Das Ichideal – noch einmal und noch immer
Barbara Stimmel
Die Psychoanalyse ist ein Beruf, der zersplittert ist. Dennoch versuchen die Tochtergesellschaften dieses großen Dachverbandes eine friedfertige Zusammenarbeit, wenigstens oberflächlich. Selbst vor langer Zeit, als jeder ein sogenannter Freudianer war, gab es schon Zerwürfnisse und Rivalitäten, aber Wiedergutmachung war die Regel. Was könnten die Gründe dafür sein?
Es gibt viele Punkte in der Geschichte der Psychoanalyse, wo sich Analytiker mit Analytikern gestritten haben.1 Eine lange, legendäre Episode, die Freud-Klein-Kontroversen, ereignete sich in London in der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts. Dr. Alex Holder wurde an diesem Institut als Analytiker ausgebildet. Diese Arbeit ist eine Huldigung an Alex, der schon früh die Komplexität des Ichideals und die Wichtigkeit von Gruppenbräuchen verstand. Beide erklären das Glück, dass er zum Herausgeber des Newsletters der IPV wurde, ein wichtiges Organ, in dem Psychoanalytiker über und voneinander lernen konnten, uns aber auch einluden, eine offene Meinung zu behalten.
I Massenpsychologie und Ich-Analyse
„Wir ahnen bereits, dass die gegenseitige Bindung der Massenindividuen von der Natur einer solchen Identifizierung durch eine wichtige affektive Gemeinsamkeit ist, und können vermuten, diese Gemeinsamkeit liege in der Art der Bindung an den Führer“ (Freud, 1921c, S. 118).
1921 geschrieben, kann Massenpsychologie und Ich-Analyse vielleicht mögliche Einsichten in diese Zeit der Unruhe und des Konflikts in der Psychoanalyse anbieten. Sie ermöglichen auch, die Arbeit selbst zu überdenken, indem wir die Kontroversen als ein provisorisches klinisches Beispiel betrachten, um ihren Nutzen als Bestätigung des Denkens in Massenpsychologie und Ich-Analyse zu würdigen. Diese „Verdoppelung“ ist eine der Freuden beim Studium von Freuds Texten: wie seine Ideen helfen, die psychische Realität gewisser Aspekte des menschlichen Erlebens zu erklären und, umgekehrt, wie menschliches Erleben Freuds Denken veranschaulicht und verfeinert. Das Ichideal, der Kerngedanke, soll als Verbindung zwischen Text und Leben dienen, die Verbindung, die bindet. Es dient auch als zentrales Element zum Verständnis der Kontroversen, die sich vor langer Zeit in der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft abgespielt haben.
Für Freud war der Grundstein einer Gruppe ihr Führer und seine Rolle im psychischen Leben des Einzelnen innerhalb der Gruppe. Die „Art der Bindung“ ist komplex; sie ist ambivalent, idealisiert und konkurrierend. Die Gruppenmitglieder teilen den Wunsch, der Führer zu sein, vom Führer geliebt zu werden und vom Führer am meisten geliebt zu werden. Auf einer tieferen Ebene existiert der Wunsch, den Führer zu töten, um auf diese Weise die Mutter zu besitzen und den Vater in all seiner Pracht zu ersetzen.
In diesem Rahmen verstehen wir einige Aspekte des Lebens eines Individuums wie auch das Leben der Gruppe. Die Mitglieder einer Gruppe entwickeln Bindungen aneinander, die auf einer Vielzahl gemeinsamer Gefühle gegenüber demselben Objekt basieren. Diese libidinösen Bindungen, die sekundär zu einer gemeinsamen Objektwahl entstehen, vermitteln die Energie, die eine Anzahl von Individuen zu einer Gruppe zusammenschweißt. Sie haben „ein und dasselbe Objekt an die Stelle ihres Ichideals gesetzt und sich infolgedessen in ihrem Ich miteinander identifiziert“ (a. a. O., S. 128). Freud beschreibt hier die Gegenseitigkeit des Ichideals unter den Mitgliedern der Gruppe, die der Grundstein für eine Gruppe ist, und indirekt bezieht es sich auch auf die soziale Welt im psychischen Leben eines Mitglieds. Als „Vorbilder“, „Objekte“ oder als „Helfer“ (a. a. O., S. 73) spielen sie von Beginn unseres bewussten Lebens an eine Rolle und bevölkern unsere Innenwelt. Für Freud war das Ichideal ihre zusammengesetzte Struktur. Dieses gemeinsame Ichideal, die Basis der Gruppen(sozial)psychologie, besteht aus der kollektiven Psychologie von Individuen. Auf diese Weise entwickelt die Gruppe eine ihr eigene Psychologie. Diese Vernetzung zwischen innen und außen, individuell und gesellschaftlich, ist Freuds Fokus in Massenpsychologie und Ich-Analyse.
Freud führte in diesem Werk auch das Konzept der Empathie ein. Er hat es aber nie zu seiner Zufriedenheit weiterentwickeln können. Empathie oder die Fähigkeit, sich bildlich in die Schuhe eines anderen zu versetzen, ist ein Teil des Gerüstes menschlicher Beziehungen. Empathie muss bei Gruppenmitgliedern vorhanden sein, um gemeinsame Wünsche gegenüber dem Führer zu erkennen wie auch fähig zu sein, sich mit ihm zu identifizieren. Die psychische Realität einer Gruppe enthält gemeinsame libidinöse und aggressive Impulse. Kollektiv verleiht die Neutralisierung dieser Triebkräfte den Gruppenmitgliedern eine gegenseitig erhöhte Realitätsprüfung und Verstärkung des Über-Ichs. Dieses strukturelle Teilen ist vielleicht eine andere Weise, über Empathie nachzudenken.
