Vorwort
Im Gegensatz zur Psychologie, Medizin und Soziologie gehört die Philosophie nicht zu den Disziplinen, die normalerweise zu den wichtigen ›Nachbardisziplinen‹ der Heil- und Sonderpädagogik gezählt werden. Und doch ist sie eine wichtige, in Hinblick auf manche Fragen und Probleme sogar die wichtigste Bezugswissenschaft. Zu denken ist hier beispielsweise an all die Fragen, die durch den Fortschritt der modernen Medizin aufgeworfen werden: die Chancen und Risiken der vorgeburtlichen Diagnostik oder die Problematik der Spätabtreibungen. In diesen sehr speziellen Problemfeldern geht es um etwas Grundsätzliches, nämlich den moralischen Status von Menschen mit Behinderungen und die Frage, welche Pflichten ihnen gegenüber bestehen.
Vorliegender Band ist ein Versuch, die Bedeutung der Philosophie für die Heil- und Sonderpädagogik zu würdigen und systematisch herauszuarbeiten. Jedoch handelt es sich nicht um ein Buch über Philosophie. Daher wird auf innerphilosophische Debatten und Kontroversen nur eingegangen, wo es notwendig ist, um die Hintergründe bestimmter heil- und sonderpädagogischer Problemstellungen zu erläutern. Im Mittelpunkt dieses Buchs, das sich als Grundlegung versteht und einen einführenden Überblick bereitstellen möchte, stehen zentrale und fundamentale Themen und Probleme der Heil- und Sonderpädagogik, die in einer philosophischen Perspektive untersucht und reflektiert werden.
Diese zentralen Themen und Probleme werden anhand eines doppelten Leitfadens herausgearbeitet: zum einen dem Verhältnis von Gleichheit, Verschiedenheit und radikaler Differenz, zum anderen an der Figur der Grenze. Das Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit kann als ein Grundthema der Heil- und Sonderpädagogik verstanden werden, und dies nicht erst seit den Konjunkturen der Debatten über Integration bzw. Inklusion. Auf der anderen Seite sieht sich die Heil- und Sonderpädagogik oft mit Grenzen bzw. Grenzphänomenen konfrontiert und durch diese herausgefordert: Grenzen dessen, was viele Philosophen als ›allgemeinmenschlich‹ (z. B. im Sinne charakteristischer oder notwendiger Gattungseigenschaften) ansehen, Grenzen der Kommunikation und des Verstehens (die z. B. erfahrbar werden, wenn Menschen sich nur auf einer sehr basalen körperlichen Ebene, nicht aber verbalsprachlich artikulieren können), Grenzen des pädagogisch Mach- und Herstellbaren (z. B. bei Menschen mit schwersten und komplexen Beeinträchtigungen) oder Grenzen normativer Systeme (z. B. hinsichtlich der Frage, ob es Grenzen der Zugehörigkeit zu moralischen Gemeinschaften gibt). Die Beschäftigung mit philosophischen Fragen im Kontext der Heil- und Sonderpädagogik führt immer wieder an solche Grenzen heran. Diese zu erkunden bedeutet einerseits, die Aufmerksamkeit für Phänomene zu schärfen, die häufig übersehen oder nur am Rande thematisiert werden. Andererseits können solche Grenzgänge auch zeigen, dass die Grenzen in der Regel nicht naturwüchsig sind, sondern beispielsweise durch Denksysteme, Menschen- und Gesellschaftsbilder, normative Setzungen und eine regelrechte soziale und kulturelle, aber auch ethische und anthropologische Grenzpolitik hervorgebracht werden. Insofern gibt es vieles von allgemeinem Interesse über die Wissenschaften, die Philosophie, den Menschen und die Gesellschaft zu erfahren, wenn man damit beginnt, sie von den Rändern her zu betrachten.
Die Thematik des Buchs impliziert eine Anmaßung. Wenn aus Nachbarwissenschaften Anleihen gemacht werden, um bestimmte Fragestellungen und Probleme großräumiger und differenzierter reflektieren und theoretisch bearbeiten zu können, scheint das vorauszusetzen, dass das Übernommene in der Herkunftsdisziplin als geklärt gelten kann. Genau dies ist selbstverständlich bei vielen der hier angesprochenen philosophischen Fragestellungen keineswegs der Fall. Vielmehr sind viele Probleme, etwa solche erkenntnistheoretischer oder ethischer Art, in der Philosophie strittig. Tatsächlich gibt es ›die‹ Philosophie ebenso wenig wie ›die‹ Heil- und Sonderpädagogik. Beide Bezeichnungen für wissenschaftliche Disziplinen vereinen unterschiedlichste und vielstimmige Traditionen, Diskurse, methodische Präferenzen, überhaupt Vorstellungen davon, was die jeweilige Disziplin ist, kann und soll – und was eben nicht.
