Liebe als Passion und Liebe als Aufgabe – mit Anmerkungen zum platonisch-pädagogischen Eros
Klaus Prange
Der Ausdruck »Liebe« gehört zu den Großworten unserer Tradition. Er ist von einer eigentümlichen Aura umgeben, der Aura des Schicksalhaften und Selbstverständlichen. Er begegnet uns in der Poesie und im Drama, in der großen Oper, in Musicals und in Schlagern. Die Kulturindustrie ist gar nicht vorstellbar ohne das Thema »Liebe«; nicht auszudenken, wenn es dem Fernsehen verwehrt wäre, uns immer wieder Lust und Leiden der immer gleichen Liebesverhältnisse zu präsentieren. Und gleichermaßen bildet Liebe in der großen Kunst den Hintergrund für die großen Erzählungen, in der »Göttlichen Komödie« Dantes und im Nibelungenlied, in Shakespeares »Romeo und Julia« und in Goethes »Werther«, in den Ehebruchromanen des 19. Jahrhunderts bis herauf zu »Lady Chatterleys Lover« von D. H. Lawrence. Die tragisch Liebenden gehören zum geistig-seelischen Haushalt unseres kollektiven Bewusstseins. Liebe erscheint als Passion im Streit mit den Konventionen einer Gesellschaft, als ein Unruheherd und eine Gefährdung der gesellschaftlichen Normalität (vgl. Luhmann 1982).
Schließlich ist Liebe auch und vor allem das zentrale Thema der christlichen Religion, als Liebe Gottes, als Nächstenliebe und in absoluter Steigerung als Feindesliebe. Etwas gegen die christliche Liebe zu sagen, erscheint ruchlos und nachgerade gegenmenschlich. Und schließlich begegnet uns »Liebe« im Zusammenhang des griechisch-platonischen Erbes. Der platonische Eros, die geistige Liebe, gehört gleichfalls zum festen Bestand der gemeineuropäischen Überlieferung. Diese vorläufigen Hinweise sollen genügen, den Rahmen der folgenden Bemerkungen abzustecken. Auf der einen Seite die Liebe als Passion, auf der anderen die allgemeine Menschenliebe als Aufgabe und geradezu als Christenpflicht, und dazwischen die platonischgeistige Liebe.
Wenn in dieser Weise die Liebe zum festen Inventar unbestreitbarer Werte gehört, dann kann die Pädagogik nicht zurückstehen. Auch die pädagogische Semantik ist durchzogen von Proklamationen der Liebe. Beispielhaft sei unter den pädagogischen Autoren auf Pestalozzi hingewiesen, auf den sich ganze Generationen von Pädagogen immer wieder berufen haben (vgl. Seichter 2007). Dabei wird unter dem Titel der »Liebe« im erzieherischen Kontext durchaus Unterschiedliches gefasst. Es beginnt mit der Mutterliebe, geht weiter zur allgemeinen Eltern- und Geschwisterliebe und reicht bis zur Liebe der Erzieherinnen und Erzieher von Beruf im Kindergarten, in der Schule und selbst in der Hochschule, ferner der Liebe, von der die Seelsorge sich getragen weiß, und in der Tradition des christlichen Europa der Liebe, die wir jedem Menschen schulden, weil wir alle Kinder Gottes sind.
Das Thema Liebe wird noch komplizierter, wenn wir nicht nur an die Liebe zu anderen Menschen denken, sondern den erweiterten Wortgebrauch in Betracht ziehen. Wir sprechen ganz ungezwungen auch von der Liebe zur Musik oder zur schönen Literatur; als Pädagogen natürlich auch von der Liebe zur Pädagogik, die uns alle erfüllt und umtreibt, so dass wir schmerzlich getroffen zusammenzucken, wenn der Pädagogik von Fachfremden Seriosität und Kompetenz abgesprochen wird. Aber es gibt auch die Liebe zur Heimat, in früheren Zeiten ganz ungebrochen die Liebe zum Vaterland, so dass es aussieht, als könnte alles, was uns wert und wichtig ist, Gegenstand der Liebe werden.
Angesichts dieser vielen Verwendungen erscheint es mir sinnvoll, zunächst einmal davon auszugehen, dass die Liebe zwar, um eine Wendung Hegels aufzunehmen, durchaus bekannt, aber alles andere als erkannt ist. Die erste Aufgabe besteht daher darin, das Phänomen gewissermaßen freizulegen, um nicht zu sagen: es zu verfremden, bevor wir daran gehen können, seine pädagogische Dimension und Relevanz zu erörtern.
Die erste Adresse, nicht um zu lieben, sondern die Liebe begrifflich zu bestimmen, sind die Meisterdenker der Tradition. Aber da fällt auf, dass sich die Philosophen diesem Thema nur recht sporadisch gewidmet haben. Gewiss, da ist Plato, auf den ich gleich komme, aber ansonsten sind es andere Themen, die philosophisch im Mittelpunkt stehen: das Erkennen, das Denken, die ethischen Zielbestimmungen und dergleichen mehr. Viel reicheres Material liefern dagegen die Dichtung und überhaupt die Künste. Sie zeigen uns die Liebe als einen der Grundaffekte des Menschen und überhaupt den Menschen als affektbestimmt, ja geradezu umgetrieben und verzehrt bis zum Wahnsinn.
