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Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse

Eine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Analyse

AutorAlfred Schöpf
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl214 Seiten
ISBN9783170239708
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Dieses Werk beleuchtet aus philosophischer Sicht die neuere Psychoanalyse, die zwischen der klinisch ausgerichteten Kleinianischen Theorie und der extraklinisch orientierten neueren Säuglingsforschung entstanden ist. Dabei zeigt sich ein therapeutisch und wissenschaftlich fruchtbarer Gegensatz zwischen dem klinisch rekonstruierten Unbewussten des Säuglings nach Melanie Klein und dem in direkter Beobachtung untersuchten Unbewussten nach Daniel Stern. Insbesondere für die psychoanalytische Lehre von der Abwehr zeichnen sich neue Perspektiven ab. Nicht zuletzt wird die Diskussion auch in die Wissenschaftsphilosophie und -geschichte eingeordnet.

Dr. Alfred Schöpf ist em. Professor für Philosophie der Universität Würzburg und praktizierender Analytiker und Lehranalytiker am Institut für Psychotherapie und Psychoanalyse in Würzburg.

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Leseprobe

1          Ist die Psychoanalyse ein Kind der Aufklärung (Kant) oder des romantischen Gegenpols (Schelling)?


Einführung

Eine erste Frage, die sich jedem mit der Psychoanalyse und der Philosophie Befassten stellt, betrifft die strikte Unterscheidung, welche die Aufklärung zwischen dem bewussten Leben des Menschen und seinen unbewussten Erfahrungen eingeführt hat. Welchen Bereich erfahren wir in unserem Erleben in bewusster Weise, welcher bleibt dabei unbewusst? Wie hat das 19 Jhd. wissenschaftsgeschichtlich diese Fragen beantwortet? Welche methodischen Zugänge zum unbewussten Anteil unseres Erlebens hat es entwickelt?

Lernziele der Kapitel 1–3


•  Die methodische Differenzierung der Denkwege, welche im 19 Jhd. unbewusste Dimensionen erschlossen haben.

•  Liegt das Schwergewicht mehr auf der begrifflichen Klarheit über unbewusste Erlebnisse oder auf der gefühlten Intuition?

•  Sind psychische Erlebnisse primär über Reiz-Reaktions-Zusammenhänge erfassbar (messbare Schwellen des Bewusstseins) oder über Beschreibungen introspektiv gewonnener psychischer Akte?

•  Wie sind unbewusste Prozesse motiviert? Leiblich-seelisch, zwischenmenschlich oder beides? Was ist ein unbewusster Wille? Geht es dabei primär um Sexualität oder Macht?

Eine Klärung des Wissenschaftsstatus der Psychoanalyse muss auch historisch ansetzen. Spätestens seit F. Nietzsche (GM 1968 Vorr., 28) ist die »Genealogie« ein Muss, um Klarheit zu schaffen. Man würde allerdings sehr weit ausholen, wenn man bis zu den beiden großen Traditionen des Abendlandes zurückgehen würde. Immerhin gibt es da einen Wissenstypus von der Struktur Vergessen-Erinnern, der von Platon über Augustinus ins Mittelalter reicht und Erkennen zentral als Erinnern fasst. Der andere Wissenstypus dagegen hat die Struktur Empeiria-Begriffliche Ordnung und geht von Aristoteles über Thomas ins Mittelalter. Hier schon Vorläufer der Psychoanalyse zu suchen, wäre zu unspezifisch und zu weit hergeholt (Pongratz, 1967, S. 181 f.). Zweifelsohne ist aber die neuzeitliche Aufklärung die entscheidende Schaltstelle in der Disposition der Wissenschaften für die folgenden Jahrhunderte. Hier wollen wir mit der Frage ansetzen: Ist die Psychoanalyse ein Kind der Aufklärung oder ist sie eher dem romantischen Gegenpol zuzuordnen? Auskunft holen wir uns bei der zentralen Figur der Aufklärung I. Kant und als Quelle benützen wir seine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. Doch zunächst erinnern wir uns, mit welchen Kriterien Kant arbeitet und welche großen Trennlinien und Unterscheidungen daraus abzuleiten sind.

Philosophische Grundlage jeder möglichen Erfahrung ist das Bewusstseinsfeld und die philosophische Aufgabe besteht darin, ein Bewusstsein von diesem Bewusstsein zu gewinnen. Anders ausgedrückt: Wenn das Bewusstsein sich in Vorstellungen gliedert, zielt die philosophische Klärung darauf, eine Vorstellung von diesen Vorstellungen zu gewinnen. Der Philosophie geht es also um reflektiertes Selbstbewusstsein, freilich nicht irgendwelcher Art, sondern methodisch begründetes Selbstbewusstsein. Als Maßstab dient R. Descartes Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen (clare et distincte). Dieses ist dann erfüllt, wenn die Vorstellungen sowohl gegenüber anderen sicher abgegrenzt als auch in sich exakt gegliedert werden können. Eine solche exakte Bestimmung ist nach Ansicht der Aufklärung jedoch nur durch mathematisch gesichertes und denknotwendiges Wissen zu erreichen. Auf diese Weise halten nur zwei Wissensbereiche der Prüfung durch Aufklärungskriterien stand. Im Bereich des Gegenstandswissens ist dies das naturwissenschaftlich-mathematische Wissen von der Natur und im Bereich des philosophischen Selbstbewusstseins das exakte Wissen der Denkgesetze (Logik) und des Sittengesetzes (Moral). Wenn man so will, fällt das Licht der Aufklärung nur auf die mathematische Naturwissenschaft auf der einen und diese begründende Philosophie auf der anderen Seite.