Deshalb gilt: Die Probleme, die in den Kapiteln dieses Buchs zur Sprache kommen, könnten philosophisch auch anders aufgerollt und in andere methodische und begriffliche Kontexte gestellt werden und daher auch in andere Klärungsvorschläge münden. Mit diesem Hinweis soll aber keine Ausflucht in eine an Beliebigkeit grenzende Paradigmenvielfalt oder dergleichen formuliert werden. Denn vorliegendes Buch erhebt Geltungsansprüche und möchte an diesen gemessen werden. Vielmehr soll damit gesagt werden, dass auch der Rückgriff auf die Philosophie bestimmte Fragen der Heil- und Sonderpädagogik nicht endgültig beantworten wird.
Auch ist zu erwähnen, dass es weder ortlose Reflexion gibt noch wissenschaftliche Erkenntnis, die ein Problem oder ein Thema in seiner Totalität erfassen könnte. Das, was in diesem Buch zur Sprache kommt (und was eben nicht), ist einerseits dem gewählten Zugang geschuldet, andererseits den selektiven und exklusiven Effekten, die jeder methodische Zugang, jedes Begriffssystem und Sprachspiel, jede Forschungstradition unweigerlich produziert. Im Falle des vorliegenden Buchs spricht kein Praktiker, der praktische Probleme lösen muss, sondern ein Wissenschaftler, der primär an Reflexion interessiert ist, und zwar einer Reflexion, die den Blick auf bestimmte Fragen und Probleme überhaupt erst eröffnen, erweitern oder verändern möchte. Der Zugang, der zu diesem Zweck gewählt wurde, ist über weite Strecken ein phänomenologischer, der um poststrukturalistische Denkfiguren und Theorieansätze angereichert wird. Ohne in Details der Phänomenologie als Methode oder Haltung einsteigen zu wollen, geht es bei diesem Zugang im Kern darum, »das Was des Sachgehalts an das Wie einer bestimmten Zugangsweise zu koppeln« (Waldenfels 2012, 170). Als Methode in einem ganz wörtlichen Sinn (nämlich als Weg zu etwas hin) ist sie ein Versuch, sich von den ›Sachen‹, d. h. den Phänomenen und ihren Anforderungen leiten zu lassen. Zum Kern der Phänomenologie als Haltung gehört, sich beispielsweise von metaphysischen, wissenschaftlichen oder moralischen Vorurteilen frei zu machen. Sie zielt darauf ab, den jeweiligen Gegenstand zum Ausgangspunkt der Untersuchung zu machen und nicht das, »was von unserem theoretischen Standpunkt zu erwarten ist« (Zahavi 2007, 26). Auch wenn im Sinne des Versuchs, eine methodische Überfrachtung dieses Buchs zu vermeiden, auf eine explizite Erläuterung und Diskussion der Phänomenologie verzichtet wurde, müsste vor allem im Abschnitt »Der Andere als Fremder« (Kap. 2) und im Exkurs »Das Leib-Seele-Problem und die Antwort der Phänomenologie« (Kap. 6) deutlich werden, was damit gemeint ist.
Bei der Bearbeitung einzelner Kapitel bzw. Aspekte konnte ich auf eine ganze Reihe früherer Arbeiten zurückgreifen. Einige Kapitel bzw. Abschnitte dieses Buchs bestehen aus Überarbeitungen bereits publizierter Texte. Ein zentraler Aspekt der Überarbeitung war ihre Einpassung in die Struktur des Bandes und des ihm zugrundeliegenden Leitfadens.
Das einführende Kapitel greift auf Teile meines Beitrags »Schwere und mehrfache Behinderung – Philosophische Aspekte« (2011a) zurück. Das Kapitel 3 »Die Anderen II: Im Spiegel von Wissen, Sprache und Repräsentation« ist eine Überarbeitung von Teilen meiner Dortmunder Antrittsvorlesung, die unter dem Titel »Wozu Theorie?« (2006) publiziert wurde. Aus diesem Text wurde auch der Abschnitt »Erkennen als selektiver und exklusiver Prozess« in das Kapitel 6 eingearbeitet. Die Überlegungen zu Grenzen des Verstehens im Kapitel zur Wissenschaftstheorie wurden zuerst in dem Beitrag »Grenzen des Fremdverstehens« (2011b) veröffentlicht und für vorliegendes Buch leicht überarbeitet. Kapitel 9, das das Verhältnis von Selbstbestimmung und Stellvertretung untersucht, geht auf den Text »Stellvertretung« (2013) zurück. Kapitel 10 über das Problem der Anerkennung ist eine stark überarbeitete und erweiterte Fassung des Beitrags »Behinderung, Identitätspolitik und Anerkennung – Eine alteritätstheoretische Reflexion« (2011c). Die Überlegungen zur Bildungsgerechtigkeit in Kapitel 11 schließlich sind dem Beitrag »Inklusion als Menschenrecht und Bedingung der Möglichkeit für Chancengleichheit?« (2012) entnommen und wurden leicht überarbeitet.
Ich danke meinem Doktoranden Robert Stöhr, der mich auf die große Bedeutung der Technik in der Behindertenpolitik aufmerksam gemacht und wichtige Hinweise zum Technik-Kapitel gegeben hat. Meiner Doktorandin Nadine Dziabel danke ich...