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Piercing in Deutschland. Eine historisch-analytische Betrachtung

AutorAnne Schinke
VerlagGRIN Verlag
Erscheinungsjahr2007
Seitenanzahl110 Seiten
ISBN9783638624114
FormatPDF/ePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis31,99 EUR
Diplomarbeit aus dem Jahr 2007 im Fachbereich Pädagogik - Allgemein, Note: 2, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main, 106 Quellen im Literaturverzeichnis, Sprache: Deutsch, Abstract: Piercing ist in Deutschland hoch aktuell und wird zunehmend zu einem Gegenstand auch der öffentlichen Wahrnehmung. Dies lässt sich an der Zunahme von Berichten in den Medien, an Ausstellungen zum Thema, ergänzenden Vorträgen usw. erkennen. Immer mehr Jugendliche und auch Erwachsene tragen diesen besonderen Körperschmuck. Schon lange ist Piercing kein sicherer Hinweis auf Punks oder 'Unterschichtgruppen' mehr. Selbst bei der Verkäuferin an der Kasse funkelt nicht selten ein kleines Steinchen an der Oberlippe. Wer sich jedoch für das Phänomen interessiert und sich damit eingehender auseinandersetzen will, findet recht wenig Literatur. Piercing befindet sich, wie der kleine vernachlässigte Bruder, scheinbar im Schatten des Tattoos und wird in der Regel zumeist nebenbei abgehandelt. Volle Aufmerksamkeit erhielt das Piercing erst jetzt: im Rahmen der Gesundheitsreform. Das Buch der Autorin stellt die historische Entwicklung des Piercings in Deutschland seit Beginn des 20. Jahrhunderts und seinen Weg von der Subkultur zum Modeartikel vor. Warum wurde Piercing so populär? Und in welchen Subkulturen ist es besonders häufig anzutreffen? Es eröffnet interessante Einblicke insbesondere in die sozialpsychologischen und pathologischen Aspekte des Piercings und setzt sich intensiv mit dem Bereich der nonverbalen Kommunikation auseinander, z.B. unter dem Gesichtspunkt der Inszenierung des Körpers durch Piercing, Selbstdarstellung, Körperzeichen usw. Ein besonderer Schwerpunkt liegt auf den pathologischen Aspekten des Piercings bei Menschen mit einer akuten Borderline-Persönlichkeitsstörung und daraus resultierendem selbstverletzenden Verhalten. Denn leider ist dieses Thema heute aktueller und brisanter denn je. Und auch wenn es kaum ein Gepiercter gerne zugibt, ein Piercing kann Ausdruck einer psychischen Störung sein, was aber auf keinen Fall bedeuten soll, dass dies immer der Fall wäre! Anhängern des Piercens ermöglicht die Lektüre eine neue Sichtweise auf die eigene Motivationsstruktur: Fand man wirklich nur den Schmuck schön? Ist das alles, oder steckt vielleicht noch mehr dahinter? Besorgte Eltern bekommen Antworten auf die Frage, warum ihre Kinder 'sich so etwas antun'. Angesprochen werden daher alle, die heute im weitesten Sinne im pädagogischen Bereich mit Jugendlichen zu tun haben. Kein einfaches, aber ein lohnendes Buch für alle, die zum Thema Piercing sich und andere besser verstehen möchten.

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Leseprobe

Einleitung

 

In meiner Arbeit konzentriere ich mich auf die sozialpsychologischen und auf die pathologischen Aspekte des Piercing.

 

Zunächst definiere ich Piercing genauer und erläutere dabei besonders praktische wie medizinische Gesichtspunkte. Dies soll sachlich an das Thema Piercing heranführen und dem Leser, der sich noch nicht mit diesem Körperschmuck beschäftigt hat, einen kleinen Einblick in die Materie ermöglichen.

 

Danach zeichne ich die historische Entwicklung innerhalb der westlichen Industrienationen seit Beginn des 20. Jahrhunderts nach. In diesem Rahmen gehe ich auf die wichtigsten Subkulturen ein, deren Identität vom Piercing geprägt ist und erläutere im Anschluss, wie es dem Piercing gelang, eine breite Öffentlichkeit zu erreichen und zur Mode zu werden. Auf den Bereich Piercing in fremden Kulturen gehe ich nicht weiter ein, da dies für die Verhältnisse in Deutschland keine Relevanz besitzt.

 

Im zweiten Teil meiner Arbeit beschäftige ich mich dann mit Piercing als Medium der nonverbalen Kommunikation. Ich habe mich dazu entschieden, diesen sozialpsychologischen Aspekt des Piercing näher zu betrachten, da ich nach meiner Literaturrecherche den Eindruck hatte, diese Dimension werde zu wenig beachtet. Ich kläre hier zunächst, welche soziale Funktion das Piercing hat. Dann gehe ich der Frage nach, wie der Körper durch Piercing inszeniert wird und was die Authentizität dieser Form des Schmucks ausmacht.

