Philosophie der Antike
1. Der Aufbruch des Denkens: Die Philosophen vor Sokrates
Als Vorsokratiker gelten seit dem späten 19. Jahrhundert die Denker, die entweder vor Sokrates lebten oder von dessen Philosophie noch nicht beeinflusst waren. Von den Werken dieser Pioniere des Geistes sind leider nur Bruchstücke in späteren Zeugnissen überliefert. Trotzdem verdanken wir gerade diesen Männern den Aufbruch zu einem neuen Denken. Faszinierend ist ein Blick auf die Geburtsstunde der abendländischen Philosophie.
Ab der Mitte des 6. Jahrhunderts v. Chr. macht aus bislang unerklärlichen Gründen das Denken des Menschen an verschiedenen Punkten der Erde, die in keinerlei Verbindung miteinander standen, einen unerwarteten Sprung: in Indien mit Buddha, in China mit Lao-tse und Konfuzius, in Persien mit Zarathustra und unter den Griechen mit den Vorsokratikern. Karl Jaspers nennt dies die »Achsenzeit der Weltgeschichte«.
Neues Denken bedeutet stets Ablösung von altem Denken. Was aber war das alte Denken, und warum wurde gerade diese Ablösung zur Geburtsstunde der Philosophie?
Der Grund liegt in der folgenschweren Tatsache, dass die vorsokratischen Denker sich von der wichtigsten Voraussetzung abgesetzt haben, die das Denken in naiv-religiöser Geborgenheit gefangen hielt.
Die Rede ist vom Mythos (griech. mythos: »Wort, Rede«, später: »Fabel, Sage«). Mit Mythen versuchen die Menschen, die Welt gedanklich zu formen. Äußerungen der Natur – von der Entstehung der Welt bis hin zu ihrem möglichen Ende – werden ängstlichen oder freudigen Sinnes erfasst, verarbeitet und zu Antworten geformt. Der Blitz als Zorn des Göttervaters, die peitschende See als Rache des Meeresgottes und der Regen als segensreiche göttliche Antwort auf Opfergaben: Das alles ist nicht lächerlich, sondern zuerst einmal kulturgestaltend.
Friedrich Nietzsche hat den Mythos zu Unrecht diffamiert, indem er ihn das »Faulbett des Denkens« nannte. Der Mythos war eine wichtige Vorstufe zur Systematisierung von zusammenhanglosen Annahmen über die Anfänge der Welt, die Geburt der Götter usw. Die Tendenz, all das zu systematisieren, ist zwar schon bei Hesiod (um 700 v. Chr.) zu beobachten, aber die eigentliche Befreiung stand noch aus: das Bestreben, alles Wirkliche aus Prinzipien abzuleiten. So ist der Übergang vom Mythos zur Philosophie der Schritt vom bildhaft-anschaulichen zum begrifflich abstrakten Denken.
Dies war der Aufbruch des Abendlandes zu eigenständigem wissenschaftlichen Denken und machte die Vorsokratiker zu wahren Pionieren des Geistes.
a. Die ionischen Naturphilosophen
Bezeichnend für die Anfänge des neuen Denkens ist, dass sie außerhalb der attischen Polis einsetzten. Der ionische Küstenstreifen, heute die türkische Westküste, hatte nicht nur eine handelspolitische Bedeutung, sondern war auch die kulturelle Nahtstelle zwischen Morgenland und Abendland – offen für neue Ideen und kulturelle Errungenschaften anderer Völker. Im Schnittpunkt der Handelswege lag Milet mit seinen vier Häfen, mehreren Speichern und Schiffshäusern. Es war die Mutterstadt von 80 griechischen Pflanzstädten, die von Ägypten bis zum Schwarzen Meer reichten. Der Umschlagplatz Milet war auch für die Textüberlieferung von zentraler Bedeutung: Aus Ägypten wurde Papyrus eingeführt, der wichtigste Beschreibstoff des Altertums.
Thales von Milet (624–545 v. Chr.) Sein Verdienst ist es, die Frage nach einem umfassenden Prinzip des Seins als Erster gestellt zu haben. Die Annahme einer einheitlichen Substanz, von Thales als materieller Grundstoff angesehen, war für ihn Voraussetzung dafür, dass Prozesse wie Werden, Sein, Bestehen und Vergehen überhaupt verständlich sind. Trotz massiver Ungereimtheiten führt daher der Denker aus Milet den Titel Vater der Philosophie nicht zu Unrecht.
Eine der bekanntesten Anekdoten über ihn ist die vom Brunnenfall des Thales. Platon berichtet in seinem Dialog ›Theaetet‹, dass eine »reizende thrakische Magd« Thales verspottete, als er bei der Beobachtung der Sterne in einen Brunnen fiel. Nach einer anderen Quelle fiel Thales in eine Grube und es war ein altes Weib, das ihn anschrie: »Du kannst nicht sehen, Thales, was dir vor Füßen liegt, und wähnst zu erkennen, was am Himmel ist?« Aristoteles stellt ihn in seiner ›Politik‹ als gewieften Geschäftsmann hin: Als Thales eine reiche Olivenernte vorausberechnete, begegnete er dem Vorwurf, die Philosophie sei zu nichts nütze, indem er sämtliche Ölpressen auf Chios und in Milet mietete. Bei der folgenden Olivenernte sei er dann dadurch zu Reichtum gekommen, dass er seine Ölpressen zu Höchstpreisen weitervermietete.
