2. Die Philosophie der Freiheit: Johann Gottlieb Fichte
«Was für eine Philosophie man wählt, hängt demnach davon ab, was man für ein Mensch ist: denn ein philosophisches System ist nicht ein toter Hausrat, den man ablegen oder annehmen könnte, wie es uns beliebt, sondern es ist beseelt durch die Seele des Menschen, der es hat.»
J. G. Fichte, Versuch einer neuen Darstellung der Wissenschaftslehre (1797/98)
Das Leben und Wirken von Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), der aus äußerst ärmlichen Verhältnissen in der Oberlausitz stammt, steht ganz im Zeichen der zeitgenössischen politischen Ereignisse, auf die er in philosophischen und populären Vorlesungen und Schriften analytisch und kritisch reagiert – von der Französischen Revolution über das Kaiserreich Napoleons bis zur politisch-militärischen Erhebung gegen dessen Vorherrschaft in Europa. Nachdem seine erste Buchveröffentlichung (Versuch einer Kritik aller Offenbarung, 1792) zunächst für ein Werk Kants gehalten wird, nimmt Fichtes Karriere einen meteorischen Verlauf, in dessen Zenit eine Professur an der Universität Jena (1794–1799) steht und die nach einer öffentlichen Kontroverse über seinen angeblichen Atheismus und dem daraus resultierenden Verlust seines akademischen Amtes ihr frühes Ende findet.
Die nächsten zehn Jahre verbringt Fichte zumeist in Berlin als Privatgelehrter mit regelmäßiger selbstorganisierter Vorlesungstätigkeit, darunter der kritischen Auseinandersetzung mit der geistigen Situation seiner Zeit (Die Grundzüge des gegenwärtigen Zeitalters, 1804/05; Reden an die deutsche Nation, 1807/08). Nach seiner Berufung an die neu gegründete Berliner Universität lehrt Fichte noch einmal für vier Jahre (1810–1814), ohne aber den Einfluss und die Wirksamkeit seiner frühen Lehrtätigkeit wieder zu erreichen. Ein Großteil seines philosophischen Œuvre wird erst posthum bekannt und beachtet. Zu Fichtes Hörern zählen in Jena Hölderlin und Novalis, in Berlin Schopenhauer. Besonders prägend ist sein Werk für die Frühromantiker um Friedrich Schlegel.
Schon früh ersetzt Fichte bei der Darstellung seines Denkens in Wort und Schrift den traditionellen Terminus «Philosophie», wörtlich «Weisheitsliebe», durch den Ausdruck «Wissenschaftslehre». Damit ist zum einen der in der Nachfolge Kants erhobene Anspruch auf die Philosophie als eine Wissenschaft wiedergegeben, zum anderen aber auch die Bescheidung der Philosophie auf die Vermittlung von Wissen unter Ausschluss von Weisheit, die nicht eigentlich vermittelt werden kann, sondern die die einzelne Person auf der Grundlage des philosophischen Wissens je für sich erstreben und erlangen soll. Für Fichtes Philosophieren ist durchweg charakteristisch, dass es rigoroses Argumentieren, das im eigenständigen Denken nachvollzogen werden soll, mit dem emphatischen Appell zur Umsetzung der vermittelten Einsichten im eigenen persönlichen Leben verbindet.
Im Zentrum von Fichtes Philosophieren steht, wie schon bei Kant, als dessen authentischen Nachfolger, Fortsetzer und Vervollständiger Fichte sich versteht, die Freiheit. Fichte teilt auch Kants Strategie, der Freiheit samt ihrer Gesetzessphäre – der Sittenwelt, einschließlich der Gebiete von Recht und Ethik, aber auch von Politik und Geschichte – dadurch Raum zu verschaffen, dass der Geltungsbereich der Natur und ihrer Gesetze als prinzipiell eingeschränkt nachgewiesen wird. Doch anders als Kant, bei dem die Gesetzesordnungen von Natur und Freiheit strikt voneinander getrennt sind und nebeneinander zu stehen kommen («System der Natur», «System der Freiheit»), sucht Fichte von Anfang an die Integration der beiden bei Kant noch separaten Systeme in ein einziges System von Natur wie Freiheit, das seinerseits ganz im Zeichen der Freiheit steht. Aus Fichtes Sicht ist die Natur, ungeachtet ihrer scheinbaren Selbständigkeit und anscheinenden Eigengesetzlichkeit, letztlich nichts als die Sphäre für die weltliche Verwirklichung freien Wollens und Handelns nach dessen eigenen Vorschriften und Gesetzen («das Materiale unserer Pflicht»). Im Hinblick auf diese Innovation kennzeichnet Fichte die Wissenschaftslehre denn auch als «das erste System der Freiheit» überhaupt.
