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Philosophie des 20. Jahrhunderts

Von Husserl bis Derrida

AutorThomas Rentsch
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2014
ReiheBeck'sche Reihe 2824
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783406661433
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die Philosophie des 20.Jahrhunderts ist ohne die umwälzenden historischen Ereignisse und naturwissenschaftlichen Entdeckungen nicht zu verstehen. Vor diesem Hintergrund erklärt Thomas Rentsch die Höhepunkte der modernen und gegenwärtigen Philosophie - von Ludwig Wittgensteins Sprachkritik, Heideggers Ontologiekritik und Adornos Verdinglichungskritik bis zur französisch geprägten Postmoderne. Diese Einführung zeigt, dass sich die auf den ersten Blick gegensätzlichen Schulrichtungen immer wieder ergänzen und so produktiv fortwirken.

Thomas Rentsch ist Professor für Philosophie an der TU Dresden. Er arbeitet vor allem zur Hermeneutik, Sprachphilosophie und praktischen Philosophie.

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Leseprobe

1. Die Jahrhundertwende: Die großen Vorläufer – Anschlüsse, Übergänge, Neuanfänge


Um die Entstehung und Entwicklung der Philosophie des 20. Jahrhunderts zu begreifen, ist es ganz wichtig, zunächst zu sehen, welche zentralen außerakademischen und nicht-philosophischen Ansätze und Leistungen des 19. und 20. Jahrhunderts prägend auf diese Philosophie einwirkten. Tiefgreifende Umbrüche und Radikalisierungen sind charakteristisch für das Denken in dieser Epoche, weil ja auch Gesellschaft, Kultur, Technik, Wissenschaft und individuelle Selbstverständnisse sich, oft extrem, veränderten. Zu den einflussreichsten Denkern gehören daher Kierkegaard, Marx, Peirce, Nietzsche, Frege, Freud und Einstein, die im Umbruch vom 19. zum 20. Jahrhundert außergewöhnliche Paradigmenwechsel begründeten und für Revolutionen der Reflexion stehen. Ohne Existenzphilosophie, Marxismus, pragmatische Sprach- und logische Begriffsanalyse, ohne Zivilisations- und Moralkritik, Psychoanalyse und Relativitätstheorie lässt sich die Philosophie des 20. Jahrhunderts nicht verstehen. Und diese Ansätze gründen eben oft noch tief im 19. Jahrhundert und wurden bezeichnenderweise oft von Außenseitern entwickelt. Für sie war zunächst kein Platz in der «normalen Wissenschaft» und Philosophie.

Sören Kierkegaard (1813–1855) hatte zwar auch Philosophie studiert, verfasste seine literarisch-philosophischen Hauptwerke, so Entweder – Oder (1843), Furcht und Zittern (1843), Der Begriff Angst (1844) und Die Krankheit zum Tode (1849) aber außerhalb universitärer Kontexte. Mit seinen radikalen Analysen der menschlichen Existenz und ihrer Endlichkeit in augenblicklichen Entscheidungssituationen (Der Augenblick, 1855), in Furcht und Angst, und vor den ästhetischen, ethischen und religiösen Lebensmöglichkeiten begründete er die das 20. Jahrhundert mit prägende Existenzphilosophie (Jaspers), die Existenzialontologie (Heidegger) und den Existentialismus (Sartre, Camus).

Auch Karl Marx (1818–1883), akademisch ausgebildet, erarbeitete sein epochales Werk Das Kapital (1. Band 1867) und seine Schriften Zur Kritik der politischen Ökonomie (1857–59) außerhalb der Universität und hatte mit seinem Hegels Denken radikalisiert weiterführenden Ansatz des historischen und dialektischen Materialismus weltweite Wirkung auf die Entwicklung des Sozialismus und des Kommunismus. Der an ihn anschließende theoretische Marxismus nahm im 20. Jahrhundert auf komplexe Weise auch akademische Gestalt an.

Für die Entwicklung der Philosophie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist die Rezeption des amerikanischen Pragmatismus von großer Bedeutung. Charles Sanders Peirce (1839–1914), William James (1842–1910) und John Dewey (1859–1952) entwerfen in den USA eine Erkenntnistheorie und Wissenschaftslehre auf handlungstheoretischer Grundlage, die bei empirischen Alltagsphänomenen ansetzt, langfristige Entwicklungsprozesse stark in die Reflexion von Geltungsfragen einbezieht und von Beginn an demokratische Ideale als sinnkonstitutives Fundament von Wahrheitsansprüchen betrachtet. Auf diese Weise werden die normativen, praktischen Implikationen auch und gerade deskriptiver, theoretischer, wissenschaftlicher Entwürfe ebenso deutlich wie die deskriptiven theoretischen Voraussetzungen praktischer Disziplinen wie der Pädagogik und Soziologie. Charles S. Peirce studierte zwar Philosophie, wurde aber Vermessungsingenieur. Auch die internationale Wirkung seiner zeichentheoretischen, semiotischen Transformation der Erkenntniskritik (v.a. Kants) beginnt erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Indem Peirce den gemeinsamen menschlichen Gebrauch von Zeichen zur Verständigung ins Zentrum seiner Analyse rückt, verbindet er Sprachphilosophie mit Pragmatik und Sozialphilosophie – wegweisend für systematische Ansätze des 20. Jahrhunderts wie die der Transzendental- und der Universalpragmatik von Apel und Habermas. Durch George Herbert Mead und Willard Van Orman Quine wird auch die Analytische Philosophie vom Pragmatismus beeinflusst (s.u.).

