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Philosophie in der Heil- und Sonderpädagogik

AutorMarkus Dederich
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl282 Seiten
ISBN9783170244283
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Brauchen praktisch tätige Pädagoginnen und Pädagogen, die sich jeden Tag mit ganz handfesten und unmittelbar zu lösenden Problemen konfrontiert sehen, ein Buch über philosophische Aspekte ihres Fachs? Ist das nicht viel zu theoretisch und daher nicht praxisrelevant? Das Buch zeigt, dass die Philosophie nicht nur für die Fundierung der Heil- und Sonderpädagogik als Wissenschaft unverzichtbar ist. Es macht auch deutlich, dass philosophisches Denken in diesem Feld durchaus auch von Bedeutung für die Klärung dringlicher Fragen der Praxis ist. Die Grundidee des Bandes ist, bestimmte philosophische Fragen von einem für die Heil- und Sonderpädagogik ganz zentralen Problem aus zu untersuchen, nämlich dem Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit. Die damit verbundenen Probleme und Herausforderungen ziehen sich wie ein roter Faden durch die einzelnen Kapitel.

Professor Dr. Markus Dederich lehrt Allgemeine Heilpädagogik, Theorie der Heilpädagogik und Rehabilitation an der Universität zu Köln.

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Leseprobe

Vorwort


Im Gegensatz zur Psychologie, Medizin und Soziologie gehört die Philosophie nicht zu den Disziplinen, die normalerweise zu den wichtigen ›Nachbardisziplinen‹ der Heil- und Sonderpädagogik gezählt werden. Und doch ist sie eine wichtige, in Hinblick auf manche Fragen und Probleme sogar die wichtigste Bezugswissenschaft. Zu denken ist hier beispielsweise an all die Fragen, die durch den Fortschritt der modernen Medizin aufgeworfen werden: die Chancen und Risiken der vorgeburtlichen Diagnostik oder die Problematik der Spätabtreibungen. In diesen sehr speziellen Problemfeldern geht es um etwas Grundsätzliches, nämlich den moralischen Status von Menschen mit Behinderungen und die Frage, welche Pflichten ihnen gegenüber bestehen.

Vorliegender Band ist ein Versuch, die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik zu würdigen und systematisch herauszuarbeiten. Jedoch handelt es sich nicht um ein Buch über Philosophie. Daher wird auf innerphilosophische Debatten und Kontroversen nur eingegangen, wo es notwendig ist, um die Hintergründe bestimmter heil- und sonderpädagogischer Problemstellungen zu erläutern. Im Mittelpunkt dieses Buchs, das sich als Grundlegung versteht und einen einführenden Überblick bereitstellen möchte, stehen zentrale und fundamentale Themen und Probleme der Heil- und Sonderpädagogik, die in einer philosophischen Perspektive untersucht und reflektiert werden.

Diese zentralen Themen und Probleme werden anhand eines doppelten Leitfadens herausgearbeitet: zum einen dem Verhältnis von Gleichheit, Verschiedenheit und radikaler Differenz, zum anderen an der Figur der Grenze. Das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit kann als ein Grundthema der Heil- und Sonderpädagogik verstanden werden, und dies nicht erst seit den Konjunkturen der Debatten über Integration bzw. Inklusion. Auf der anderen Seite sieht sich die Heil- und Sonderpädagogik oft mit Grenzen bzw. Grenzphänomenen konfrontiert und durch diese herausgefordert: Grenzen dessen, was viele Philosophen als ›allgemeinmenschlich‹ (z. B. im Sinne charakteristischer oder notwendiger Gattungseigenschaften) ansehen, Grenzen der Kommunikation und des Verstehens (die z. B. erfahrbar werden, wenn Menschen sich nur auf einer sehr basalen körperlichen Ebene, nicht aber verbalsprachlich artikulieren können), Grenzen des pädagogisch Mach- und Herstellbaren (z. B. bei Menschen mit schwersten und komplexen Beeinträchtigungen) oder Grenzen normativer Systeme (z. B. hinsichtlich der Frage, ob es Grenzen der Zugehörigkeit zu moralischen Gemeinschaften gibt). Die Beschäftigung mit philosophischen Fragen im Kontext der Heil- und Sonderpädagogik führt immer wieder an solche Grenzen heran. Diese zu erkunden bedeutet einerseits, die Aufmerksamkeit für Phänomene zu schärfen, die häufig übersehen oder nur am Rande thematisiert werden. Andererseits können solche Grenzgänge auch zeigen, dass die Grenzen in der Regel nicht naturwüchsig sind, sondern beispielsweise durch Denksysteme, Menschen- und Gesellschaftsbilder, normative Setzungen und eine regelrechte soziale und kulturelle, aber auch ethische und anthropologische Grenzpolitik hervorgebracht werden. Insofern gibt es vieles von allgemeinem Interesse über die Wissenschaften, die Philosophie, den Menschen und die Gesellschaft zu erfahren, wenn man damit beginnt, sie von den Rändern her zu betrachten.

