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Gemeingefährlich

Deutschlands schlimmste Verbrecher - ein Kommissar berichtet

AutorStephan Harbort
Verlagdtv Deutscher Taschenbuch Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783423424301
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Das Böse ist mitten unter uns »Ich war erst in einem Waffengeschäft und wollte ein Gewehr kaufen. Damit hätte ich einiges angestellt. Dann habe ich mir bei Karstadt ein Messer gekauft. Der Gedanke, eine Frau zu töten, war wieder da. Erst wusste ich nicht, wie ich an ein Opfer rankommen sollte, dann sah ich die Frau in dem Taxi. Warum nicht, habe ich mir gedacht.« Täter, die in Sicherungsverwahrung genommen wurden, gelten als die schlimmsten Verbrecher. Wird ein Triebtäter entlassen, formiert sich schnell Widerstand. So jemanden will man nicht in der Nachbarschaft haben. Solche Leute lösen Angst aus. Harbort stellt acht spektakuläre Kriminalfälle dar, das Spektrum reicht vom rechtsextremistisch bedingten Ausländermord über Sexualmord bis zum Foltermord in einer deutschen Justizvollzugsanstalt. 

Stephan Harbort leitet ein Kriminalkommissariat beim Polizeipräsidium Düsseldorf. Der Diplom-Verwaltungswirt ist Deutschlands bekanntester Experte für Serienmörder und das kriminalistische Profiling, außerdem langjähriger Lehrbeauftragter an der FH Düsseldorf und Dozent an der BTU Cottbus. Der Kriminalhauptkommissar entwickelte international angewandte Fahndungsmethoden zur Überführung von Serienmördern und ist Fachberater bei Kino-Filmen, TV-Dokumentationen und Krimi-Serien. Er ist öfter zu Gast in Talkshows und auch als Darsteller in TV-Dokumentationen und Reportagen zu sehen, zuletzt im Kino-Dokumentarfilm >Blick in den Abgrund<. Zahlreiche Buchveröffentlichungen. /a> 

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Leseprobe

BLUTRAUSCH


»Er ist ein netter, höflicher, lieber Junge.

Er gibt nur das weiter, was man mit ihm macht.«

 

»Das Röcheln und Stöhnen seiner Opfer

war ihm vollkommen gleichgültig.

Es ist ein Fall, den man nicht verstehen kann.

Sorgen Sie dafür,

dass dieses Monster nie wieder freikommt!«

 

»Eigentlich habe ich für Leute,

die so etwas tun, immer die Todesstrafe gefordert.

Und jetzt bin ich selbst so einer.«

 

Das Böse bekommt endlich ein Gesicht, als der Angeklagte zum Prozessauftakt in den überfüllten Schwurgerichtssaal B 25 hereingeführt wird. Sofort beginnen die Fernsehkameras zu surren, die spürbare Anspannung aller Anwesenden scheint sich im Blitzlichtgewitter der Fotografen zu entladen und macht den jungen Mann, der ungeheuerliche Verbrechen begangen haben soll, für einige Augenblicke zum Mittelpunkt des Geschehens. Man könnte meinen, ein Hollywoodstar macht seine Aufwartung, nur der rote Teppich fehlt. Faszination Verbrechen. An die Leiden der Opfer und ihrer Angehörigen denkt jetzt niemand.

Das ändert sich schlagartig, als eine halbe Stunde später die Taten des Angeklagten zur Sprache kommen, der selbst darüber lieber schweigen möchte. Erst während der Untersuchungshaft ist es ihm möglich gewesen, sich der ihn bis dahin überfordernden Wahrheit zu nähern, sein Schamgefühl zu überwinden. Er hat reinen Tisch gemacht und sämtliche Details seiner Taten minutiös und schonungslos beschrieben – ein Dokument des Grauens, das schockierende Bilder im Kopf entstehen lässt und die Frage provoziert: Wie kann ein Mensch zu so etwas fähig sein? Neunzehn quälend lange Seiten umfasst dieses vom Angeklagten übertitelte »Endgeständnis«, das nun vom Vorsitzenden verlesen wird.

