– HANS JÖRG SANDKÜHLER –
Vergessen? Verdrängt? Erinnert?
Philosophie im Nationalsozialismus
Zur Einführung
1. Philosophie im Nationalsozialismus oder: Soll man erinnern?
Muss oder soll man sich heute für die Beziehung zwischen Philosophen und Nationalsozialismus interessieren? Hans Friedrich Fulda gibt diese Antwort: »Sich Rechenschaft abzulegen über Anteile am Nationalsozialismus, die in unserer philosophischen Herkunft enthalten sind, kann insbesondere deshalb nicht etwas sein, das bereits hinter uns liegt, weil solche Selbstverständigung gar nicht ausschließlich eine Aufgabe historischer Forschung ist. Es geht darin nicht vorrangig um eine ideen- oder ideologiegeschichtliche Recherche, deren Ressourcen nach einigem, ernsthaften Bemühen erschöpft wären. Es geht auch nicht bloß um Kritik, durch die man vielleicht eine antifaschistische Haltung unter Beweis stellen möchte […] – und schon gar nicht um ein Neugierinteresse, mit dessen Befriedigung man am Ende Hochbetagte oder Gestorbene in Verruf bringen könnte. Die Arbeit, die wir uns schuldig sind, ist vor allem eine an uns selbst.«1
Diese Arbeit an ›uns selbst‹ ist zum einen Erinnerung an eine Vergangenheit, die nicht vergangen ist – eine Erinnerung im Bewusstsein der Diskontinuität. Dies gilt vor allem für die Generation, die zwischen 1950 und 1960 an deutschen Universitäten studiert hat. Einerseits gab es eine »Kontinuität der Nazizeit: Die Universitäten waren voll von Männern, die […] schon in der Nazizeit gelehrt hatten, und von Jüngeren, die dem Regime […] gedient hatten«, aber nicht gefragt wurden: »›Was haben Sie im Dritten Reich gemacht?‹ Die Älteren sprachen nicht darüber, und die Mehrheit der jungen wagte nicht zu fragen – ein weiterer Beleg für meine Behauptung, dass sich die Stimmung des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenfassen läßt in dem Satz: ›Sie wollten es nicht wissen.‹«2 Die Problemlage nach 1945 war freilich komplexer, als Fritz Stern sie – erzwungenermaßen ›von außen‹ – wahrnimmt: In der Regel war die Frage nicht, ob man zu fragen ›wagte‹ und wissen ›wollte‹. Zur Normalität an den Universitäten gehörte ein nicht als problematisch empfundener ›gemeinschaftlicher Denkstil‹, der Lehrer und Schüler verband. Die Einsicht »Immer Neues kommt zu Tage und immer anders als zuvor gewußt«3 ist eine späte Erkenntnis. Sie setzt eine zunächst nicht wachgerufene Aufmerksamkeit und ein zweifach gerichtetes historisches Interesse voraus: die Verknüpfung der Frage nach den Lehrern mit der selbstkritischen Frage »Wer bin ich wie geworden?« In den Anfängen war die deutsche Geschichte hinter die Grenze der vermeintlichen ›Stunde Null‹ des 8. Mai 1945 verlegt; das ›Neu Beginnen‹, nicht aber dessen Voraussetzungen bestimmten die Bewusstseinslage.
Rudolf Vierhaus berichtet: »Alle Historiker in Münster […] waren bereits vor 1945 als Hochschullehrer tätig. Von ihrer Tätigkeit, ihren Erfahrungen, ihrem Engagement in jener Zeit haben sie allenfalls nebenbei und in Anspielungen gesprochen […] Wir haben sie nicht danach gefragt. Zwei allgemeine Bemerkungen sind hier angebracht: Die Sprachlosigkeit über das in den ersten Nachkriegsjahren in seinem vollen Umfang erst bekannt werdende Geschehen in der NS-Zeit war die Folge von Betroffenheit, Verlegenheit, wohl auch schlechtem Gewissen, Vergessenwollen und Verdrängung, aber auch der schwierigen Bewältigung des Alltags unter den Bedingungen von Besatzung, Hunger, Wohnungsnot, […] etc., und auch der Suche nach neuer Sinnorientierung. An den Universitäten waren die Lehrenden stark absorbiert von den Aufgaben des Wiederaufbaus und von ihrem eigenen Bemühen, durch intensive Arbeit in der Lehre, Publikation und Forschung entweder zu beweisen, wie wenig sie vom Nationalsozialismus beeinflußt worden waren, oder aber ihre Verstrickung durch Leistung zu kompensieren.«4