Die Thematik des Buchs impliziert eine Anmaßung. Wenn aus Nachbarwissenschaften Anleihen gemacht werden, um bestimmte Fragestellungen und Probleme großräumiger und differenzierter reflektieren und theoretisch bearbeiten zu können, scheint das vorauszusetzen, dass das Übernommene in der Herkunftsdisziplin als geklärt gelten kann. Genau dies ist selbstverständlich bei vielen der hier angesprochenen philosophischen Fragestellungen keineswegs der Fall. Vielmehr sind viele Probleme, etwa solche erkenntnistheoretischer oder ethischer Art, in der Philosophie strittig. Tatsächlich gibt es ›die‹ Philosophie ebenso wenig wie ›die‹ Heil- und Sonderpädagogik. Beide Bezeichnungen für wissenschaftliche Disziplinen vereinen unterschiedlichste und vielstimmige Traditionen, Diskurse, methodische Präferenzen, überhaupt Vorstellungen davon, was die jeweilige Disziplin ist, kann und soll – und was eben nicht.

Deshalb gilt: Die Probleme, die in den Kapiteln dieses Buchs zur Sprache kommen, könnten philosophisch auch anders aufgerollt und in andere methodische und begriffliche Kontexte gestellt werden und daher auch in andere Klärungsvorschläge münden. Mit diesem Hinweis soll aber keine Ausflucht in eine an Beliebigkeit grenzende Paradigmenvielfalt oder dergleichen formuliert werden. Denn vorliegendes Buch erhebt Geltungsansprüche und möchte an diesen gemessen werden. Vielmehr soll damit gesagt werden, dass auch der Rückgriff auf die Philosophie bestimmte Fragen der Heil- und Sonderpädagogik nicht endgültig beantworten wird.

Auch ist zu erwähnen, dass es weder ortlose Reflexion gibt noch wissenschaftliche Erkenntnis, die ein Problem oder ein Thema in seiner Totalität erfassen könnte. Das, was in diesem Buch zur Sprache kommt (und was eben nicht), ist einerseits dem gewählten Zugang geschuldet, andererseits den selektiven und exklusiven Effekten, die jeder methodische Zugang, jedes Begriffssystem und Sprachspiel, jede Forschungstradition unweigerlich produziert. Im Falle des vorliegenden Buchs spricht kein Praktiker, der praktische Probleme lösen muss, sondern ein Wissenschaftler, der primär an Reflexion interessiert ist, und zwar einer Reflexion, die den Blick auf bestimmte Fragen und Probleme überhaupt erst eröffnen, erweitern oder verändern möchte. Der Zugang, der zu diesem Zweck gewählt wurde, ist über weite Strecken ein phänomenologischer, der um poststrukturalistische Denkfiguren und Theorieansätze angereichert wird. Ohne in Details der Phänomenologie als Methode oder Haltung einsteigen zu wollen, geht es bei diesem Zugang im Kern darum, »das Was des Sachgehalts an das Wie einer bestimmten Zugangsweise zu koppeln« (Waldenfels 2012, 170). Als Methode in einem ganz wörtlichen Sinn (nämlich als Weg zu etwas hin) ist sie ein Versuch, sich von den ›Sachen‹, d. h. den Phänomenen und ihren Anforderungen leiten zu lassen. Zum Kern der Phänomenologie als Haltung gehört, sich beispielsweise von metaphysischen, wissenschaftlichen oder moralischen Vorurteilen frei zu machen. Sie zielt darauf ab, den jeweiligen Gegenstand zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen und nicht das, »was von unserem theoretischen Standpunkt zu erwarten ist« (Zahavi 2007, 26). Auch wenn im Sinne des Versuchs, eine methodische Überfrachtung dieses Buchs zu vermeiden, auf eine explizite Erläuterung und Diskussion der Phänomenologie verzichtet wurde, müsste vor allem im Abschnitt »Der Andere als Fremder« (Kap. 2) und im Exkurs »Das Leib-Seele-Problem und die Antwort der Phänomenologie« (Kap. 6) deutlich werden, was damit gemeint ist.

