1 Definition, Geschichte, Problemstellungen
1.1 Definition
In den Wissenschaften vom Verhalten haben Emotionen schon immer eine bedeutende Rolle gespielt. Dies gilt insbesondere für die Psychologie, die dem Aspekt des Verhaltens (einschließlich bestimmter biologischer Reaktionen des Organismus) noch den des Erlebens als zentrale Ebene der wissenschaftlichen Analyse an die Seite stellt. Entsprechend war die Frage, was eigentlich unter einer Emotion zu verstehen ist, von Anfang an ein wichtiges Thema der Emotionsforschung (James, 1884).
Gewöhnlich erwartet man, dass am Anfang der Erforschung eines Gegenstands dessen Definition steht. Für den Fall der Emotion begegnen wir hier allerdings einer Reihe von Schwierigkeiten (vgl. Frijda, 1986; Scherer, 1990). Zunächst einmal findet sich für emotionale Phänomene eine Vielzahl von sprachlichen Begriffen, z. B. Emotion, Gefühl, Affekt oder Stimmung, die sich allerdings nicht auf identische Sachverhalte beziehen, sondern in ihrer Bedeutung nur mehr oder weniger stark überlappen. Darüber hinaus besteht keine Übereinstimmung darin, welche Phänomene überhaupt als emotional anzusprechen sind. Während etwa bei Wut, Angst oder Freude Einigkeit herrscht, dass wir es hier mit Emotionen zu tun haben, gehen die Meinungen bei Phänomenen wie Überraschung, Interesse oder Verwirrung auseinander (Lazarus, 1991). Schließlich existieren unter Emotionsforschern sehr unterschiedliche Auffassungen hinsichtlich Anzahl und Strukturierung von Emotionen. Dementsprechend verwundert es nicht, dass Emotion auf sehr verschiedenartige Weise definiert wird. So haben etwa Kleinginna und Kleinginna (1981) in einer Übersicht mehr als hundert Definitionen dokumentiert.
Die Quellen dieser fehlenden Übereinstimmungen liegen in unterschiedlichen theoretischen Auffassungen und damit Konzeptbildungen über die Natur des zugrunde liegenden Phänomens. Deshalb ist es auch unrealistisch, als Ausgangspunkt der Erforschung eines bestimmten Sachverhalts zunächst dessen (verbindliche und möglichst umfassende) Definition zu erwarten. Eine derartige Definition ist immer an theoretische Annahmen gebunden und kann erst am Ende des Prozesses der Ausarbeitung einer entsprechenden Theorie geliefert werden.
Dennoch muss man die Darstellung zu einem Forschungsgebiet natürlich mit einer Bestimmung des zentralen Gegenstands der Analyse beginnen. In eine derartige »Arbeitsdefinition« müssten folgende Bestimmungsstücke eingehen (vgl. Lazarus, 1991; Scherer, 1990, 2005): (1) Emotionen bezeichnen Veränderungen in bestimmten Systemen des Organismus, die sich relativ schnell vollziehen und von eher kürzerer zeitlicher Erstreckung sind. (2) Diese Veränderungen werden ausgelöst durch die Bewertung eines externen oder internen Vorgangs als sehr bedeutsam für die Ziele und Bedürfnisse des betreffenden Organismus. (3) Bei den Systemen handelt es sich nach Scherer (1990, 2005) um die Informationsverarbeitung, Versorgung, Steuerung, Aktion und Überwachung. Die Veränderungen sollen im Zustand einer ausgelösten Emotion aufeinander bezogen sein, also synchronisiert erfolgen.
Im System der Informationsverarbeitung vollzieht sich die Bewertung interner und externer Ereignisse im Hinblick auf die Frage, ob diese für den Organismus wichtige Veränderungen signalisieren. Das Versorgungssystem dient der Energetisierung und Regulierung der mit einer Emotion verbundenen Handlungen. Die Steuerung leistet die Planung dieser Handlungen. Das Aktionssystem dient dem Ausdruck und der Kommunikation von emotionsbezogenen Reaktionen. Das Überwachungssystem kontrolliert und reflektiert die aktuellen Zustände der anderen Systeme. Subjektiv äußert sich die Aktivität dieses Systems als spezifischer Gefühlszustand. Entsprechend der Bestimmung dieser Subsysteme schlägt Scherer (1990, S. 6) folgende Arbeitsdefinition von Emotion vor:
»Emotionen bestehen aus der Abfolge von aufeinander bezogenen, synchronisierten Veränderungen in den Zuständen aller fünf organismischen Subsysteme. Diese Veränderungen werden ausgelöst durch die Bewertung eines externen oder internen Reizes als bedeutsam für die zentralen Bedürfnisse und Ziele des Organismus.«
Die sich in diesen Systemen vollziehenden Arbeitsprozesse sind an unterschiedliche Komponenten der Emotion gebunden. Damit lassen sich diese Prozesse über verschiedene emotionsrelevante Parameter erfassen. Generell kann man biologische, verhaltensmäßig-expressive und subjektive (bzw. kognitive) Parameter unterscheiden.
