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Philosophie einer humanen Bildung

AutorJulian Nida-Rümelin
Verlagedition Körber-Stiftung
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl248 Seiten
ISBN9783896844439
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Die deutsche Bildungskrise ist nicht nur eine der Institutionen, sie ist primär eine der Ideen. Überall herrscht Überforderung und Unzufriedenheit: bei den Lehrern, den Eltern, den Kindern sowieso, auch bei den Politikern. Unseren Bildungsreformen, so Julian Nida-Rümelin, fehlt die kulturelle Leitidee. 'Employability' heißt stattdessen die Losung. Aber eine Bildung, die den Menschen nur 'fit für' etwas machen will, die nicht nach seinen Interessen und Talenten fragt, wird nicht einmal den gewünschten Markterfolg bringen. Nida-Rümelins 'Philosophie einer humanen Bildung' gibt den Anstoß zu einer neuen gesellschaftlichen Verständigung darüber, was Bildung bedeutet: für uns, für unsere Zukunft, unser Bild vom Menschen. Wenn wir den Mut zu einer konsequent humanen Bildungspraxis fänden, den Mut, uns vom Gedanken der unmittelbaren Verwertbarkeit zu trennen, wäre die Basis für gelingendes Leben gelegt - und damit auch für eine fundamentale Form von Erfolg: Lebensglück.

Julian Nida-Rümelin entstammt einer Münchner Künstlerfamilie. Er studierte Physik, Mathematik, Philosophie und Politikwissenschaften. Nach seiner Habilitation und einer Gastprofessur in den USA folgte die Berufung auf einen Lehrstuhl für Ethik in den Wissenschaften an der Universität Tübingen, von 1993 bis 2003 hatte er einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Göttingen inne. Für fünf Jahre (1998-2002) wechselte er in die Kulturpolitik, zunächst als Kulturreferent in München, dann als Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder. 2004 folgte er einem Ruf an das Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft in München, dessen Direktor er von 2004 bis 2007 war. 2009 kehrte er wieder ganz in die Philosophie zurück. Nida-Rümelin war Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie, ist Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste und war bis 2012 Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Studienpreises. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Publikationen zur Philosophie, Ökonomie und Kunst.

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Leseprobe

Kapitel I:
Anthropologie


»Um zugleich den Menschen mit Genauigkeit zu kennen, wie er ist, und mit Freiheit zu beurtheilen, wozu er sich entwickeln kann, müssen der praktische Beobachtungssinn und der philosophirende Geist gemeinschaftlich thätig sein.«4

Jede Bildungsanstrengung offenbart ein Menschenbild, unabhängig davon, ob dies den Akteuren bewusst ist. Die individuelle Bildungsanstrengung offenbart eine Vorstellung dessen, wer diese Person sein will. Die politische Bildungsanstrengung offenbart eine Vorstellung dessen, was die politische Gemeinschaft für wünschenswert erachtet, welche Persönlichkeitsmerkmale sie bevorzugt, welche Fähigkeiten sie entwickeln möchte und welche Fertigkeiten sie für unverzichtbar hält. Bildung hat eine anthropologische Dimension. Mit dieser wollen wir uns in diesem ersten Kapitel auseinandersetzen.

1. Kritik der Anthropologie


Als philosophische Disziplin scheint die Anthropologie heute kaum noch eine Rolle zu spielen. Die Ursachen für diesen Niedergang der philosophischen Anthropologie liegen in bestimmten Fehlentwicklungen begründet, auf die ich hier nicht eingehen möchte, weil es uns zu weit in die Philosophiegeschichte führen würde. Dennoch sind zwei Aspekte dieses Niedergangs für unsere Argumentation relevant.

Das ist zum einen die begründende, fundamentale Rolle, die der Anthropologie in der philosophischen Tradition zugedacht wurde. Jede Ethik, jede politische Philosophie und jede Rechts- und Sozialphilosophie bedarf eines anthropologischen Fundaments, von dem ausgehend die Kriterien richtigen Handelns, angemessener sozialer Praxis, des Rechts und der politischen Ordnung zu bestimmen sind. Die Anthropologie trägt nach diesem Verständnis die ganze Begründungslast. Aus anthropologischen Postulaten folgen ethische, rechtliche und politische. Dieses Theorieverständnis kann man als im Wortsinne »fundamentalistisch« bezeichnen: Es wird ein (anthropologisches) Fundament gelegt, auf dem dann der Rest der Theorie errichtet wird. Ja, mehr noch: Mit der Wahl des Fundaments wird der Inhalt der Theorie bestimmt. Alles hängt an diesen anthropologischen Vorannahmen.

