geht um unsere eigene Heilung von dem kollektiven Trauma, das die Geschichte und die Gesellschaft in uns eingegraben haben. Aber echte Heilung von Leib und Seele gibt es nur, wenn wir dem...