Bei der Bearbeitung einzelner Kapitel bzw. Aspekte konnte ich auf eine ganze Reihe früherer Arbeiten zurückgreifen. Einige Kapitel bzw. Abschnitte dieses Buchs bestehen aus Überarbeitungen bereits publizierter Texte. Ein zentraler Aspekt der Überarbeitung war ihre Einpassung in die Struktur des Bandes und des ihm zugrundeliegenden Leitfadens.

Das einführende Kapitel greift auf Teile meines Beitrags »Schwere und mehrfache Behinderung – Philosophische Aspekte« (2011a) zurück. Das Kapitel 3 »Die Anderen II: Im Spiegel von Wissen, Sprache und Repräsentation« ist eine Überarbeitung von Teilen meiner Dortmunder Antrittsvorlesung, die unter dem Titel »Wozu Theorie?« (2006) publiziert wurde. Aus diesem Text wurde auch der Abschnitt »Erkennen als selektiver und exklusiver Prozess« in das Kapitel 6 eingearbeitet. Die Überlegungen zu Grenzen des Verstehens im Kapitel zur Wissenschaftstheorie wurden zuerst in dem Beitrag »Grenzen des Fremdverstehens« (2011b) veröffentlicht und für vorliegendes Buch leicht überarbeitet. Kapitel 9, das das Verhältnis von Selbstbestimmung und Stellvertretung untersucht, geht auf den Text »Stellvertretung« (2013) zurück. Kapitel 10 über das Problem der Anerkennung ist eine stark überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags »Behinderung, Identitätspolitik und Anerkennung – Eine alteritätstheoretische Reflexion« (2011c). Die Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit in Kapitel 11 schließlich sind dem Beitrag »Inklusion als Menschenrecht und Bedingung der Möglichkeit für Chancengleichheit?« (2012) entnommen und wurden leicht überarbeitet.

