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KAPITEL 2
ERKLÄRUNG GESUCHT
Nahtoderfahrungen sind ungewöhnlich, sie gehen weit über unser Alltagserleben hinaus. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, dass so etwas wahr sein kann. Und wenn jemand Dinge erzählt, wie sie uns im vorigen Kapitel begegnet sind, ist die Erklärung schnell zur Hand: Das sind frei erfundene Geschichten! Leider wahr – wenigstens im Falle des »Jungen, der aus dem Himmel zurück kehrte«48: Das Buch erzählt vom damals 6-jährigen US-amerikanischen Jungen Alex, der einen schweren Autounfall nur knapp überlebte und mit der folgenschwersten Querschnittslähmung, die man sich vorstellen kann (Tetraplegie mit Atemlähmung), zurückblieb. Er behauptet, in der Zeit seines mehrwöchigen Komas im Himmel gewesen zu sein. Der Vater von Alex, Kevin Malarkey, ein christlicher Therapeut, erzählt die Geschichte packend: Die Katastrophe, das Bangen um Alex’ Leben, die Fortschritte und Rückschläge, die enorme Belastung für die Familie, die eindrückliche Unterstützung durch viele, zum Teil unbekannte Menschen, sei es durch Gebet oder materielle Hilfe. Am Schluss jedes Kapitels folgen einige Worte »von Alex« über seine angeblichen Erlebnisse im Himmel. Jedoch Anfang 2015, knapp fünf Jahre nach Erscheinen der englischen Originalausgabe, bekennt der inzwischen 16-Jährige, er sei nicht im Himmel gewesen. Er habe das alles nur geschrieben, um »Aufmerksamkeit zur erregen«49.
Vom Standpunkt der Nahtoderfahrungs-Forschung ist damit zwar nicht viel verloren, sind die »Himmelsbeschreibungen« in diesem Buch doch sehr vage und allgemein, wie zum Beispiel diese Aussage: »Es gibt verschiedene Arten von Engeln. Die Leute wollen oft, dass ich sie beschreibe, aber das ist schwer. Ich kann nur Wörter benutzen wie prächtig, herrlich und unglaublich.«50 Im Hinblick auf den Vertrauensverlust gegenüber Berichten von Nahtoderfahrungen ist der Schaden freilich größer. Daraus allerdings zu schließen, alle oder die Mehrzahl der Nahtoderfahrungen seien erfunden, kann nur jemand, der möchte, dass dies alles nicht wahr ist, und der noch nie mit jemandem gesprochen hat, der eine Nahtoderfahrung hatte. Van Lommel führt dazu aus:
»In der Vergangenheit unterstellte man Menschen, die eine NTE schilderten, sie würden absichtlich lügen, um sich interessant zu machen oder andere zu beeindrucken. Begegnet man ihnen jedoch persönlich, wird dieses Argument schnell entkräftet. Nicht nur durch bestimmte inhaltliche Aspekte der Erfahrung, die angesprochen werden, sondern vor allem aufgrund der Art und Weise, in der die Betroffenen nach Worten ringen, und der Emotionen, die sie zum Ausdruck bringen. Die Tatsache, dass viele von ihnen aus Angst vor Ablehnung viele Jahre schweigen, um sich schließlich nur zögerlich einigen Freunden gegenüber zu öffnen, spricht ebenfalls gegen eine bewusste Lüge, mit der sie sich nur interessant machen wollen. Es wäre auch nicht einfach, sich eine Geschichte über neu gewonnene Lebenseinstellungen auszudenken und diese im eigenen Handeln umzusetzen.«51
Gerade letzteres scheint mir sehr überzeugend. Wertmaßstäbe und Prioritäten im Handeln ändern sich häufig nach Nahtoderfahrungen, davon wird im vierten Kapitel noch die Rede sein. Wenn wir an unsere Neujahrsvorsätze denken, wissen wir, wie schwer wir uns tun, eingefleischte Verhaltensweisen zu ändern. Wenn nun aber ein Mensch plötzlich neue Lebenseinstellungen gewinnt und auch nach ihnen handelt, spricht das nicht dafür, dass er eine Geschichte erfunden hat, sondern dafür, dass er durch ein Erlebnis, sei dieses nun für andere nachvollziehbar oder nicht, tief berührt wurde.
Beim Aufwachen aus einem Traum realisiert man, dass das, was man eben noch als wirklich erlebte, »nur« ein Traum war. Eine 72-jährige Frau, die mir eine Nahtoderfahrung erzählte, die sie mit etwa 25 Jahren hatte, leitete die Erzählung mit den Worten ein: »Ich weiß selbstverständlich, was ein Traum ist, aber dieses war kein Traum!« Das Erleben einer Nahtoderfahrung unterscheidet sich also wesentlich von dem eines Traums, selbst wenn der Traum sehr klar war und man sich noch Jahre danach an Einzelheiten erinnern kann. Eine Ausnahme bilden höchstens selten vorkommende Offenbarungsträume religiösen Charakters, mit eventuell real erlebten Begegnungen.