 

Im dritten Teil geht es um pathologische Aspekte des Piercing.

 

Aglaja Stirn kritisiert zu recht, dass vielfach ein gänzlich unreflektierter Zusammenhang zwischen Selbstverstümmelung und Piercing hergestellt wird (vgl. Stirn 2003, S. 28).

 

Gerade deshalb konzentriere ich mich auf die Borderline-Persönlichkeitsstörung. Ich werde das Piercing hier zwar auch unter dem Aspekt der Selbstverletzung betrachten, aber erweiternd seine prothetische Funktion erläutern: Da die Verletzung sich oberflächlich  auf der menschlichen Haut  zuträgt, werde ich in diesem Rahmen die Haut, deren Bedeutung m.E. stark vernachlässigt wird, ihre Funktion und die Theorie des Haut-Ich nach Anzieu genauer beleuchten.

 

Die Themen Piercing und narzisstische Persönlichkeitsstörung oder Neurose bzw. Sucht behandele ich eher sekundär, da sie in Bezug auf Piercing weniger Relevanz besitzen. Ich beschäftige mich in diesem Abschnitt meiner Arbeit auch nicht mit Therapieformen, da diese nicht Thema meiner Arbeit sind.

 

Zum Abschluss werde ich die wichtigsten Erkenntnisse meiner Arbeit zusammenfassen und einen Ausblick auf mögliche zukünftige Entwicklungen liefern.

 

Gegenstand meiner Betrachtung ist das Piercing in Deutschland. Daher stützt sich meine Arbeit auch nahezu ausschließlich auf deutsche Literatur und nicht auf die internationale Forschung.

 

Zu den wichtigsten Vertretern im Bereich der Forschung zum Thema Piercing in Deutschland gehört sicherlich Frau Priv. Doz. Dr. med. Aglaja Stirn, Jg. 1962, und Fachärztin für psychosomatische Medizin und Psychotherapie, Psycho und Gruppenanalytikerin. Als Oberärztin leitet sie die Klinik für psychosomatische Medizin und Psychotherapie am Klinikum der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt am Main.

 

Frau Stirn befasst sich bevorzugt mit psychologischen und anthropologischen Aspekten des Piercing. Dies wird an einer Auswahl ihrer Arbeiten deutlich:

 

„Körpermagie, Körpernarzissmus und der Wunsch, Zeichen zu setzen: Eine Psychologie von Tattoo und Piercing“( In: Hirsch, Mathias (Hrsg.) Der eigene Körper als Symbol. Der Körper in der Psychoanalyse von heute. Gießen: Psychosozial-Verlag 2002, S. 199 222.)

 

„´Nur tätowierte und gepiercte Menschen dürfen heiraten´ Eine Kulturgeschichte der Körpermodifikation“ (In: Körpermodifikation und Selbstverletzung. Hofgeismarer Vortrage, Band 24/2004, S. 3 19.)

 

„Körperkunst und Körpermodifikation Interkulturelle Zusammenhänge eines weltweiten Phänomens“ (In: Paediatrica, (2003) Vol. 14 No. 4, S. 28 32.)

 

„Vom Initiationsritus zu geschmückten Haut. Tätowierung im Spiegel von Stammestradition und neuem Kunstverständnis“ (In: Psychother Soz, (2001) 3/ 4, S. 283 304.)

 

„Piercing Psychosoziale Perspektive eines gesellschaftlichen Phänomens“(In: Psychosozial, (2003) 94, S. 7 12.)

 

„Trauma und Tattoo Piercing, Tätowieren und verwandte Formen der Körpermodifikation zwischen Selbstfürsorge und Selbstzerstörung traumatisierter Individuen“ (In: Psychotraumatologie, (2002) 2(3), S. 52.)

 

„´Meine Seele brennt in meiner Haut´ Kunstvolles Tätowieren und Piercing als selbstheilende Handlung traumatisierter Menschen“ (In: Psychother Psychosom med Psychol, (2002) 52, S. 119 120.)

 

„The Hidden World of the Naga“ (New York: Prestel 2003.)

 

Ein weiterer Autor, der sich u.a. im Blick auf medizinische und psychologische Aspekte mit dem Piercing beschäftigt, ist PD Dr. Erich Kasten[3], tätig am Universitätsklinikum in Magdeburg. Sein bedeutendes Buch „Body-Modifikation“ erschien dieses Jahr.

