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Der Personzentrierte Ansatz in der Schule
„Zweierlei Aufgaben hat jede Geistigkeit und Kultur:
den Vielen Sicherheit und Antrieb zu geben, sie zu trösten,
ihrem Leben einen Sinn zu unterlegen – und dann die zweite,
geheimnisvollere, nicht minder wichtige Aufgabe:
den Wenigen, den großen Geistern von morgen und übermorgen das Aufwachsen zu ermöglichen, ihren Anfängen Schutz und Pflege zu leihen, ihnen Luft zum Atmen zu geben.“
Hermann Hesse
In der Heil-, Sozial- und Sonderpädagogik haben die Grundlagen von Rogers Ansatz seit Jahrzehnten Einzug gefunden. Doch lässt sich ein Grundsatz, wie z. B. Heilpädagogik ist Individualpädagogik, auch auf den regulären Schulbetrieb übersetzen? Können wir Kinder auch in der Regelschule individuell fördern und ihnen mit personzentrierter Haltung begegnen oder bleibt diese Vorgehensweise nur privilegierten Kindern an Privatschulen vorbehalten?
In Meyers Enzyklopädie wird die Aufgabe der Pädagogik so beschrieben, dass „Erzieher im Idealfall planvoll versuchen, bei dem zu Erziehenden unter Berücksichtigung seiner menschlichen Eigenart ein erwünschtes Verhalten zu bewahren, zu verstärken oder überhaupt erst zu entfalten“. Diese Definition beinhaltet an sich schon personzentrierte Grundannahmen: Erziehung kann nur unter günstigsten Bedingungen (im Idealfall) mehr oder weniger geplant (planvoll) versuchen, ein erwünschtes Verhalten beim zu Erziehenden zu bewahren, zu verstärken und zu entfalten und dies auch nur, wenn dessen individuelle Persönlichkeit (menschliche Eigenart) berücksichtigt wird.
In diesem Kapitel geht es darum, die Grundprinzipien der Beziehungsgestaltung im Personzentrierten Ansatz „Kongruenz, Unbedingte Wertschätzung und Empathisches Verstehen“ mit dem Schwerpunkt „Fördern lernen“ in Verbindung zu bringen und Parallelen aus kommunikationstheoretischen, neurowissenschaftlichen und bindungstheoretischen Erkenntnissen aufzuzeigen.
2.1 Kommunikation und Fördern lernen
Zu Beginn eine kleine Übung: Stellen Sie sich vor, Sie sitzen mit Ihrer Familie oder Freunden zwanglos zusammen und unterhalten sich. Plötzlich sagt eine Person laut und deutlich, aber ohne emotionale Beteiligung in der Stimme: „Hund“. Was passiert?
Person A | verhält sich sofort nervös/ängstlich und schaut besorgt um sich (wurde schon einmal von einem Hund gebissen) |
Person B | kommt in sentimentales Schwärmen über seinen im letzten Jahr verstorbenen Golden Retriever |
Person C | hört das Wort gar nicht, weil sie in Gedanken bereits beim morgigen Ausflug ist |
Person D | ärgert sich, weil sie findet, dass mit diesem unpassenden Einwurf das interessante Gespräch unterbrochen wurde |
Person E | legt sofort aufgeregt los, über verschiedene Hunderassen zu berichten (wünscht sich seit langem einen Hund) |
Person F | erschrickt sofort, weil ihr einfällt, dass sie ihrem zu Hause gelassenen Hund heute noch kein frisches Wasser gegeben hat |
Person G | lenkt sofort auf ein anderes Thema ab, weil sie von den Wünschen der Person E weiß und deren Monologe überdrüssig ist |
Person H | ist überrascht, dass ein Wort so viele unterschiedliche Reaktionen auslösen kann … |
Es wird deutlich, dass mit nur einem Wort innerpersonelle Bewertungs- und Empfindungsprozesse in Gang gesetzt werden, die sich gänzlich dem Einfluss des Gegenübers entziehen, jedoch die gesamte Gesprächssituation sofort verändern.
Für Kommunikationstheoretiker nimmt die Tatsache der unterschiedlichen Aufnahme von Informationen bereits wesentlichen Einfluss auf menschliches Lernen in der Gruppe. Schulz von Thun beschreibt vier Aspekte menschlicher Kommunikation:
Abb. 3: Der „vierohrige Empfänger“ (Schulz v. Thun 2010, S. 45)
Übertragen auf das Unterrichtsgeschehen tritt die Lehrkraft als Sender einer Information (z.B. der Frage: „Wer von euch hat schon Erfahrungen mit Hunden gemacht?“) quasi mit jedem einzelnen Schüler als Empfänger in einen interpersonellen Dialog, z.B.:
Die Lehrkraft wird schon bei einer aus ihrer Sicht objektiv gestellten Frage mit den unterschiedlichsten Reaktionsmöglichkeiten der Kinder ihrer Klasse konfrontiert und zwar ohne dass sie dies beabsichtigt hat. Jedes einzelne Kind teilt ihr verbal oder nonverbal sein „Verständnis“ der Frage mit, wobei immer auch der Beziehungsaspekt angesprochen wird. Die Lehrkraft wird wiederum auf vier verschiedenen Ebenen empfangen und einordnen.