Halluzinationen sind typische Krankheitssymptome bei Schizophrenie, kommen aber auch bei anderen Krankheiten wie zum Beispiel Demenz, Delirium oder Epilepsie vor. Es handelt sich um Sinnestäuschungen, das heißt, um Wahrnehmungen, ohne dass ein nachweisbarer (objektiver) Sinnesreiz vorliegt. Das kann heißen, eine Person hört, wie jemand zu ihr spricht, aber Menschen in ihrer unmittelbaren Nähe hören niemanden reden. Dabei handelt es sich um eine akustische Halluzination. Oder jemand sieht eine Person oder ein Tier, kann sogar die Stelle zeigen, wo es sein soll, der andere sieht aber nichts. Dies ist eine optische Halluzination. Das heißt, wir haben es mit rein subjektiven Wahrnehmungen zu tun. Nahtoderfahrungen sind – abgesehen von überprüfbaren Beobachtungen, wie sie gelegentlich vorkommen (s. S. 27 ff) – auch subjektive Wahrnehmungen. Die Unterschiede zu Halluzinationen sind aber nicht zu übersehen: bei diesen vermischt sich subjektive und objektive Realität. So kann ein Patient, der unter Halluzinationen leidet, einem im Sprechzimmer gegenüber sitzen und dies auch wissen. Dennoch ist er überzeugt, von Dämonen umgeben zu sein, und hat entsprechende Angstgefühle. Demgegenüber wird jemand, der vielleicht in einer Nahtoderfahrung Dämonen gesehen hat, es etwa so ausdrücken: »Nachdem ich meinen Körper verlassen hatte, sah ich mich plötzlich von schrecklich aussehenden Wesen umgeben. Wenn ich daran denke, kriege ich jetzt noch Angst, obwohl ich weiß, dass das nur meine Erinnerung ist und mir hier nichts passieren kann.«
Nun könnte man fragen, ob man vielleicht nur zum Zeitpunkt der Nahtoderfahrung einer Halluzination ausgesetzt ist, in dem Sinne, dass einem das eigene Gehirn etwas vorgaukelt, was gar nicht real ist? Das ist zum Beispiel bei einem Delirium der Fall. Ein Delirium kann in verschiedenen Situationen auftreten: etwa beim abrupten Absetzen von Alkohol oder Beruhigungsmitteln, nachdem man während längerer Zeit größere Mengen davon genommen hat. Delirien können aber auch bei einer Medikamentenvergiftung, bei einem Schädel-Hirn-Trauma oder bei hohem Fieber auftreten. Jedoch wird der Betroffene das Erlebte nach Abklingen des Delirs als irreal einstufen, sofern er sich überhaupt daran erinnert. Für die Nahtoderfahrung ist es gerade typisch, dass sie auch im Nachhinein als sehr real empfunden wird, und deshalb oft auch Auswirkungen auf das spätere Leben hat. Außerdem lässt sich bei Halluzinationen eine rege Gehirnaktivität messen, was bei Nahtoderfahrungen meist nicht der Fall ist. Schließlich sind Halluzinationen überwiegend negative, angstmachende Erfahrungen, während bei Nahtoderfahrungen mehrheitlich das Gegenteil der Fall ist.
George Ritchie, der als junger Soldat eine umfassende Nahtoderfahrung machte, wurde später Arzt. Er arbeitete dreizehn Jahre als Hausarzt und bildete sich danach zum Psychiater weiter. Den Bericht über seine Nahtoderfahrung hat er in eine Rahmenerzählung über einen seiner Patienten, er nannte ihn Fred Owen, eingebettet. Dieser Mann hatte eine sehr traumatische Kindheit und erlebte danach einige Enttäuschungen und Brüche. Er lebte deshalb nachvollziehbar im Gefühl, »dass diese Welt und jedermann in ihr sich seit seiner Geburt gegen ihn verschworen hatten« – und war nun plötzlich mit der Diagnose eines metastasierenden Lungenkrebses konfrontiert. Die Ärzte gaben ihm noch vier Monate. Dr. Ritchie stand nun vor der schwierigen Aufgabe, Fred davor zu bewahren, durch diesen »letzten Vertrauensbruch« des Lebens vollends verbittert und innerlich verhärtet in den Tod zu gehen. So erzählte er ihm, der mit Gott und Kirche gar nichts anfangen konnte, seine Geschichte. Nachdem sich sein Zynismus ein wenig gelegt hatte, fragte Fred nach:
»›Wenn Sie so krank waren, wie Sie behaupten, […] woher wollen Sie dann wissen, dass Sie nicht im Delirium waren?‹
›Weil, Fred, weil dies Erlebnis das umfassend wirklichkeitsnächste war, das mir je passiert ist. Von da ab hatte ich ja auch Gelegenheit, Träume und Halluzinationen zu studieren. Ich hatte Patienten mit Halluzinationen. Es gibt hier einfach keine Ähnlichkeit.‹
›Sie meinen, Sie glauben allen Ernstes, es gehe so weiter … wir bleiben wir selbst? Danach, meine ich?‹
›Ich schwöre es bei meinem Leben. Alles, was ich in den vergangenen 30 Jahren getan habe: Arztstudium, Zusatzstudium zum Facharzt für Psychiatrie, all die Stunden ehrenamtlicher Arbeit an jungen Leuten Woche für Woche – all das hat seinen Ursprung in diesem Erlebnis. Ich glaube nicht, dass ein Delirium das gesamte Leben eines Mannes bestimmen könnte.‹
›Das Delirium könnte es nicht‹, stimmte er zu. ›Wenn es aber nur eine momentane Täuschung war? Wenn Sie vielleicht, wissen Sie, nur einfach geistig etwas weggetreten waren?‹
›Sie meinen, wenn ich vielleicht etwas verrückt war?‹ Ich lächelte, und doch war die Frage durchaus berechtigt.«52
Dr. Ritchie begegnete diesem Einwand damit, dass er, um zum Studium der Psychiatrie zugelassen zu werden, jedem der erfahrenen Mitarbeiter des Lehrkörpers vorgestellt wurde und ihre Fragen beantworten musste. Und »›da das...