1 Theorie
... oder doch lieber Praxis?
Der Anfang eines wissenschaftlichen Buches stellt für den Autor eine besondere Herausforderung dar. Wo beginnen, wenn man nicht zu viel, aber auch nicht zu wenig voraussetzen will? Es sind zwei ganz unterschiedliche Gefahren, die da lauern. Die eine Gefahr besteht darin, beim Versuch, den Anfang zu finden, immer weiter zurückzugehen, um das Thema wirklich gründlich vorzubereiten. Ludwig Wittgenstein hat dieses Problem einmal so formuliert: »Es ist so schwer, den Anfang zu finden. Oder besser: Es ist schwer, am Anfang anzufangen. Und nicht versuchen, weiter zurückzugehen« (Wittgenstein 1970, S. 123). Die andere Gefahr aber lauert in der ganz entgegengesetzten Richtung, nämlich in der Neigung, möglichst viel von dem schon zu Beginn sagen zu wollen, was erst das Buch im weiteren Verlauf der Lektüre entwickelt. In der Einleitung oder im ersten Kapitel das schon vorwegzunehmen, was erst kommt, hieße jedoch im Extremfall, den Text zu verdoppeln. Das kann niemand wollen. Also was tun? Es bleibt wohl nur, irgendwo in der Alltagssprache mit dem Gedankengang zu beginnen und ihn argumentativ weiterzuentwickeln und dabei die Gefahr in Kauf zu nehmen, dass das dabei in Anspruch genommene Vorverständnis über weite Strecken eine Art »Scheck« ist, der möglicherweise bei manchen Lesern gar nicht gedeckt ist. Das zunächst (etwa im Titel und im Untertitel) nur schlagworthaft in Anspruch genommene Vorverständnis mag noch so vage, ungenau und unklar sein, es erlaubt immerhin, einfach einmal zu beginnen – in der Hoffnung, dass im Verlaufe der Lektüre die Lücken des Verständnisses sich von selbst auffüllen, weil erst der Zusammenhang die Einzelheiten (und die Verbindung der Einzelheiten den Zusammenhang) verständlich machen. Dabei mag zunächst auch ein Argumentieren, das sich assoziativ an einem Gedankengang entlanghangelt (und nicht deduktiv aufgebaut ist) und dabei selbst vor Beispielen und Redundanz (z. B. in Form von Wiederholungen) nicht zurückschreckt, didaktisch hilfreich sein.
Ich will mit dem Üblichen beginnen und versuchen, im Kontrast dazu die eigene Zugangsweise auf das Thema abzugrenzen. Üblich ist es in den theoretischen Büchern der Erziehungswissenschaft, über »Theorien der Erziehungswissenschaft« zu informieren und einen Überblick über die verschiedenen wissenschaftstheoretischen Schulen, die in der Erziehungswissenschaft gebräuchlich sind, zu geben. Dazu gibt es eine Vielzahl von Büchern, in denen immer die gleichen »Schulen« und/oder »Theorien« oder »Ansätze« vorgestellt, interpretiert und kritisiert werden. Ein weiteres Buch wäre hier also absolut unnötig, denn von einem Mangel auf diesem Gebiet kann man sicher nicht sprechen. Alles wäre schon gesagt, wenngleich auch – frei nach Karl Valentin – »noch nicht von jedem«, und das wäre wahrscheinlich auch der einzige Grund, um das, was an anderer Stelle schon mehrfach gesagt wurde, noch einmal zu sagen (bzw. zu schreiben). Es gibt keinen Mangel an einführender Literatur zu den verschiedenen »Theorien« bzw. wissenschaftstheoretischen »Schulen«, die in der Erziehungswissenschaft gängig sind; ganz im Gegenteil, es gibt eher zu viel an solcher Literatur, und genau dies ist das Problem. Alle diese verschiedenen Ansätze unterscheiden sich (sonst würde man nicht von verschiedenen Ansätzen sprechen) und gleichen sich doch bestenfalls darin, dass sie (aus ihrer Sicht) für die Überzeugung stehen, recht zu haben bzw. besser zu sein als die anderen. Aber wer hat nun recht?
Es kann hier also nicht um eine weitere, neue Variation eines alten Themas gehen. Zumindest nicht nur. Eine philosophische Pädagogik, die diese Bezeichnung verdient und die es in diesem Buch zu entfalten gilt, wird stattdessen zunächst jene theoretischen Grundlagen erziehungswissenschaftlicher Kommunikation erörtern und klären müssen, die den verschiedenen Theorien selbst zugrunde liegen, weil natürlich auch sie Teil der erziehungswissenschaftlichen Kommunikation sind. Erst wenn dies geschehen ist, wird man möglicherweise in der Lage sein, auf der Basis des Gemeinsamen die Unterschiede zu erkennen und zu bewerten, aber auch vor dem Hintergrund der heterogenen Vielfalt die gemeinsame Funktion von Theorienpluralität zu entdecken. Ein solches »philosophisches« Vorgehen kann man auch als »theoretisch« bezeichnen, weil damit ein bestimmtes, einflussreich gewordenes Verständnis von Philosophie in Anspruch genommen wird, das den Theoriebegriff in einem ganz bestimmten (noch zu klärenden) Sinne an prominenter Stelle in Anspruch nimmt.