 

Beide Vertreter haben sicherlich eine zentrale Bedeutung, wenn es um Forschung über Piercing in Deutschland geht, abgesehen von zahlreichen populär argumentierenden Autoren, die jedoch nachrangig sind. Aglaja Stirn selbst bemängelt, dass Literatur, die sich mit psychologischen und sozialen Aspekten von Körpermodifikationen in der westlichen Gesellschaft beschäftige, eher spärlich gesät sei (vgl. Stirn 2003, S. 28).

 

Auch unter feministischen Aspekten scheint nach meinen Erkenntnissen kein sehr ausgeprägtes Interesse an dem Thema Piercing zu bestehen. Die Aufmerksamkeit richtet sich hier eher auf den Körper, den Kult um diesen und die Ansprüche, die die Gesellschaft an den weiblichen „Body“ stellt, Stichwort Schönheitschirurgie, Diäten, Fitness usw. .

 

Noch nicht hinreichend beleuchtet sind in Deutschland die soziologischen Aspekte des Piericing. Ich konzentriere mich daher auf keine bestimmte Gruppe, keine soziale Schicht, keine Altersklasse usw. Ich liefere auch kein Profil eines „typischen Gepiercten“. Die Erklärung für mein Vorgehen ist recht einfach: In Deutschland gibt es bisher kein gesichertes Datenmaterial über das Piercing im allgemeinen. Die Zeitschrift „Bild der Wissenschaft“ schätzt die Zahl der Gepiercten und Tätowierten zwar auf rund zwei Millionen (vgl. Stirn 2002; S. 223). Da viele Piercings jedoch nicht von einem professionellen Piercer, sondern häufig von Bekannten, Freunden oder vom Träger selbst angebracht werden, ist die genaue Zahl an Gepiercten nicht bekannt, ebenso wenig das „Klientel“.

 

Aglaja Stirn gibt zwar an, die Rate der Gepiercten in Deutschland liege bei etwa sieben Prozent. Die Höchstrate an gepiercten Frauen finde sich zwischen dem 15. und 24. Lebensjahr. Sie betrage 38 Prozent. Das erste Piercing bei Männern sei das Ohr, gefolgt von der Brustwarze. Bei der Frau stehe an erster Stelle der Bauchnabel (vgl. Stirn 2004, S. 14), wenn man den Ohrring außer Acht lasse. Mit diesen Angaben sollte man aufgrund der Dunkelziffer aber eher vorsichtig umgehen.

 

Deshalb konnte ich auch auf keine geschlechterspezifischen Aspekte eingehen, weil hierzu verlässliche Angaben gleichfalls nicht vorliegen. Nur im Zusammenhang mit Tattoos wird von spezifischen Motiven und Körperstellen gesprochen, nicht aber beim Piercing.

 

Man kann sich zwar denken, dass ein Bauchnabelpiercing vor allem von Frauen getragen wird. Spekulationen sind jedoch keine Basis für eine wissenschaftliche Arbeit.

 

Unbestritten ist sicherlich, dass Piercing ein soziologisch und pädagogisch relevantes Jugendphänomen und ein auffälliger Bestandteil der Kultur von Jugendlichen geworden ist. Piercing kann heute nicht mehr als gesellschaftliche Randerscheinung abgetan werden, auch wenn derzeit noch mehr junge Mädchen denn junge Männer als Träger von Piercings vertreten sind. Auf jeden Fall werden sich Pädagogen, seien es Lehrer oder Sozialarbeiter, verstärkt mit dem Thema auseinandersetzen und die hierfür erforderliche Kompetenz erwerben müssen. Ich behandele die allgemeinen und pathologischen Erscheinungsformen des Piercings, weil es vom Stand der Forschung her zu früh ist, nur pädagogische Aspekte zu behandeln. Jugendkultur, Verunsicherung, Identitätsprobleme, Körperinszenierung  all das sind Fassetten eines Problems, mit dem sich die Pädagogik befasst. Erzieher die handlungsrelevant tätig werden wollen, müssen zunächst verstehen, was bei und in Jugendlichen vorgeht. Zu diesem besseren Verständnis will die vorliegende Arbeit einen kleinen Beitrag leisten.

 

Alles in allem ist mir bei meinen Recherchen aufgefallen, dass das Piercing im Schatten des Tattoos steht und dort gleichsam unterzugehen droht, denn die wissenschaftlichen Werke über Tattoos sind bereits deutlich zahlreicher, und wenn sich Autoren mit dem Thema „Tattoo und Piercing“ beschäftigen, steht in den meisten Fällen das Tattoo im Mittelpunkt, während das Piercing nur am Rande erwähnt wird.

 

In meiner...

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