Die Freiheit, die bei Fichte zugleich als erste Grundlage, als Hauptgegenstand und als letzter Zweck der wissenschaftlich ambitionierten Philosophie («Wissenschaftslehre») fungiert, fällt im Vergleich zu Kant noch formaler und unbestimmter aus. Für Fichte ist Freiheit, jenseits ihrer negativen Bedeutung als Freiheit von Fremdbestimmung aller Art, Selbsttätigkeit («Spontaneität») und Selbständigkeit («Unabhängigkeit»), die als solche und um ihrer selbst willen angestrebt werden sollen. An die Stelle des von der praktischen Vernunft selbst gegebenen Gesetzes («Autonomie») bei Kant tritt bei Fichte das formale Gebot, Freiheit um der Freiheit willen und ganz generell zu wollen und dann auch gezielt zu erhandeln. Wirklich frei ist, Fichte zufolge, wer von nichts und niemand anderem abhängt und voll und ganz aus sich selbst heraus und damit in ungetrübter, reiner Identität mit sich existiert.
Doch konzediert Fichte sogleich den bloß idealen Charakter solcher absoluten Freiheit, die, statt einen je erreichbaren Zielzustand vorzustellen, die unendlich fortschreitende Annäherung an ihn orientieren und motivieren soll. Dementsprechend steht im Zentrum von Fichtes Philosophie das In-, Mit- und Gegeneinander von immer angestrebter, unendlicher und je erreichter, endlicher Existenz des Freiheitswesens Mensch. Im Kern besteht das durch Freiheit geprägte Wesen des Menschen für Fichte im Wollen und Handeln. Doch soll die Tätigkeit nicht blind und willkürlich erfolgen, sondern nach Maßgabe der Vernunft und aufgrund von vernünftigem Wissen, das insofern praktisches Wissen ist.
Die praktische Ausrichtung des Wissens radikalisiert Fichte noch zum Primat des Praktischen gegenüber dem Theoretischen. Alles Wissen, auch das scheinbar bloß theoretische Wissen um die Beschaffenheit der Dinge, dient, so Fichte, letztlich der Begründung und Bereicherung von Wollen und Handeln. Umgekehrt beinhaltet der Primat des Praktischen bei Fichte aber auch die Einführung spezifisch praktischer Momente («Trieb», «Streben», «Sehnen») in die Konstitution des Wissens als solchem, unter Einschluss des theoretischen Erkennens. Für Fichte ist schon das Wissen und nicht erst das Wollen Tätigkeit, und zwar prinzipiell freie Tätigkeit, die von innen, spontan initiiert wird, auch wo sie scheinbar von außen beeinflusst oder gar bewirkt wird.
Veranlasst durch äußere Umstände und bedingt durch seine Überzeugung vom lebendig-tätigen Grundcharakter des Wissens einschließlich des philosophischen Wissens, stellt Fichte seine Philosophie immer wieder neu und jedes Mal anders dar. Von der zwanzigjährigen Arbeit an der Wissenschaftslehre (1794–1814) sind nicht weniger als sechzehn umfangreiche Darstellungen der Wissenschaftslehre erhalten. Fichte selbst hat davon nur die allererste Version und eine späte Zusammenfassung in Buchform publiziert (1794/95, 1810). Die übrigen Darstellungen, die allesamt auf Vorlesungszyklen zurückgehen, sind als originale Vortragsmanuskripte oder Vorlesungsnachschriften von fremder Hand erhalten und inzwischen komplett publiziert. Die Wissenschaftslehre im engeren Sinn ergänzt sowohl der frühe wie der späte Fichte um deren Anwendung auf die Gebiete von Recht («Rechtslehre») und Moral («Sittenlehre»). Dazu kommen populäre Präsentationen der Wissenschaftslehre selbst sowie von deren Anwendung auf die Gebiete von Religion, Geschichte und Politik.
Im Hinblick auf die vielen Veränderungen in der äußerlichen Darstellung seiner Philosophie betont Fichte selbst den durchweg unveränderten Grundcharakter der Wissenschaftslehre als philosophischer Theorie vom Wesen des Wissens und dem auf ihm zu gründenden Wollen und Handeln. Musikalisch gesprochen, handelt es sich um eine monumentale Serie von charakteristischen Variationen über ein gleichbleibendes Thema. Dabei lässt sich beobachten, dass Fichte im Verlauf zweier Jahrzehnte die Präsentation der Wissenschaftslehre jeweils klug und geschickt den sich wandelnden Diskurslagen der zeitgenössischen Philosophie anpasst. Sein strategisches Ziel ist es dabei, die Aktualität der Wissenschaftslehre im Angesicht der fortschreitenden philosophischen Entwicklungen, die insbesondere von Schelling und dann auch von Hegel ausgehen, zu gewährleisten.
In der ersten Phase seiner Arbeit an der Wissenschaftslehre (1794–1799), die mit der Zeit seiner Jenaer Professur zusammenfällt und noch im unmittelbaren Umfeld der zeitgenössischen ...