Auf die Frage, ob und warum man sich heute für die Beziehung zwischen Philosophen und Nationalsozialismus interessieren solle, gibt es über das persönliche Erkenntnisinteresse hinaus auch allgemeine Antworten.5 Hermann Lübbes These, die Unterstellung eines Verschweigens der Zeit von 1933–1945 entstamme »der Neigung, ja der politischen Absicht späterer Jahre, die Gründungsgeschichte der zweiten deutschen Demokratie moralisch zu delegitimieren«6, gehört nicht zu den Antworten, die allgemeine Geltung beanspruchen können. Lübbe fragt in der Absicht, ein Kapitel deutscher Philosophiegeschichte nicht aufzuschlagen: »War man also damals, in den späten vierziger und in den fünfziger Jahren, im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit allzu unsensibel?« Seine Auflösung der Frage hat die Arbeit an der Erinnerung nicht verhindern können: »Das zu unterstellen wäre […] ein Urteil Spätgeborener, die in empörter Nicht-Akzeptanz ihres nationalen Schicksals, als individuell gänzlich Unbeteiligte doch die Nazi-Erbschaft übernehmen zu sollen, für die Umgangsformen, die nach dem Ende des Nationalsozialismus zwischen Alt-Nazis und jungen Ex-Pimpfen, ja zwischen Alt-Nazis und ehemals verfolgten Remigranten sich herausbildeten, ohne Verständnis sind, und das mit Folgen eines historischen Wirklichkeitsverlustes.«7
Derartige selbst auferlegte Frageverbote haben dazu beigetragen, dass eine kritische Geschichte der Philosophie im Nationalsozialismus noch nicht geschrieben ist – eine Geschichte, in der die Gleichzeitigkeit und Widersprüchlichkeit von Freiheit und Notwendigkeit im Erkenntnisprozess, von frei zu verantwortender Nähe oder Distanz und sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Determinanten, von Fortschritten im Wissen und Wissensverlusten durch Verdrängung, von Verbrennung und Exilierung der Alternativen, von produktiven Irrtümern und sterilen Wahrheiten angemessen berücksichtigt wäre. Erst diese Geschichte der Philosophie käme der Wirklichkeit des Philosophierens in Deutschland vor und nach 1933 nahe, in der Kontinuität und Diskontinuität, die Orientierung am Faktischen und die Orientierung an neuen Zielen, das individuelle Erkenntnisinteresse und -vermögen sowie die institutionellen und personellen Potenziale der Philosophie in einer gegebenen politisch-sozialen Situation als Knotenpunkte eines nicht länger verworrenen Netzwerks sichtbar würden. Die epistemische und praktische Tätigkeit der Philosophierenden vollzieht sich in einem vielschichtigen System von Welt- und Wissensbeziehungen, dessen Momente analytisch unterscheidbar, de facto aber nicht trennbar sind. Zu diesem System gehören die intellektuelle Subjektivität, der Austausch mit den Lebenden und den Toten, Gründe aus individuellen und kollektiven Interessen, Unparteilichkeit und parteiliche Zwecke, Überzeugungen in Übergängen und Revisionen und letztlich die mit Geschichte und Zukunft aufgeladenen Bilder der Welt und des Selbst. Auch eine kritische Geschichte wird dies nicht alles berücksichtigen können, aber alles nicht zu berücksichtigen ist unangemessen.
Von einer falschen Prämisse sollte man sich nicht verführen lassen: Philosophische Theorien seien als Spiegelbilder gesellschaftlicher Bedingungen zu behandeln. Jenseits eines solchen simplen Determinismus sind in Biografien naive oder fahrlässige Selbsttäuschung, absichtsvoller Selbstbetrug und Betrug, das Ende von Täuschungen und Revisionen sowie hartnäckige Rechtfertigungen des nicht zu Rechtfertigenden zu entdecken. Zu einer kritischen Geschichte gehört waches historisches Bewusstsein gegenüber der Vergangenheit, die selbst als überwundene Stufe ein Horizont ist, in dem und auf den hin sich der Kritiker bewegt. Es ist trivial und muss doch gesagt werden: Es gibt keine exterritoriale Kritik. Deshalb ist die Forderung nach einer Kritik, die sich vom hermeneutischen principle of charity leiten lässt, nicht versöhnlerisch; sie zielt auf Aufklärung und stärkt den sensus communis – das Selbstdenken, widerspruchsfreie innere Konsistenz und die Perspektive der Alterität – und so die Philosophen und die Philosophie.
1. Zwang und ›Versuchungen der Unfreiheit‹
Im April 1933 heißt es in der ersten Verordnung zur Durchführung des ›Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums‹: »Als nichtarisch gilt, wer von nichtarischen, insbesondere jüdischen Eltern oder Großeltern abstammt. Es genügt, wenn ein Elternteil oder Großelternteil nichtarisch ist«.8 In § 4 (1) der ersten Verordnung zum ›Reichsbürgergesetz‹ wird im November 1935 oktroyiert: »Ein Jude...