Das dürfte die erste Bestimmung sein, die es festzuhalten gilt. Wer liebt, wirklich liebt, ist hingerissen, existenziell betroffen oder, wie Herrmann Schmitz in seinem Buch über die Liebe bemerkt hat, »primär überwältigt« (Schmitz 1993). Wir entschließen uns in diesem Sinne nicht zur Liebe wie zu einem Ausflug in die Berge oder an das Meer oder dazu, endlich die Steuererklärung in Angriff zu nehmen, sondern sie meldet sich, fast wie eine Krankheit, die wir in der Regel ja auch nicht willentlich herbeiführen.
Die zweite Bestimmung ist: Liebe zählt im Haushalt der Gefühle zu den Richtungsgefühlen. Sie hat einen Adressaten, in formalem Sinne können wir auch sagen: sie hat ein Objekt, auf das sie gerichtet ist. Zunächst und zuerst auf andere Personen, ohne die zu leben man sich gar nicht mehr vorstellen kann. Liebe als Passion ist »Habenwollen« des Geliebten (Scheler 1948). Das male ich jetzt nicht weiter aus, weil ich eine allgemeine Kenntnis dieser Gegebenheit schlicht voraussetze.
Das Objekt der Liebe stellt einen Wert dar. Das ist jetzt eine weitergehende Bestimmung. In der älteren Tradition sprach man auch von einem Gut, einem bonum, das wir erreichen, verwirklichen oder schlicht haben wollen. Es geht hier um Wertverwirklichung, um es kühl und schnöde zu sagen. Wir wollen Werte realisieren. Man kann aber nun nicht einfach wollen und schon gar nicht, worauf Schopenhauer aufmerksam gemacht hat, noch das Wollen wollen, sondern immer nur etwas Bestimmtes wollen, positiv wie negativ, und dieses Gewollte ist, wiederum formal gesprochen, ein Gut oder wie es seit dem 19. Jahrhundert auch heißt: ein Wert. Gesundheit ist ein Wert, aber auch Ansehen und Ruhm, sportlicher Erfolg, ein gesichertes Einkommen oder lieber gleich ein Lottogewinn.
Mit Werten sind hier zunächst noch keineswegs und vorrangig moralische Werte gemeint. Man wird nicht sagen wollen, dass es moralisch geboten ist, gesund oder reich oder berühmt zu sein. Es wäre ziemlich sinnlos, jemandem vorzuwerfen, nicht gesund zu sein; bestenfalls ist es vertretbar, jemandem den Rat zu geben, mehr auf die Gesundheit zu achten, statt zu rauchen oder als Jogger maßlos durch die Gegend zu laufen.
Ich fasse diese drei Bestimmungen vorläufig zusammen: Liebe ist ein Geschehen, das uns ergreift, etwas, das uns affiziert und selber nicht gemacht ist, eine Passion, um das Titelwort dieser Bemerkungen aufzunehmen; es ist zweitens gerichteter Affekt, der sich drittens auf etwas bezieht, das eben dadurch, dass wir etwas wollen, zu einem Wert für uns wird.
Diese Bestimmungen bewegen sich noch nahe an unserem alltäglichen Verständnis der Liebe. Sie bedarf eigentlich dabei noch gar keiner weiteren Rechtfertigung. Sie erscheint als natürliche Gegebenheit und zeigt sich auf vielfache Weise. Sie geht in unsere Beziehungen zu anderen Menschen ein, auch in den Spezialfall der erzieherischen Beziehung. Nicht allein in der radikalen Form der Liebe, sondern auch abgemildert als Zuneigung oder in der Sprache der Psychologen als Zuwendung und Empathie, in der herkömmlichen Sprache der Theoriebildung als Sympathie. Der Umgang mit anderen ist in der Weise affektbestimmt, dass wir jemanden mögen, dass die Chemie stimmt, oder dass wir andere Personen eben gerade nicht mögen und ihnen aus dem Wege gehen oder sie mit der distanzierten Höflichkeit traktieren, die näheren Kontakt vermeidet. Das Erziehen hat, anders gewendet, wie alles Verhalten eine Affektseite. Und in der Regel bedarf es dazu keiner besonderen Rechtfertigung.
Das scheint zuerst und nachdrücklich für die Mutterliebe und die Elternliebe zuzutreffen. Dass sie ihre Kinder lieben, gehört zur allgemeinen Erwartung, und wir sehen es als monströs an, wenn Eltern und hier wieder vorneweg die Mütter ihre Kinder nicht lieben, wenn sie sie vernachlässigen, der Verwahrlosung preisgeben oder sie womöglich töten. Was sich hier einmischt, ist eine moralische Beurteilung. Einerseits ist der Affekt Natur und natürliche Gegebenheit, aber andererseits etwas, das wir aktiv auch zeigen sollten. Nicht nur bezieht sich der Affekt auf etwas, sondern ist selber als ein Wert zu betrachten und jetzt als ein moralischer Wert. Arnold Gehlen hat hier von »physiologischen Tugenden« gesprochen (Gehlen 1969), sozusagen die naturgegebene Einstellung, die wir im Übrigen schon bei vielen Tieren antreffen, wenn sie ihre Brut gegen Feinde verteidigen. Diese Elternliebe ist keine Vorschrift, sondern etwas Vorfindliches, und wo sie fehlt, haben wir...