Friedrich Nietzsche (1844–1900) war Altphilologe, verließ aber die Universität, um sich ganz seinen Schriften zu widmen, in denen er eine fundamentale Kritik der gesamten europäischen Kultur und Zivilisation unter Einschluss sowohl der Philosophie seit der Antike als auch des Christentums ausarbeitet. Das Meiste dessen, was die Menschen bisher als sinnstiftend und als tragfähige Basis für Werte erachteten, versucht Nietzsche als Ideologie zu entlarven, er proklamiert die «Umwertung aller Werte» und den «Tod Gottes». Nach seinem Tod übt sein Werk intensiven Einfluss auf die nachfolgende Theoriebildung aus, so auf Heidegger und die französische Dekonstruktion (s.u.).

Gottlob Frege (1848–1925) war Logiker und Mathematiker an der Universität Jena, philosophisch Kantianer. Er entwickelte bahnbrechende Analysen zur Sprache, zu Begriffen, Urteilen und zur logischen Struktur von Sätzen, die in Aufsätzen zur Bedeutungstheorie und in seiner Begriffsschrift (1879) gipfelten. Vermittelt durch die Philosophen Russell, Wittgenstein und Carnap, mit denen er in persönlichem Kontakt stand, erlangten diese Analysen nach seinem Tod weltweiten Einfluss auf die moderne Sprachphilosophie und die Analytische Philosophie. Er bereitete so, zunächst kaum bemerkt, eine der wichtigsten Entwicklungen der Philosophie des 20. Jahrhunderts vor – die sprachkritische Wende, den linguistic turn.

Der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud (1856–1939) wurde in seiner therapeutischen Praxis mit psychischen Störungen und Krankheiten konfrontiert, die ihn zur Ausarbeitung einer revolutionären Theorie der menschlichen Seele unter Einfluss der Leiblichkeit und Sinnlichkeit, insbesondere der Sexualität veranlassten. Sie lehrt den Aufbau des menschlichen Bewusstseins mit den drei Gebieten Ich, Es und Über-Ich. Diese Theorie, die Psychoanalyse, thematisierte Bereiche der menschlichen Erfahrung und Existenz, die bislang verdrängt, tabuisiert oder auf andere Weise ideologisiert worden waren, so die frühkindliche Erfahrung der eigenen Geschlechtlichkeit, Angst, Traum und Wahnsinn. Insbesondere Freuds Konzeption des Unbewussten und seine vorbildlos eingehenden Analysen zur körperlichen Liebe und zu den Traumereignissen des täglichen Schlafs (Die Traumdeutung, 1900) führten zu einer auch breitenwirksam einflussreichen neuen Denkweise der klassischen Moderne. Sie besagt: Dem Unbewussten kommt in der alltäglichen menschlichen Praxis eine viel bedeutendere Rolle zu als bisher angenommen.

Albert Einstein (1879–1955) entwirft als noch unbekannter Physiker – er arbeitete im Patentamt in Bern – um die Jahrhundertwende eine zunächst in Fachkreisen nicht ernstgenommene Theorie über das Verhältnis von Raum und Zeit, Licht und Gewicht – die Relativitätstheorie. Sie führt einerseits zu einer völlig neuen Sicht des engen Wirkungszusammenhangs dieser Größen, andererseits zu einer methodologisch wesentlich neuen Bewertung der Abhängigkeit physikalischer Theorien von der Praxis der durchgeführten Messungen. Als sich seine zunächst als abwegig eingestuften Thesen in der Forschung bestätigen, meldet die Presse in Schlagzeilen: «Licht hat Gewicht, Raum ist gekrümmt!» Bis ins allgemeine Bewusstsein dringt die Kunde von einem außerordentlichen Wandel der physikalischen Weltsicht.

Mit diesen sieben herausragenden Theoretikern sind wesentliche Schwerpunkte der Entwicklung der Philosophie im 20. Jahrhundert verbunden. Die Weichen sind gestellt für die Existenzphilosophie, den Marxismus, den Pragmatismus, die radikale Kulturkritik, die logische Sprachanalyse, die Psychoanalyse und eine intensive Auseinandersetzung mit den neuen Paradigmen der Physik und anderer Naturwissenschaften.

Demgegenüber bewegt sich die etablierte akademische Philosophie auf den ersten Blick zunächst in den gewohnten, vorgezeichneten Bahnen. Hier ist insbesondere der sich breit entfaltende Neukantianismus der Marburger und der Südwestdeutschen Schule als eine der wichtigsten Strömungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu nennen. Sein an Kant anknüpfendes Denken lässt sich mit folgenden Grundsätzen charakterisieren: der Erkenntnistheorie (und mithin der Erkenntniskritik) kommt in der Philosophie die zentrale Bedeutung zu; die Aufgabe der Philosophie besteht in der Untersuchung der Geltungsbedingungen (Kant: Bedingungen der Möglichkeit) aller wissenschaftlichen Erkenntnisse sowie auch aller kulturellen (rechtlichen, sozialen, ästhetischen, religiösen) Geltungsansprüche, die in Institutionen objektiviert sind; es geht um eine Kritik bloß empirischer (psychologischer, faktisch-deskriptiver) Verständnisse der menschlichen Erkenntnis; ferner geht es darum, die Geltungs- und Prinzipienfragen für alle Bereiche der Wissenschaft und Kultur methodologisch selbst explizit zu reflektieren. Den Marburger Neukantianismus prägen vor allem Cohen, Natorp und Cassirer. Nach Hermann Cohen (1842–1918) hat die Philosophie im Ausgang vom Faktum der Wissenschaften die apriorischen Voraussetzungen der Erfahrung und des Handelns zu klären. Diese...

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