Philosophie
Philosophie in diesem Sinne ist ein Zurückdenken auf die impliziten Voraussetzungen, die man gewöhnlich übersieht, weil man sich einer Sache nicht theoretisch, sondern praktisch nähert. Theoretisch an eine Sache gehen, heißt zunächst einmal, Abstand von ihr zu nehmen, gedanklich auf Distanz zu gehen und damit ein artifizielles Verhältnis zum Erkenntnisgegenstand einzunehmen, das gerade nicht alltäglich ist. Das steht deutlich im Gegensatz zu unserem gewöhnlichen Verständnis eines Begriffs von »Praxis«, der ein enges Verhältnis von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt unterstellt und die Vermittlung als Handeln erfährt (Praxis als das »ändernde Handeln und Erfahren«) und auch den Begriff der poiesis, also des »herstellenden Machens«, umfasst. Theoretisch wird es, wenn man das in unserer lebensweltlichen Praxis aufgehobene Allgemeinverständliche und Selbstverständliche problematisiert und hinter dem Konkret-Erfahrenen das Abstrakt-Allgemeine sucht. Philosophisch wird ein solches kontemplatives Verhältnis eines Denkens, das ein Allgemeines »schaut«, dann, wenn man die Praxis mit einer skeptischen Grundhaltung überschreitet und die theoretisch eingenommene Distanz dazu benützt, um die impliziten Voraussetzungen des Erkennens, des Denkens und Handelns reflexiv zu beobachten, die man gewöhnlich zu übersehen pflegt.
Dieses Philosophieverständnis ist in der Philosophie und in der philosophischen Pädagogik seit der frühen Antike – also etwa seit den Sophisten – bekannt und in der Pädagogik neben den Sokratischen Dialogen vor allem durch das platonische Höhlengleichnis (aus dem 7. Buch der Politeia) auch bildungstheoretisch einflussreich geworden, denn Bildung im Sinne Platons wird hier als eine besondere Form der »Umwendung« beschrieben, die gerade für die theoretische Lebensform charakteristisch ist. Es ist eine Umwendung in der geistigen Aufmerksamkeit: weg vom Offensichtlichen und Selbstverständlichen und hin zu dem dahinter liegenden und begründenden Nichtoffensichtlichen und Nichtselbstverständlichen. Die Pointe dieses Gleichnisses besteht in der paradoxen Erkenntnis, dass gerade das Allgemeinverständliche, das Immer-schon-Bekannte, das am wenigsten Erkannte ist – oder anders gesagt: dass man gerade im immer genaueren Hinsehen die Wirklichkeit verfehlen kann und es eine Erkenntnis gibt, bei der das »Wegsehen förderlicher ist als das Hinsehen« (sinngemäß Blumenberg 1989, S. 172) –, gemeint ist natürlich ein Wegsehen vom praktischen Bezug des alltäglichen Handelns (hier: der pädagogischen Praxis in den diversen pädagogischen Praxisfeldern) und mit »Umwendung« oder »Umkehr« die artifizielle theoretische Schau des implizit Vorausgesetzten, das wir in der Praxis gerade übersehen. Statt »wegsehen« kann man auch »absehen« sagen, wenn man das Charakteristische einer theoretischen Beziehung bezeichnen will: »Im Absehen von dem primär erfahrbaren und vertraut gewordenen Ganzen unserer Welt entwickelte sie sich zu einer Erkenntnis durch isolierende Erforschung beherrschbarer Zusammenhänge« (Gadamer 1987, S. 217)1.
Aber warum dieser Aufwand? Die Antwort muss lauten: Erst durch den gedanklichen Umweg und aus der damit gewonnenen artifiziellen, nichtalltäglichen Distanz zum Gegenstand wird der Vergleichshorizont der Beobachtung so erweitert, dass auch die übersehenen Zusammenhänge, insbesondere jene Voraussetzungen, die Bedingungen seiner Möglichkeit sind, in den Blick kommen können. Unsere sinnliche Wahrnehmung und unsere aktuelle (bewusste) Aufmerksamkeit sind in mehrfacher Weise begrenzt: zunächst durch die angeborenen Grenzen unserer natürlichen Sinne und Anlagen. Man bezeichnet diesen Raum der begrenzten Wahrnehmung, an die der Mensch von Natur aus angepasst ist, auch als »Mesokosmos«, weil er jene mittlere Dimension umfasst, die zwischen Mikro- und Makrokosmos angesiedelt und durch sinnliche Erfahrung unmittelbar zugänglich ist2. Dieser Erfahrungsraum wird zusätzlich begrenzt und geformt durch kulturell und individuell gelernte Relevanzstrukturen. Hier »wohnen« wir gewöhnlich in unseren kulturellen und individuellen Gewohnheiten, die – durch Sozialisations- und Erziehungsprozesse vermittelt – uns Sicherheit verleihen. Theoriearbeit macht diese Beschränkungen wieder sichtbar und damit Unvergleichliches vergleichbar. Auf einmal kommen Zusammenhänge in den Blick, die uns bislang verborgen geblieben sind. Wir können plötzlich Dinge vergleichen, die bislang unvergleichbar schienen – und das ist schließlich das basale Kennzeichen jeder Erkenntnis: Alles Erkennen ist Vergleichen, wusste schon der im 14. Jahrhundert lebende Nikolaus von Kues3, und Niklas Luhmann ergänzte und radikalisiert diese Einsicht über 600 Jahre später mit den Worten: »Absolute Unvergleichbarkeit belegt immer nur einen Mangel an Abstraktionsvermögen ...« (Luhmann 1983, S. 366).
Damit haben wir die charakteristische Eigenschaft der philosophischen Theoriearbeit auf den Punkt gebracht und gleichzeitig ihre Funktion angedeutet. Man kann...