Freud stellt drei Fragen: „Was ist nun eine ‚Masse‘, wodurch erwirbt sie die Fähigkeit, das Seelenleben des Einzelnen so entscheidend zu beeinflussen, und worin besteht die seelische Veränderung, die sie dem Einzelnen aufnötigt?“ (a. a. O., S. 76).
Zu Beginn stellt Freud die Ähnlichkeit vom Gruppendenken mit Träumen und dem affektiven Leben von Kindern fest. Sein impliziter Bezug auf die Regression und Enthemmung bestimmt den Duktus seines eigenen Denkens, das ihn und uns zu einem regredierten Stadium der Zivilisation zurückführen wird. Gleichzeitig beschreibt Freud die Forderung nach Illusionen, die in einer Gruppe vorherrschen. Und es ist die Illusion – von Freud oftmals verhöhnt –, die es dem Individuum gestattet, sich über die Grenzen seiner Existenz empor zu heben. Damit erlangt die Gruppe die Fähigkeit, ein Mitglied zu erhöhen. Es wird sich zeigen, dass das eine wichtige Bedeutung hat, wenn wir uns das Ichideal näher betrachten.
Für jedes Individuum bedeutet ein Anschluss an eine Gruppe eine Vielzahl an motivierenden Faktoren. Individuen sind auf der Suche nach Objekten – die Natur der Objekte, die sie in einer Gruppe finden (narzisstisch oder anderweitig), muss teilweise ein ideales Selbst repräsentieren. Die Frage, weshalb sich ein Individuum einer Gruppe anschließt, bedeutet, dass jede abstrakte theoretische Aussage als Antwort auf den persönlichen Illusionen und der Realitätsprüfung desjenigen beruht, der antwortet. Demzufolge sind sowohl das Ich wie auch das Ichideal bei der Lösung involviert. Zusätzlich zum Verständnis der intellektuellen Arbeit im Schmieden von Theorien können wir dieselbe Idee auf die Theorie selbst anwenden; nämlich auf Freuds Theorie von Gruppen. Realität (Ich) und Phantasie (Ichideal) sind beide für die Bildung einer Gruppe und ihr Überleben notwendig.
Wie es für sämtliche psychoanalytischen Theorien gilt, bedürfen auch die Ideen und Konzepte in Massenpsychologie und Ich-Analyse der klinischen Bestätigung, wenn sie fortdauern sollen. Freud greift zu zwei ausführlichen klinischen Beispielen, nämlich die der Kirche und der Armee, wo Christus und der Oberbefehlshaber in jedem als Ichideal fungieren. Zudem bietet Freud mythisches klinisches Material an, nämlich die Urhorde, mit Elternmord als Kern. In diesem bekannten Freud’schen Kontext ist es das gemeinsame inkorporierte Objekt – der Führer –, der den Klebstoff für die Gruppe vermittelt. Die Urhorde war auch die erste Familie. Ihr erster Führer war der Vater.
Wenn man an die Entwicklungsstoßkraft von Massenpsychologie und Ich-Analyse denkt, ist es aufschlussreich, dass Freud die Urhorde als repräsentative Gruppe benützt, um anhand von ihr eine komplexe Reihe an Ideen über menschliches Sozialverhalten zu entwickeln. Es ist ein häufiger, wenn auch verständlicher Irrtum, zu denken, dass eine solche Gruppe sich nur auf Menschen in einem buchstäblich unzivilisierten Zustand bezieht. Die Urhorde kann auch als Metapher für eine Gruppe gesehen werden, die verbotenen Trieben huldigt. Das erlaubt Freud zu zeigen, wie diese Triebe in akzeptable Formen umgewandelt werden können. Im Kontext der Urhorde zielt das Resultat darauf, die Sicherheit der Gruppe zu erhöhen und innerhalb der Gruppengrenzen die Sicherheit der individuellen Psyche zu garantieren. Langsam, aber gewiss kehren wir also zurück zum Individuum, zur persönlichen Illusion, die das Hauptgewicht trägt, zum Ichideal, das die Gruppe zusammenhält. Das Ichideal spielt in den Antworten zu Freuds drei Fragen jeweils eine Rolle.
II Die Freud-Klein-Kontroversen
„Die Massenpsychologie behandelt also den einzelnen Menschen als Mitglied eines Stammes, eines Volkes, einer Kaste, eines Standes, einer Institution oder als Bestandteil eines Menschenhaufens, der sich zu einer gewissen Zeit für einen bestimmten Zweck zur Masse organisiert“ (a. a. O., S. 74).
Die Freud-Klein-Kontroversen fanden mit großer Vehemenz innerhalb der Britischen Psychoanalytischen Gesellschaft (BPS) zwischen 1941 und 1945 statt. Der logische Ort, das Studium der möglichen Zerstörung der BPS zu beginnen, wäre die Struktur der Gesellschaft. Sie war eingebettet in eine komplexe Serie von Ereignissen, initiiert durch die Präsenz und Macht von Anna Freud und Melanie Klein im selben Institut zur selben Zeit. Worin nun bestand die Wichtigkeit der Gruppe und was hielt sie zusammen?
Die BPS war das erste nicht-kontinentale europäische Institut, das Freuds direkte Imprimatur...