»Sehr geehrte Damen und Herren des Amtsgerichts Northeim. Nach langem Hin-und-her-Überlegen habe ich mich entschlossen, ein Schriftstück zu verfassen, in dem ich teilweise mein Geständnis aus den Vernehmungen … widerrufen möchte, und detailliert über die wahren Tatgeschehnisse … berichten möchte«, heißt es einleitend. »Falls Sie sich fragen, warum ich jetzt erst darüber berichte, bei den Geschehnissen handelt es sich um Tatabläufe, für die ich mich schäme, und daher nicht in der Lage war, darüber in den Vernehmungen vor den Polizei- und Justizbeamten zu sprechen. Und insbesondere möchte ich, dass die Angehörigen des Mädchens und des Jungen die Wahrheit wissen, wie und warum die Taten passiert sind, und nicht wie die vorher von mir gestandene Teilwahrheit.«

Für Letztere ist die Verlesung des schriftlichen Geständnisses eine regelrechte Tortur. Ekelerregende Details werden ausgebreitet, die einem Angst vor Menschen machen. Kein unbarmherziger Handgriff des Mörders bleibt ausgespart, wie in Zeitlupe entstehen Vorstellungen grausiger Verstümmelungen der Kinder und sprengen die Grenzen des Erträglichen. Die Augen der beisitzenden Richter bohren sich förmlich in den verkrampft wirkenden Angeklagten hinein, der die Hände in den Schoß gelegt hat und stoisch auf den Boden stiert. Gelegentlich ist im Saal ein unterdrücktes Seufzen zu hören, sonst herrscht stummes Entsetzen. Auch erfahrene Strafverteidiger und Opferanwälte können ihre Fassungslosigkeit nicht verbergen. Reihenweise eilen Zuhörer aus dem Saal, weil sie sich das Geschilderte nicht weiter zumuten möchten, aber auch fremdes Leid gewohnte Gerichtsreporter verlieren die Nerven und verlassen die unwirklich anmutende Szenerie mit Tränen in den Augen. Selbst abgehärtete Kriminalbeamte und Justizwachtmeister versteinern förmlich, ihr Blick geht ins Leere.

Die verhandelten Verbrechen wirken durch die infantil anmutende Ausdrucksweise des Täters unheilvoll lebendig und können nicht länger durch vergleichsweise nüchtern anmutende juristische Formulierungen des Staatsanwalts oder des Gerichts abstrahiert und emotional entschärft werden. Das Leid der Opfer wird unabweisbar, fühlbar, erlebbar: das lähmende Gefühl, dem Vernichtungswillen des Täters ausgesetzt zu sein, der Subjektqualität beraubt, auf die eigenen biologischen Körperfunktionen reduziert, und somit zum Spielball der Bösartigkeit zu werden.

 

Rückblende: einhundertzweiundfünfzig Tage zuvor.

Ein trister Tag im November. Der Himmel ist wolkenverhangen, nur vereinzelt brechen sich Sonnenstrahlen ihre Bahn. Mit fünfzehn Grad ist es für die dunkle Jahreszeit ungewöhnlich warm.

Der junge Mann sitzt im Wartehäuschen des Bahnhofs, ruht sich aus, trinkt Flaschenbier, raucht, hält Ausschau. Es ist 15.35 Uhr. Seit Stunden ist er zu Fuß unterwegs, stromert allein ziellos durch das 3400-Seelen-Dorf, nachdem er am späten Vormittag einen Bekannten, den er besuchen wollte, nicht angetroffen hat.

Plötzlich Stimmengewirr. Zwei junge Mädchen, elf und dreizehn Jahre alt, unterhalten sich angeregt auf dem Bahnsteig, lachen. Der Mann im Wartehäuschen hat sie nicht kommen sehen und erst jetzt bemerkt. Er mustert die Mädchen mit seinen tief in den Höhlen liegenden dunklen Augen. Das augenscheinlich jüngere Mädchen mit den schulterlangen blonden Haaren gefällt ihm besonders. Süße Maus, denkt er sich. Sofort springt seine abnorme Fantasie an, eine ihn betörende, andere Menschen verstörende Parallelwelt entsteht.

»Wo wollt ihr denn hin?«

Überrascht drehen sich die Mädchen um. Der etwa 1,70 Meter große und ziemlich muskulös erscheinende Mann, der vor ihnen steht, sieht nicht gerade vertrauenerweckend aus: millimeterkurz geschorene schwarze Haare, ungepflegter Dreitagebart, kräftiger Schnauzer, fahles Gesicht, stechende Augen, überlange Fingernägel, abgerissene Klamotten, kaputte Schuhe – eine eher verwahrlost wirkende, abstoßende Gesamterscheinung.