Ich danke meinem Doktoranden Robert Stöhr, der mich auf die große Bedeutung der Technik in der Behindertenpolitik aufmerksam gemacht und wichtige Hinweise zum Technik-Kapitel gegeben hat. Meiner Doktorandin Nadine Dziabel danke ich...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Inhalt8
Vorwort12
1 Einleitung: Philosophische Aspekte der Heil- und Sonderpädagogik16
Einführende Überlegungen16
Was ist Philosophie?20
Die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik: Ein erster Überblick23
Philosophie und die Offenhaltung des Blicks auf den anderen Menschen26
Heil- und sonderpädagogische Impulse für die Philosophie29
2 Die Anderen I: Gleichheit und Verschiedenheit31
Einleitende Überlegungen31
Der Gleichheits- und Differenzdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik33
Über Gleichheit36
Grundlinien des Differenzdiskurses38
Differenzdenken in der Philosophie des 20. Jahrhunderts40
Eine fundamentale Unterscheidung: ›Relative‹ und ›radikale‹ Differenz43
›Relative Andersheit‹: Vielfalt und Heterogenität44
Der Andere als Fremder48
Diesseits von Allgemeinem und Besonderem: Ethische Konsequenzen51
Schlussbemerkung55
3 Die Anderen II: Im Spiegel von Wissen, Sprache und Repräsentation58
Politische Implikationen64
Zur Störfunktion der Philosophie65
4 Die Frage nach dem Wissen: Erkenntnistheorie67
Was ist Erkenntnistheorie?67
Erkenntnis und Wahrheit70
Zur Bedeutung der Erkenntnistheorie in der Heil- und Sonderpädagogik73
Von der Perspektive der dritten zur Perspektive der zweiten und ersten Person80
Erkenntnis und Erfahrung84
Exkurs: Die Bedeutung der Aufmerksamkeit86
Fazit: Erkennen als selektiver und exklusiver Prozess88
5 Wege, Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis: Wissenschaftstheorie90
Was ist Wissenschaftstheorie?91
Grundlegende Probleme der Wissenschaftstheorie94
Zur Erosion des alten Objektivitätsideals102
Grenzen des Erklärens, Grenzen des Verstehens107
Schluss I: Pluralismus in den Wissenschaften110
Schluss II: Konsequenzen für die Heil- und Sonderpädagogik112
6 Die Frage nach dem Menschen: Anthropologie116
Einleitende Überlegungen116
Anthropologie und Menschenbild118
Anthropologie in der Heil- und Sonderpädagogik als Sonderanthropologie120
Kritische und historische Anthropologie123
Anthropologie und Ethik124
Pädagogische Anthropologie und die Unbestimmbarkeit des Menschen125
Exkurs: Das Leib-Seele-Problem und die Antwort der Phänomenologie127
Schlussbemerkung132
7 Der prothetisierte Mensch: Technikphilosophie134
Einleitende Überlegungen134
Erste Annäherung: Umrisse des Technikbegriffs136
Zweite Annäherung: Philosophischer Technikbegriff und Technikphilosophie137
Moderne Technik: Invasive Technisierung141
Normative Leitideen der Heil- und Sonderpädagogik und der Behindertenpolitik und die Bedeutung der Technik144
Technik in den verschiedenen Modellen von Behinderung145
Technikbewertung in der Perspektive der ersten Person150
Enhancement – Die Debatte über die Verbesserung des Menschen151
Ausblick155
8 Der Humanismus des anderen Menschen: Ethik159
Einleitende Überlegungen159
Zum Begriff ›Ethik‹161
Ethik und das Problem der Legitimation der Heil- und Sonderpädagogik164
Ethische Positionen und Ansätze in der Heil- und Sonderpädagogik167
Problemfeld 1: Lebenswert und Lebensqualität170
Problemfeld 2: Reziprozität175
Problemfeld 3: Moralischer Status und der Begriff der Person179
Problemfeld 4: Menschenwürde184
Eine Ethik vom Anderen her187
Ethik als responsives Geschehen diesseits von Gut und Böse189
Ethik als responsives Geschehen diesseits von Allgemeinem und Besonderem190
Schlussbemerkung191
9 Ich und die Anderen I: Selbstbestimmung und Stellvertretung193
Der Selbstbestimmungsdiskurs in der Heil- und Sonderpädagogik193
Kritische Anfragen an die Idee der Selbstbestimmung195
An Stelle des Anderen: Zur Problematik der Stellvertretung197
Der Diskurs zur Stellvertretung im Kontext von Behinderung200
Die Legitimationsproblematik der Stellvertretung in der Pädagogik202
Zwischen Selbst- und Fremdbestimmung – Kritik des Subjektbegriffs206
Stellvertretung und Macht208
Schlussbemerkung210
10 Ich und die Anderen II: Anerkennung212
Einleitung212
Zum Begriff der Anerkennung214
Offene Fragen und Aspekte der Kritik219
Behinderung, Anerkennung und Identität223
Anerkennung und Verkennung225
Verkennung und Achtsamkeit230
Schlussbemerkung231
11 Der Einzelne und die Vielen: Politik und Gerechtigkeit234
Ein erster Überblick: Zur Relevanz der Politischen Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik234
Der philosophische Gerechtigkeitsdiskurs236
Behinderung und Gerechtigkeit: Einführende Überlegungen238
Exkurs: Gerechtigkeit und Menschenrechte241
Behinderung, Gleichheit und Gerechtigkeit243
Gerechtigkeit und das Problem der Differenz247
Korrekturen I: Gerechtigkeit vom Anderen her254
Korrekturen II: Gelebtes Ethos, Tugenden und Gerechtigkeit257
Zum Schluss: Gerechtigkeit als Kulturpolitik261
Literaturverzeichnis264
Stichwortverzeichnis282

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