1 Einleitung
Mit psychischen Phänomenen wie dem, was wir »Entwicklung« nennen, ist es eigentümlich: Sie sind so alltäglich, dass wir sie kaum bemerken. Oft fällt uns erst spät und im Nachhinein auf, dass wir uns selbst weiterentwickelt haben. Bei Bekannten erkennen wir das meist früher und fassen dann unsere Einschätzung etwa in der Bemerkung zusammen: »Der oder die hat sich aber zu seinem oder ihrem Vorteil entwickelt!« Stagniert der Entwicklungsprozess oder ist er gestört, kann oder will sich jemand nicht mehr an eine veränderte Lebenssituation anpassen, dann tritt zutage, dass wir eine Entwicklung von uns und von anderen erwarten, auch im Erwachsenenleben.
Bei Kindern ist es augenfällig, dass und wie sie sich entwickeln: Wenn sich zum Beispiel ihre motorischen Fähigkeiten entwickeln und sie vom Krabbeln über das Sitzen und Stehen zum Gehen kommen, zunächst unsicher und ungelenk, dann immer harmonischer und geschickter; wenn sie sich sprachlich entwickeln und sie von ersten Lauten über Wortkombinationen zu vollständigen, grammatikalisch richtigen Sätzen gelangen, sich damit immer besser ausdrücken und differenzierter verständigen können; wenn sie sich sozial entwickeln, von ersten schüchternen Versuchen, mit anderen Kindern in Kontakt zu kommen bis zu lebhaften Interaktionen im Freundeskreis. Bei Erwachsenen sind Entwicklungsprozesse nicht so offensichtlich, und doch ist klar, dass sie sich entwickeln oder – sagen wir es zunächst vorsichtiger – dass sie sich im Laufe des Lebens verändern. Kein Mensch ist mit 50 Jahren noch derjenige, der er mit 20 war. Er ist nicht nur älter geworden, sondern hat sich in zentralen Persönlichkeitsmerkmalen und Kompetenzen, Einstellungen und Verhaltensstilen verändert, vielleicht selten dramatisch, aber immer merklich. Die Erfahrungen im Beruf, in der Partnerschaft oder als Eltern können dem Erwachsenen mehr Wissen, neue Kompetenzen, eine Sicherheit im Umgang mit anderen Menschen, mehr Selbstbewusstsein, Einfluss und Macht, Lebenserfahrung, andere Werteinstellungen, neue Zukunftsentwürfe und Sichtweisen auf sein vergangenes Leben u.v.a.m. bringen, sie können ihn insgesamt positiv verändern. Die Erfahrungen im Laufe des Lebens können Menschen aber natürlich auch negativ verändern, zu Unzufriedenheit, Stagnation, Resignation und Verzweiflung führen. Viele Menschen werden im Rückblick auf ihr bisheriges Erwachsenenleben bei einigem Nachdenken sagen können, worin sie sich verändert haben. Nur machen wir uns meist wenig Gedanken darüber. Ein ausgefülltes und nach vorne gerichtetes Leben bietet wenig Anlass und Gelegenheit zur Reflexion über das gelebte Leben. In Zeiten der Verunsicherung oder im Bewusstwerden des eigenen Alterns sieht das schnell anders aus. Zudem scheint gerade in Phasen eines schnellen gesellschaftlichen Wandels das Bedürfnis der Menschen zu wachsen, innezuhalten und über ihr Leben nachzudenken. Auch daher gehören Formen einer biographischen Selbstreflexion heute zu den Kursangeboten von Einrichtungen der Erwachsenenbildung.
Vielleicht ist die Unauffälligkeit der Entwicklungsprozesse von Erwachsenen ein Grund dafür, dass sich die Entwicklungspsychologie erst sehr spät mit dem Erwachsenenalter beschäftigt hat. Lange Zeit verstand man unter Entwicklung fast ausschließlich die Reifungs-, Wachstums- und Veränderungsprozesse von Kindern und Jugendlichen. Dann geriet allmählich das Alter in den Blickpunkt der Entwicklungspsychologie. Der zunehmende Anteil älterer Menschen in der demographischen Struktur unserer Bevölkerung und die damit verbundenen gesellschaftspolitischen und praktischen Herausforderungen waren für die rasche Herausbildung eines Teilgebietes der Gerontologie mit entscheidend. Hier untersuchte man die Dynamik psychischer Veränderungen im Alter und hatte viel Arbeit damit, den gängigen Vorurteilen über »natürliche« psychische Abbauprozesse im Alter durch wissenschaftliche Studien zu begegnen. Für das übrige Erwachsenenalter herrschte lange Zeit das Bild einer »fertigen Person« vor. Nach dieser Vorstellung entwickelt sich eine Person durch Reifungs- und Lernvorgänge in Kindheit und Jugend bis die Entwicklung mit Erreichen des Erwachsenenalters abgeschlossen ist; die erwachsene Person bleibt dann lange weitgehend stabil bis sie sich unter dem Einfluss biologischer Abbauprozesse im Alter allmählich psychisch und sozial zurückzieht. Diese Vorstellung vom Lebenslauf als einem »Auf und Ab« mit einer langen Periode relativer Konstanz um die Mitte des Lebens lässt sich heute nicht mehr aufrechterhalten. Seit dem Beginn der 1970er Jahre hat sich in der Entwicklungspsychologie immer mehr ein Modell der lebenslangen Entwicklung durchgesetzt. Dieses sieht Möglichkeiten für eine Veränderung der Person über den gesamten Lebenslauf und macht entsprechend auch die Entwicklung im Erwachsenenalter zum Gegenstand ihrer Forschungen.