Die Problematik dieses anthropologischen Fundamentalismus liegt darin, dass keineswegs klar ist, in welcher Weise über die Richtigkeit oder die Falschheit eines Menschenbildes rational diskutiert werden kann. Die gesamte Tradition des Naturrechts, des von Natur Rechten, die bis heute z.B. eine wichtige Rolle für die katholische Sexualmoral spielt, krankt an diesem ungeklärten Fundament. Wenn die lebenslange Verbindung von Frau und Mann zur Natur des Menschen gehört, dann ist alles andere, Partnerwechsel, Polygamie, Homosexualität widernatürlich, ja möglicherweise sogar sündhaft. Faktisch ist ein Teil der Menschen homosexuell, vermutlich war das zu allen Zeiten und in allen Kulturen so. Faktisch lebt ein Teil der Menschheit in polygamen Verhältnissen. Was rechtfertigt das Urteil, dies sei unnatürlich? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, besteht darin, auf die Biologie und ihre Gesetze zu verweisen. Arten können sich nur erhalten, wenn sie sich fortpflanzen. Die Darwin’sche Formel survival of the fittest ist genau besehen nichts anderes als die Feststellung, dass sich diejenigen genetischen Merkmale im Laufe der Zeit durchsetzen bzw. zu Lasten anderer ausbreiten, deren Träger mehr Nachkommen hervorbringen als die Träger anderer genetischer Merkmale. Man könnte daraus folgern, dass es zur Menschennatur als einer biologischen Spezies gehört, so viele Kinder wie möglich in die Welt zu setzen und dafür zu sorgen, dass diese bis ins fortpflanzungsfähige Alter kommen. Verhütung ist demnach unnatürlich, weil wider die biologische Menschennatur. Das Unbehagen, welches die meisten bei dieser Art von Argumentation verspüren, ist nicht nur inhaltlichen Ergebnissen geschuldet. Es ist vielmehr auch die Form der Argumentation, die irritiert. Es scheint, dass sich der Inhalt der Theorie, nämlich das Plädoyer für Monogamie oder die Ermahnung, keine Verhütungsmittel zu gebrauchen, nicht als besondere Form der Sexualmoral präsentiert, sondern als rationale Konsequenz einer natürlichen Tatsache. Dieses Unbehagen ist gewissermaßen ein methodisches: So kann man eine Norm der Sexualmoral nicht rechtfertigen. Was immer man als moralisches Postulat gewinnen möchte, eine dazu passende anthropologische These lässt sich schon finden. Die ethische (oder allgemeiner: normative) Begründung wird überflüssig, weil sich das jeweilige Postulat aus bestimmten anthropologischen Fakten herleiten lässt.

Der zweite Aspekt des Niedergangs der philosophischen Anthropologie, der für unsere Argumentation relevant ist, betrifft die Willkürlichkeit anthropologischer Annahmen. Der Mensch ist als einzige Spezies in der Lage, eine komplexe Sprache zu sprechen. Also sollte er diese Fähigkeit in besonderer Weise entwickeln. Der Mensch ist als eine der wenigen Spezies in der Lage, Artgenossen zu töten. Sollte er diese Fähigkeit also zur vollen Entfaltung bringen? Der Mensch ist in der Lage, im Gegensatz zu fast allen anderen höheren Säugetieren, Mitleid zu empfinden. Daher sollte dies die Basis einer angemessenen menschlichen Moral sein? Viele Tiere, besonders Raubtiere, fügen anderen Tieren große Schmerzen zu. Aber sadistische Gefühle, das gezielte Quälen anderer Individuen zur eigenen Befriedigung, scheinen eine Besonderheit der menschlichen Spezies zu sein. Kann man daraus ableiten, dass diese besondere Fähigkeit förderungswürdig ist? Dass es widernatürlich wäre, in der Erziehung darauf zu achten, dass sadistische Gefühle unterdrückt werden?