Begegnung und Beziehung zum einzelnen Kind geschehen also auch dann, wenn es vermeintlich um Sachinformationen im Unterricht geht. So betont Watzlawick (1969) in einem seiner Axiome zur Kommunikation: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“ Dieser Tatsache gilt es auch im unterrichtsdidaktischen Vorgehen Beachtung zu schenken, z. B. indem die Lehrkraft zu Beginn einer neuen Thematik mit den Kindern über die Befindlichkeit und den individuellen Wissensstand „kommuniziert“. Mit Ritualen und feststehenden Gesprächsregeln kann sie den Schulalltag strukturieren und dem Kind auf diese Weise Berechenbarkeit, Sicherheit und Transparenz vermitteln, z.B. durch Einführen eines „Erzählsteins“ oder einer „Gesprächsmütze“ (vgl. Bergsson S. 63f.). Jedes Kind wird da abgeholt, wo es kognitiv und emotional zum Thema steht und mögliche Verständigungs- und Verständnisprobleme können im Vorfeld ausgeschlossen werden. Aufmerksamkeit und Konzentration erhöhen sich mit dem Gefühl des Kindes, wahr- und ernst genommen zu werden.
Man kann davon ausgehen, dass bestimmte Kommunikationsregeln das Lernen im Unterricht „befördern“, so dass jedes Kind sich angesprochen fühlt. Diese finden sich auch im Personzentrierten Ansatz als Gesprächsmethoden (siehe Kapitel 3) wieder, z. B.
- Wertfreies Beobachten des Kindes, darüber Rückmeldung geben
- Reflexion eigener Verhaltenserwartungen
- Transparenz des erwünschten Verhaltens
- Nonverbale Botschaften stellen Kontakt zum Kind her (z. B. dem Kind in die Augen schauen, offene Körperhaltung, individuelles Lob aussprechen)
Auch in der Elternberatung werden Methoden der personzentrierten Gesprächsführung immer häufiger angewendet, die der Gesprächspsychotherapie entlehnt sind.
Zusammenfassung
Kommunikationstheoretische Grundlagen bestärken die Annahmen des Personzentrierten Ansatzes, dass der Beziehungsaspekt einen wesentlichen Einfluss auf das Lernen und Verändern einer Person hat. Jede von der Lehrkraft mitgeteilte Sachinformation wird vom Schüler in einer von vier Empfangsweisen wahrgenommen und rückgemeldet: Sachliche Ebene, Beziehungsaspekt, Selbstoffenbarung und Appell. Informationsvermittlung im Unterricht kann dann zu einem lebendigen Vorgang werden, wenn die Trennung von Sach- und Beziehungsebene aufgehoben ist und gemeinsame Kommunikationsregeln Berücksichtigung finden.
Weiterführende Literatur
Satir, V. (2009): Selbstwert und Kommunikation. Stuttgart.
Schulz von Thun, F. (1990): Miteinander reden. Hamburg.
Watzlawick, P. (2011): Menschliche Kommunikation. Bern.
2.2 Gehirnentwicklung und Fördern lernen
Die moderne Hirnforschung konnte in den letzten zwei Jahrzehnten die Verarbeitungs- und Lernprozesse des menschlichen Gehirns sichtbar machen. Zahlreiche neurowissenschaftliche Erkenntnisse bestärken die Theorie Rogers, dass mit der personzentrierten Haltung des Lehrenden die lernende Person optimal gefördert werden kann (Lux 2007).
Neurowissenschaftliche Untersuchungen haben gezeigt, dass das Kind von seiner hirnphysiologischen Ausstattung her offen ist für ganz unterschiedliche Kulturen und Milieus. Ein Überangebot an Kontaktstellen zwischen Nerven- und anderen Zellen erlaubt ein schnelles Erlernen ganz unterschiedlicher Verhaltensweisen, Sprachen, Lebensstile usw.
Im folgenden Kapitel werden einige Grundlagen vorgestellt, die für den schulischen Kontext und das Thema Fördern lernen relevant sind. Es wird aufgezeigt, inwieweit sie für das Lehr- und Lernverständnis von Bedeutung sind und vom Personzentrierten Ansatz aufgegriffen werden.
Unser Gehirn ist nutzungsabhängig oder das „Use it, or lose it“-Prinzip
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