Diese Einführung in die Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters macht den Versuch, das gesamte Erwachsenenleben in einer einheitlichen Systematik und im Zusammenhang zu beschreiben. Sie geht aus von den Prämissen, dass
• sich das Erwachsenenalter als längste Lebensphase sinnvoll abgrenzen und als Einheit verstehen lässt,
• sich im Erwachsenenalter eine Fülle von Phänomenen und Prozessen der psychischen Entwicklung beobachten lassen, die zu erklären wissenschaftlich interessant und relevant ist,
• die Entwicklungsprozesse von erwachsenen Menschen eine große gesellschaftspolitische und praktische Bedeutung haben, denn der rasche gesellschaftliche, ökonomische, technologische und soziale Wandel erfordert Menschen, die in der Lage sind, auch als Erwachsene ständig dazu zu lernen und sich weiterzuentwickeln.
Das Erwachsenenalter ist ein relativ junges Gebiet der Entwicklungspsychologie, für das bisher nur recht vorläufige Wissensbestände und Systematiken vorliegen und in dem noch viele Forschungslücken und uneingelösten Forschungsprogramme zu erkennen sind. »Wir sind heute noch nicht in der Lage, eine ›Entwicklungspsychologie des mittleren Erwachsenenalters‹ zu schreiben; wir können höchstens einige Ansätze aufzeigen, die dieses Gebiet anzugehen versuchen.« (Lehr, 1978, S. 148) Diese zurückhaltende Einschätzung einer führenden deutschen Entwicklungspsychologin vor mehr als drei Dekaden gilt in der Tendenz auch heute noch. Dennoch glaubten wir bereits bei der ersten Auflage 1992, den Versuch wagen zu können, wenn wir die vorliegenden Erkenntnisse (mit Anleihen auch aus anderen Teilgebieten der Psychologie) in einen systematischen Rahmen stellen und dabei gleichzeitig ihre Lücken kenntlich machen. Diese Einführung in das Erwachsenenalter wird daher auch heute noch teilweise mosaikartig sein und eine kritische Grundhaltung haben müssen. Wir sind aber überzeugt, dass genügend Material zu einer konsistenten Darstellung vorliegt und dass ein Blick auf das ganze Erwachsenenalter eine fruchtbare Perspektive bietet. Wir können zudem aus unseren eigenen Erfahrungen als Hochschullehrer einen großen Bedarf an deutschsprachigen Texten feststellen, die für die universitäre Lehre und für die psychologisch-pädagogische Praxis als Einführung in die Entwicklungspsychologie des Erwachsenenalters geeignet sind. Obwohl sich heute die Situation gebessert hat und neuere wissenschaftliche Werke zum Erwachsenenalter vorliegen (z. B. Filipp & Staudinger, 2005; Willis & Martin, 2005; Brandtstädter & Lindenberger, 2007), gilt diese Einschätzung immer noch. Nicht zuletzt hoffen wir, dass die Perspektive auf den gesamten Erwachsenenlebenslauf dazu beitragen kann, die Problemfelder des Erwachsenenlebens stärker im prozesshaften Zusammenhang und mit biographisch-langfristigem Blick zu sehen.
Die Einteilung des gesamten Lebenslaufes in Phasen oder Abschnitte ist nicht nur ein Problem für eine wissenschaftliche Disziplin wie die Entwicklungspsychologie, das uns im Weiteren noch beschäftigen wird. Sie ist auch als Produkt einer historisch-gesellschaftlichen Situation zu verstehen, ein Ausdruck des Denkens und der Wirklichkeit einer historischen Epoche und einer Gesellschaft. Wie beispielsweise Ariès (1975) gezeigt hat, sind unser heutiges Verständnis von der Kindheit und ihre Abgrenzung als Lebensabschnitt in der historischen Entwicklung erst spät entstanden und beileibe nicht für alle Gesellschaftsformen gültig. Gleichfalls ist die Abgrenzung des Erwachsenenalters als Lebensabschnitt, seine zeitliche Ausdehnung und Unterteilung historisch variabel und durch die gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse einer Epoche bedingt. In den meisten modernen Industriegesellschaften setzt man heute den Zeitpunkt der Volljährigkeit mit dem 18. Lebensjahr an und damit beginnt dann zumindest im rechtlichen Sinn das Erwachsenenleben. Aber es ist offensichtlich, dass...