Es ist aber nicht nur die Willkürlichkeit der Auswahl anthropologischer Merkmale des Menschen, sondern auch die Unterbestimmtheit der menschlichen Natur, die unser Unbehagen ausmacht. Der Mensch erscheint als das von Natur am wenigsten determinierte Lebewesen. Seine Lebensform variiert stärker als die anderer biologischer Spezies. Was ist von Natur und was ist vom Menschen selbst bestimmt, sei es individuell oder kollektiv, durch Entscheidungen oder durch kulturelle Prozesse? In der griechischen Klassik wurde dies unter der Entgegensetzung von physei (von Natur) und nomo (durch [menschliche] Setzung) diskutiert. Diese Auseinandersetzung betraf die gerechte Ordnung der Polis, des Stadtstaates. Aristoteles hatte in einer Untersuchung unterschiedlicher Verfassungen von Stadtstaaten viel Material zusammengetragen, das die Variabilität politischen Zusammenlebens illustrierte. Er war der Auffassung, dass das Leben in der Stadt von Natur sei, ebenso wie die Ordnung des Haushalts, des oikos (gr.: ?????), die auf Herrschaftsformen von Natur, die des Mannes über die Frau, die der Freien über die Sklaven und die der Eltern über die Kinder, beruhe.5 Zwei dieser drei vermeintlichen Herrschaftsformen von Natur, die Aristoteles postulierte, erscheinen uns heute als eine willkürliche kulturelle und normative Setzung. Die Unterordnung der Frau ist keineswegs naturgegeben, sondern ein Spezifikum vieler historischer Kulturen. Diese antike Auseinandersetzung war auch darauf gerichtet zu prüfen, was überhaupt ein möglicher Gegenstand der Kritik sein könnte. Was von Natur ist, ist vorgegeben. Und es wäre irrational, dieses zu kritisieren. Was menschliche Setzung ist, bedarf dagegen der Rechtfertigung, ist dem Gegenargument ausgesetzt und ist eben ein möglicher Gegenstand der Kritik. Die Tatsache, dass Frauen in den griechischen Stadtstaaten der Klassik nicht gleichberechtigt waren, galt als jeder Kritik entzogen, da vermeintlich von Natur. Dieses Beispiel lehrt unsere Skepsis gegenüber jeder Form der anthropologischen Begründung, sei es der individuellen Moral oder der politischen Ordnung. Es gibt Gesellschaften, in denen die Gleichberechtigung von Mann und Frau weitgehend realisiert ist. Diese sind offenkundig nicht unvereinbar mit der menschlichen Natur. Die Unterordnung der Frauen ist keine anthropologische Konstante. Sie ist nicht von Natur.

Generell galt die Idee gleicher menschlicher Rechte, die machtvolle liberale Menschenrechtstradition, bei konservativen Denkern von jeher als widernatürlich. Gleiche menschliche Rechte widersprächen der Natur des Menschen. Von daher sei auch die Demokratie eine widernatürliche Ordnung, da sie auf gleichen Rechten, auf Menschenrechten beruhe. Lange Zeit haben sich die Kirchen, zumal die katholische, schwergetan, die Demokratie als legitime Staatsform zu akzeptieren, und das zentrale Gegenargument war gerade dies: die Widernatürlichkeit gleicher individueller Rechte. Von Natur gäbe es ein Oben und Unten, von Natur gäbe es Unterschiede zwischen den Menschen, die ihre Gleichberechtigung widernatürlich erscheinen lassen. Von Natur gäbe es keine Gleichberechtigung von Mann und Frau, dies widerspräche zudem dem christlichen Menschenbild. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird die Demokratie als legitime Staatsform von der katholischen Kirche offiziell akzeptiert.6 Die Bezugnahme auf die menschliche Natur diente in der Geschichte des menschlichen Denkens häufig dazu, die eigenen (normativen) Überzeugungen der Kritik zu entziehen. Meist, aber nicht immer, hat das anthropologische Argument zudem eine konservative Tendenz. Schließlich gilt es, das immer Gleiche, das allen kulturellen und historischen Veränderungen Entzogene zu betonen und damit eine statische Moral oder politische Theorie zu begründen. Die Bezugnahme auf die menschliche Natur scheint es unnötig zu machen, sich auf die jeweilige kulturelle Situation einzulassen, die aktuellen Überzeugungen, Einstellungen und Empfindungen ernst zu nehmen und Veränderungen zu akzeptieren.

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