1. Was das Anekdotenhafte sprengt, ist ein Ereignis, das wie kein anderes die bereits erwähnte Weichenstellung vom Mythos zum neuen Denken dokumentiert: Es war Thales' Vorhersage der Sonnenfinsternis für den 28. Mai 585 v. Chr. Dieses Datum gilt als die Geburtsstunde der Philosophie. Die furchteinflößende Verfinsterung der Sonne war jetzt nicht mehr Willkür oder Strafe der Götter, sondern ein Ereignis der Natur, und deren Berechenbarkeit nahm dem Menschen die Angst.
Natürlich setzte die Ablösung vom Mythos mit der Berechnung der Sonnenfinsternis nicht schlagartig ein. Belegt wird dies mit der von Aristoteles zitierten Bemerkung des Thales,
dass alles voll von Göttern sei.
(DK 11 A 22)1
Möglich ist aber auch eine andere Sicht dieses Spruches: Es ist kein ehrfurchtsvolles Relikt aus mythischer Sicht, sondern Klage aus Überdruss.
2. Die zentrale These des Thales, die ihn zum Protophilosophen macht, findet sich in seiner Wassertheorie: Der Ursprung alles Seienden ist das Wasser, genauer: das Feuchte. Hiermit wird zum ersten Mal ein materieller Grundstoff angenommen, der überhaupt einen Prozess wie das Werden und Vergehen verständlich macht.
Aristoteles ist der einzige verlässliche Zeuge für die berühmte Wassertheorie:
Von denen, die als erste philosophiert haben, glaubten die meisten, dass der einzige Urgrund aller Dinge im Wesen des Stofflichen liege. Denn das, woraus alles Seiende ist und woraus es als Erstem wird und in was es am Ende wieder vergeht, indem es seiner Substanz nach erhalten bleibt, in seinen Zuständen aber sich wandelt, erklären sie als Urelement und Urgrund (archē) alles Bestehenden [...]
Thales aber, der Begründer einer solchen Philosophie, erklärt das Wasser für den Urgrund der Dinge.
(DK 11 A 12)
Anaximander von Milet (610–546 v. Chr.) Er nahm nicht einen bestimmten Stoff, sondern ein Prinzip stofflich-geistiger Art zur Bestimmung allen Seins an. Anaximanders wesentliche Bedeutung aber besteht darin, dass wir bei ihm dem ersten metaphysischen Satz des Abendlandes begegnen.
Im Gegensatz zu seinem Lehrer Thales hat er ein Buch geschrieben. Diesem wurde später der Titel ›Über die Natur‹ gegeben. Angeblich hat er außerdem einen Gnomon erfunden, ein astronomisches Messinstrument, und diesen Vorläufer der Sonnenuhr in Sparta aufgestellt.
Von Anaximander stammt das berühmteste Fragment der Vorsokratiker. Es ist der erste metaphysische Satz des Abendlandes. Er benennt ein unbestimmtes Prinzip als den Urgrund allen Seins: das Apeiron. Griechisch peras bedeutet »die Bestimmung« oder »die Grenze«. In Verbindung mit der verneinenden Vorsilbe a- könnte apeiron heißen: »das Grenzenlose, das Unbestimmte«.
Es scheint so, als ob Anaximander im Apeiron etwas Materielles gesehen hat, das er allerdings von den anderen stofflichen Elementen unterschied. Diese Auffindung eines Urstoffes außerhalb jedes menschlichen Begreifens bedeutete einen beträchtlichen Schritt hin zu einer ersten metaphysischen, d. h. einer »über die Natur hinausgehenden« Aussage, die auch in der Tat erfolgt.
Wir verdanken diese wertvolle Quelle dem Philosophen Simplikios (490–560), der 1000 Jahre nach Anaximander aus dem Werk des wichtigsten Aristoteles-Schülers Theophrast (371–287 v. Chr.) zitiert:
Simplikios: Unter denen, die das Eine sowohl bewegend wie unendlich angenommen haben,
Theophrast: [war] Anaximander, Sohn des Praxiades aus Milet, Anhänger und Nachfolger des Thales: er hat als Urgrund und Urelement der Dinge das Unbegrenzte (Apeiron) angesehen, als erster hat er diesen Begriff für den Urgrund gebraucht. Aber er hat weder das Wasser noch ein anderes der so bezeichneten Elemente als Urgrund angesehen, sondern eine gewisse andere unendliche Naturwesenheit, aus der alle Himmel entstanden seien und die Welten in ihnen. Aus welchem Stoff den jeweils entstandenen Dingen aber die Entstehung wird,
Anaximander,
zitiert von
Theophrast: dahin erfolgt auch ihr Vergehen gemäß der Notwendigkeit; denn sie zahlen einander Strafe und Vergeltung für ihr Unrecht nach der Ordnung der Zeit.
Simplikios: wie er es mit diesen eher poetischen Worten zum Ausdruck bringt.
(DK 12 A9/B1)
Was bedeutet aber, es geschieht gemäß der Notwendigkeit? Und warum wird diese Notwendigkeit mit Strafe und Vergeltung begründet? Strafe – aber für welches Unrecht?
Aristoteles gibt in seiner ›Physik‹ folgende Erklärung: Gegner kämpfen meist um die Vorherrschaft. Nun versucht jedes Element, seinen Bereich auf Kosten eines anderen zu erweitern....