Prozesse der Informationsverarbeitung basieren vorwiegend auf der kognitiven Komponente der Emotion und werden deshalb in der Regel über subjektive Parameter (Selbstberichte) operationalisiert. Daneben ist aber auch eine Erfassung über objektive Verfahren möglich, deren Messintention (wie etwa bei vielen Reaktionszeitaufgaben) für den Probanden nicht durchschaubar ist. Gerade für Emotionen mit hoher Bedeutung für das Überleben des Organismus, z. B. Furcht, muss man aber auch mit der Beteiligung automatisierter, also nichtkognitiver, Prozesse rechnen. Derartige Prozesse, deren adaptive Funktion darin besteht, dass sie sehr schnell zu einer Verhaltensauslösung (z. B. Flucht) führen, werden im Wesentlichen durch subkortikale Strukturen, insbesondere die Amygdala, gesteuert (Öhman & Mineka, 2001). Das Versorgungssystem basiert dagegen auf neuroendokrinen Prozessen und einer Aktivierung des autonomen Nervensystems und wird über entsprechende Messmethoden erfasst. Aspekte der Steuerung lassen sich sowohl über subjektive Daten als auch über Verhaltensbeobachtung registrieren. Das Aktionssystem wird in erster Linie über verhaltensmäßig-expressive Daten, insbesondere aus dem Ausdruckverhalten, operationalisiert. Das Überwachungssystem, das sich, wie erwähnt, in bestimmten Gefühlszuständen manifestiert, lässt sich primär über Selbstberichte, daneben aber auch über Fremdbeobachtung, erfassen. (Zu Messmethoden s. Kap. 2 sowie Krohne, 2010; Krohne & Hock, 2007.)
1.2 Historischer Hintergrund
In diesem Buch geht es um ein spezielles Thema der Emotionsforschung, die Beziehung zwischen Persönlichkeit und Emotionen. Wir stellen hier die Frage nach der Existenz überdauernder Persönlichkeitsmerkmale in Bezug auf die Emotionalität des Menschen. Dieser persönlichkeitspsychologische Ansatz befasst sich also mit verschiedenen Aspekten der individuellen Unterschiedlichkeit emotionaler Funktionen und der Bestimmung von Persönlichkeitsdimensionen innerhalb des emotionalen Reagierens und der Regulation von Emotionen.
Dieses Thema hat in der Geschichte der Psychologie eine lange Tradition. Seit Emotionen wissenschaftlich erforscht werden, hat man auch über ihre Beziehung zu anderen Merkmalen des Individuums nachgedacht. Bereits in der Antike spekulierten Hippokrates (ca. 460–370) und nach ihm Galen (ca. 129–200) über den Einfluss chemischer Vorgänge im Körper (die sog. Körpersäfte oder »humores«) auf die Ausprägung der Temperamente sanguinisch, melancholisch, cholerisch und phlegmatisch, die wiederum die persönlichkeitsspezifische Grundlage emotionalen Verhaltens bilden sollten. Diese antike Spekulation beeinflusste ganz wesentlich die Philosophie, Kunst, Literatur und Medizin der frühen Neuzeit. So hat etwa Kant (1798/1964) in seinem Werk »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« die Vorstellung dieser vier Temperamente wieder aufgenommen und im Hinblick auf ihre Bedeutung als emotionale Grundlage der Persönlichkeit ausführlich beschrieben. Dabei stellte er auch bereits Überlegungen zu den Beziehungen innerhalb dieser vier Temperamente an (Kant, 1798, S. 262).
Auch in der modernen Psychologie hat diese antike Temperamentlehre in ihrer Wiederaufnahme durch Kant Spuren hinterlassen. So unterscheidet Wundt (1903) Menschen hinsichtlich Schnelligkeit und Intensität der Gefühlsentstehung. Die durch Kombination von jeweils zwei Ausprägungen dieser Dimensionen (schnell/langsam bzw. stark/schwach) resultierende Ordnung personspezifischer Emotionalität entspricht dabei im Wesentlichen den vier Temperamenten des Hippokrates. So sollen etwa Choleriker durch eine schnell ausgelöste und starke Gefühlsentstehung gekennzeichnet sein, während Phlegmatiker durch das entgegengesetzte Reaktionsmuster beschrieben werden. In der neueren Persönlichkeitsforschung bezieht Eysenck (1967) seine zentralen Dimensionen Extraversion-Introversion und Emotionale Labilität-Stabilität ( Kap. 5) ausdrücklich auf die antike Temperamentlehre in ihrer Reformulierung durch Wundt. Dabei sollen hohe Ausprägungen in Labilität und Extraversion dem cholerischen, in...