Nun ist aber auch einigen Aufklärungstheoretikern klar, dass der Bereich dessen, was nicht unter die klaren und deutlichen Vorstellungen fällt, sondern als dunkle und unklare bezeichnet werden muss, durchaus im Bewusstseinsfeld existiert, ohne mit Aufklärungskriterien als Wissen ausgewiesen werden zu können. Bei I. Kant fallen darunter die Gegenstände des inneren Sinnes (d. h. der Gegenstandsbereich der Psychologie), die Lehre vom leib-seelischen Zusammenhang (der Bereich der Anthropologie) sowie die Lehre von den menschlichen Schöpfungen in Kultur und Geschichte. Kurzum, an den Wissensfeldern, die den Menschen betreffen, lässt sich demonstrieren, worauf das Licht der Aufklärung fällt und was es im Dunkel liegen lässt. Die entscheidende Stelle bei Kant lautet folgendermaßen: »Dass das Feld unserer Sinnesanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewusst sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, dass wir sie haben, d. i. dunkler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Tieren) unermesslich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewusstsein offen liegen, dass gleichsam auf der großen Karte unseres Gemütes nur wenige Stellen illuminiert sind: kann uns Bewunderung über unseres eigenes Wesen einflößen« (I. Kant, 1983, S. 47).

Eine solche Engführung des Wissenschaftsverständnisses hat also ihren Preis. Sie führt

1.  zu einer Trennung der klaren und deutlichen Vorstellungen von den dunklen und unklaren. Die Lichtmetapher der Aufklärung wird den klaren und deutlichen Vorstellungen zugesprochen. Später wird man auch von der Wissenschaft von der Tagseite i. U. zur Nachtseite sprechen. Die Psychoanalyse wird später mit der Dunkelheitszuschreibung für das Unbewusste zu kämpfen haben.

2.  Das Aufklärungswissen nimmt eine kategoriale Trennung von Körper und Seele vor.
    Mathematisch gewiss ist nur das Körperwissen. Modell der Wissenschaft ist die Physik. Es muss zwischen äußerer und innerer Erfahrung geschieden werden. Der Körper wird seelenlos und die Seele wird körperlos. Die künftige Psychologie hat mit diesem Dilemma zu kämpfen. Entweder entscheidet sie sich dafür, sich dem Modell der Physik zu unterwerfen, dann wird sie Reiz-Reaktionswissenschaft oder Psychophysik. Oder sie thematisiert die innere Erfahrung, dann wird sie Akt- oder Erlebnispsychologie und hat mit dem Vorwurf zu kämpfen, dass introspektiv gewonnenes Wissen nicht wissenschaftlich überprüfbar ist, also defizitär bleibt.

3.  Das Aufklärungswissen trennt Theorie und Praxis, weil es Wertfreiheit für den Erkenntnisprozess fordert. Alle Wissenschaften, die ihre Erkenntnisse in der Praxis gewinnen, wie Politik, Kunst, Literatur, Geschichte, klinische Psychologie, etc. geraten in den Verdacht, ein Wissen unvollkommener Art, ein nicht vorurteilsfreies, weil implizit wertendes Wissen, zu vertreten. Die Psychoanalyse wird später genau mit diesem Problem zu ringen haben.

Aber wie hat sich Kant zu diesen Problemen gestellt? Die entscheidende Fundstelle in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist betitelt mit: »Von den Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewusst zu sein« (Kant, 1983, S. 46). Kant sieht also sehr deutlich, dass die Vorrangstellung, welche die Aufklärung bewirkt, wenn sie das Bewusstseinsfeld nach klaren und deutlichen Vorstellungen sortiert, zwangsläufig und unvermeidlich ein Problem der unbewussten Vorstellungen kreiert. Aber so stellt sich Kant die Frage: Ist das nicht ein Widerspruch, Vorstellungen zu haben, deren wir uns nicht bewusst sind? Das Thema der Dunkelheit der Vorstellungen wird jetzt brisant. Es kann doch jeder daherkommen und uns von Vorstellungen erzählen, die er hat, ohne sie im Bewusstsein klären zu können. Das können Vorstellungen von Dogmatikern, Scharlatanen, Religionsfanatikern, Verführern und Verrückten sein. Das ganze Projekt der Aufklärung zielt ja darauf ab, die Wissenschaften und die Menschen davor zu schützen, diesen trüben Quellen zu trauen. Und jetzt tut sich eine Dimension des Unbewussten auf. Könnte es sein, dass über diese Annahme die ganze dunkle Vorstellungswelt wieder einzieht, vor der die Aufklärung uns schützen will? Nach Kant hat J. Locke die radikale Konsequenz gezogen: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Ein »Haben« von Vorstellungen, ohne sie sich als Vorstellungen vorstellen zu können, ist eine dogmatische Seinsannahme und daher zu negieren. Es gibt sie einfach nicht diese unbewussten Vorstellungen. Das ist die radikale Absage an eine Realität, die sich dem aufgeklärten Selbstbewusstsein entzieht. Keine romantische Annahme von bewusstloser Erfahrung hat hier Platz. Anders jedoch Kant: Unser Vorstellungsleben, wenn wir es denn kritisch prüfen, zwingt uns dazu festzustellen, dass alle...

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