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Phänomenologien der Identität

Human-, sozial- und kulturwissenschaftliche Analysen

AutorBenjamin Jörissen, Jörg Zirfas
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2008
Seitenanzahl266 Seiten
ISBN9783531906768
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis40,00 EUR
Die Grundidee des Buches besteht darin, strukturelle Dimensionen der Identitätsvorstellungen auf phänomenologische und anthropologische Sachverhalte zu beziehen, d.h. nicht die Frage nach der Identität zu stellen, sondern diejenigen Themenfelder zu rekonstruieren, die als konstitutiv für den Identitätsbegriff betrachtet werden müssen. Identität erscheint in diesem Sinne weniger als ein fest umrissenes Konzept oder Modell, sondern als ein phänomenologisches Prisma, ein problematisierendes Diskursfeld: Denn es sind die Schwierigkeiten des modernen Lebens, die es notwendig erscheinen lassen, auf den Gedanken der Identität zu rekurrieren.

Prof. Dr. Jörg Zirfas ist am Lehrstuhl für Pädagogik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg tätig.
Dr. Benjamin Jörissen arbeitet am Lehrstuhl für Allgemeine Pädagogik der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg.


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Leseprobe
IV. Zugehörigkeiten (S. 123-124)

13 Das Ich als Wir

„Ich, das Wir, und Wir, das Ich ist." Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes Wenn es in jüngster Zeit eine Denkrichtung gab, die den fundamentalen Zusammenhang von Identität und Gemeinschaftlichkeit behauptet hat, so war dies der Kommunitarismus.1 Die Debatte um den Kommunitarismus hat u.a. deutlich gemacht, dass die Frage nach den sozialen und moralischen Motiven und Bindungen, die als hinreichend und notwendig angenommen werden müssen, um die freiheitsverbürgenden, liberalen Institutionen überhaupt am Leben erhalten zu können, nicht letztlich gelöst scheint, motivational betrachtet scheint sicher zu sein, dass die Bürger eines Gemeinwesens die bzw. ihre Institutionen als ein kollektives Gut zu schätzen wissen müssen, so dass sie das Maß einer bloß individuellen Orientierung auf das gemeinsame Gut hin zu einer kollektiven Identität überschreiten können. So lässt sich auf den ersten Blick der Kommunitarismus als Theorie zusammenfassen, die das richtige gemeinschaftliche Leben im falschen gesellschaftlichen wiederentdeckt zu haben glaubt.

Das richtige Leben ist für ihn das Leben in und für die Gemeinschaft, mit einer Vielzahl an gemeinsam geteilten Ge- und Verboten, einem System moralischer Werte und gemeinsamer Lebenserfahrungen. Diese sollen zugleich Grund und Ausdruck von „Herzensgewohnheiten" (Bellah) der einzelnen sein und zum anderen die für die soziale Praxis und die sozialen Probleme notwendigen Handlungsmaximen und Tugenden formulieren, nämlich Gemeinsinn, Solidarität, Mitmenschlichkeit und Verantwortungsbereitschaft, mit einem Wort: Wir-Gefühle, die zu einem unmittelba ren gemeinsamen Denken und Handeln und zu einer tief empfundenen kollektiven Identität führen.2 Aus der Sicht des Kommunitarismus ist das falsche Leben jener moderne Liberalismus, der die Rechte aus der Sicht der Individuen so forciert hat, dass daraus eine Gesellschaft von zynischen Subjekten wurde, die auf der Basis von utilitaristischen Kosten-Nutzen-Analysen permanent Rechte gegenüber der Gesellschaft geltend machen, während sie die sozialen und moralischen Pflichten dem Staat überantworten. Das heißt: Aus der Sicht des Kommunitarismus hat der Liberale vor allem eines: Ich-Gefühle.

Die Folgen dieses Liberalismus beschreibt der Kommunitarismus wie folgt: auf Seiten der Individuen konstatiert er Konsumorientierung, verantwortungslosen Hedonismus, Habgier und pflichtvergessenes Anspruchsdenken, auf Seiten der Gesellschaft Separatismus, Gleichgültigkeit, Kälte und moralischen Pluralismus, kurz, den bellum omnium contra omnes, der wiederum zu exzessiver Gewalt, Beliebigkeit im Umgang mit der Sexualität und zu Unsicherheiten in Fragen der Moral, der Erziehung und des sozialen Miteinander führt. Der Kommunitarismus lässt sich mithin als eine Theorie moderner liberaler Gesellschaften begreifen, die zunächst die isolierten und autonomen Individuen auf die Problematik schwindender politischer, sozialer und moralischer Bindungen aufmerksam macht.

Zum zweiten sollen dann über den Appell an die soziale Verantwortlichkeit der einzelnen und ihre Zivilcourage sowie über die Reorganisation pädagogischer Institutionen die civil virtues rekonstruiert und reetabliert werden, was dann drittens die Bedingung dafür wäre, dass sich die einzelnen wieder mit der Gemeinschaft identifizieren bzw. identifizieren können bzw. sollen (Zirfas 1999). Kurz: Der Kommunitarismus ist in vielen seiner Ansätze eine anamnetische Theorie, die die Einzelnen auf ihre fundamentale Verbindung in diversen Gemeinschaften aufmerksam macht und die Identität dieser Einzelnen nicht anders als genuin kollektiv denken kann. Daher erscheint er gelegentlich als eine strikt rückwartsgewandte, romantische Idealisierung von Gemeinschaft, die mit den zukunftsorientierten, dynamischen Entwürfen moderner Gesellschaften nicht Schritt halten kann und auch nicht will.
Inhaltsverzeichnis
Inhalt5
I. Zur Aktualität und Geschichte eines Phänomens7
1 Die Frage nach der Identität7
2 Ein phänomenologischer Zugang11
3 Das Ich in der Moderne15
4 Identität als kulturhistorisches Phänomen20
II. Bildung, Entwicklung und Sozialisation48
5 Psychosoziale Entwicklungsgeschichten48
6 Mimetische Identität(en)58
7 Pragmatische Identität65
8 Bildung als Rückweg, Fiktion und Entfremdung der Identität73
III. Körper, Geschlecht und Inszenierung84
9 Der Hermaphrodit, der Homosexuelle und der Transsexuelle84
10 Ritual und Performanz: Geständnis und Bekenntnis93
11 Körperidentitätspolitik101
12 Vom Image des ästhetischen Selbst und vom unscheinbaren Ich112
IV. Zugehörigkeiten122
13 Das Ich als Wir122
14 Die Identität des Fremden und die Selbstfremdheit132
15 Das übersetzte Selbst: Hybridität, Transkulturalität und Globalität145
V. Medialitäten und Technologien156
16 Selbstbilder, Fremdbilder und Bildstörungen156
17 Biographische Identität: vom Konsistenzzwang zur narrativen Ästhetik des Selbst165
18 Mediale, simulierte, virtuelle, reale Identität?178
19 Identität im Gehirn191
VI. Grenzgänge203
20 Der Narziss, das menschliche Chamäleon und andere Persönlichkeiten203
21 Von der existentiellen über die ethische zur dekonstruktiven Identität217
22 Negative Identität und Unsagbarkeit231
VII. Identität als Gleichheit, Ähnlichkeitsidentität oder Ähnlichkeit als Identitätsersatz241
VIII. Literaturverzeichnis251

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