»Was ist? Könnt ihr nicht reden?«

Nur das ältere Mädchen antwortet. »Wir warten auf den nächsten Zug.«

Der Mann blickt sich sichernd um. Niemand da. Er überlegt einen Moment, wie es ihm gelingen könnte, die Mädchen vom Bahnhof wegzulocken. Ihm fällt jedoch nichts ein.

»Wollt ihr eine?« Er zeigt den Mädchen eine Schachtel Zigaretten.

»Nein.«

In den nächsten Minuten verwickelt der Mann Jessica und die zwei Jahre jüngere Marion in ein Gespräch und erfährt, dass sie die Gesamtschule im Ort besuchen und nach der letzten Stunde nach Hause wollen, wo sie bereits erwartet werden.

Der Mann richtet den Blick auf Marion. »Hast du schon einen Freund?«

Verlegen verneint das Mädchen.

»Und du?«

Jessica antwortet nicht. Sie schüttelt nur den Kopf.

Am liebsten würde er die 11-Jährige jetzt vergewaltigen. Auf der Stelle. Er nimmt noch einen tiefen Schluck aus der Bierflasche. Einen Herzschlag später steht er direkt neben Marion und legt ihr den linken Arm um die Schulter, scheinbar freundschaftlich.

»Ich finde dich total nett«, flüstert er dem Mädchen ins Ohr.

Marion versucht, sich wegzudrehen, doch er lässt nicht locker. »Hab dich doch nicht so.«

Seine rechte Hand gleitet unter den Pullover des Mädchens. Jetzt wird es Marion zu viel – »Lassen Sie das!« – und sie reißt sich los.

»War nicht so gemeint.«

Der Mann hält einige Meter Abstand und steckt sich eine Zigarette an, grübelt. Er kann seine Erregung kaum bändigen. Dafür ist er einfach zu dicht dran, hat sein Opfer direkt vor Augen, ist ihm schon so nahe gewesen. Hautnah. Trotzdem gelingt es ihm, sich zu beherrschen. Das Risiko erscheint ihm hier und jetzt einfach zu hoch. Er überlegt fieberhaft, wie es weitergehen soll.

Die Mädchen beobachten den Mann währenddessen aus sicherer Entfernung und unterhalten sich leise. Als der Zug einfährt, wird dem Mann bewusst, dass es nun für seine Absichten wohl zu spät ist – keine Gelegenheit mehr. Er flucht laut und sieht, wie Marion und Jessica in der Regionalbahn verschwinden. Die Mädchen können zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen, dass sie gerade einem Mann entkommen sind, der nur wenige Stunden später einen grauenhaften Mord begehen wird.

Missmutig kehrt er ins Wartehäuschen zurück und trinkt Bier. Dabei malt er sich aus, was hätte passieren können, wenn es ihm geglückt wäre, die Mädchen zu trennen und Marion in die Bahnhofstoilette zu lotsen. Wenn er das Kind hätte überwältigen und seinen Fantasien entsprechend missbrauchen können. Und wenn er ein Messer dabeigehabt hätte, dann …

Eine Viertelstunde später verlässt der Mann das Wartehäuschen, weil sein Biervorrat inzwischen aufgebraucht ist. Nachschub besorgt er sich in einem nahe gelegenen Supermarkt. Das Mädchen mit den blonden Haaren geht ihm trotz der Ablenkung nicht mehr aus dem Sinn. Süße Maus! Seine Erregung will einfach nicht abflauen. Doch auch in der nächsten halben Stunde ergibt sich keine Möglichkeit, ein Mädchen in seine Gewalt zu bringen.

Also beschließt er, es noch einmal bei seinem Bekannten zu versuchen, den er vormittags verpasst hat. Minuten später steht er vor dem etwas heruntergekommenen Sechsparteienhaus und schellt. Niemand öffnet. Weil auch das Auto des ehemaligen Schulkameraden nicht im Hof steht, geht der Mann zurück in Richtung Ortsmitte, schlendert in die nächste Seitenstraße, passiert den Friedhof und gelangt zu einer Kleingartenkolonie.

Da kommt ihm auf einem einsam gelegenen Verbindungsweg ein Mädchen entgegen. Allein. Er kennt sie vom Sehen und schätzt ihr Alter auf zwölf oder dreizehn Jahre. Unvermittelt muss er wieder an Marion denken, die verpasste Gelegenheit. Nun trennen ihn...

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