Tag 1 11.06. Freitag
Oslo-Skedsmo-Frogner(Kirche)-Arteid Gård
Der Tag geht schon gut los. Bald nachdem ich Valeries Wohnung verlasse, komme ich zu den ersten gelben Pfeilen. Jetzt bin also auf meinem Weg; dem Olavsweg, der mich nach etwa sechshundertfünfzig Kilometern in Nidaros vor den berühmten Dom führen soll. Ich halte weiter nach den Pfeilen Ausschau, folge ihnen und gelange zu einer Schule, umrunde sie – und sehe an eine Schrift auf dem Boden. Ich bin irritiert. Obwohl in Norwegisch, verstehe ich sie als „Start-Ziel“. Ich bin den gelben Markierungen einer Schullaufstrecke gefolgt. - Also gehe ich wieder zurück und richtig, nach etwa sechshundert Metern komme ich an eine Wegkreuzung. Hier tauchen plötzlich diese gelben, aber mit einem anderen Pinsel gemalten Pfeile auf. So leicht gehe ich also in die Irre, so leicht lasse ich mich vom „richtigen“ Weg ablenken. Das habe ich so nicht von mir gedacht.
Im weiteren Verlauf finde ich dann jeweils rechtzeitig eine gelbe Markierung und verlasse so zügig die Stadt am östlichen Rand und gelange bei Stovner in ein Waldgebiet, das sich den Berg hinauf zieht.
Schon kurz nach dem Start hatte es leicht zu regnen begonnen, ich wollte aber nicht so schnell nachgeben und meinen Regenponcho überziehen. Als es im Wald dann in einen Dauerregen übergeht, muss ich einlenken. Ich gehe jetzt also als roter „Zwerg“ durch den Wald, immer bergauf, wahrlich über Stock und Stein. Es ist nass und rutschig. Zum Glück laufe ich mit meinen Wanderstöcken, so kann ich gut mein Gewicht und meinen Körper abfangen, meist schon bevor ich richtig ins Rutschen komme.
Niemand begegnet mir hier oben, selbst so nahe der Stadt bin ich schon allein. Es ist mir nicht unangenehm, nein, ich freue mich über die Ruhe, die Stille des Waldes, von Ferne höre ich zwar noch die Geräusche der Stadt, aber nur mehr sehr gedämpft. Eine erste Vorstellung von dem, was auf mich zukommt, schießt mir durch den Kopf.
Inzwischen laufe ich seit fast zwei Stunden durch den Wald. Erst ziemlich steil bergauf, dann kommt natürlich der Abstieg, ebenso steil bergab und wieder rutschig. Schließlich komme ich zurück auf normale Waldwege. Unter meinem Poncho „koche“ ich. Zwar gehe ich ein sehr ruhiges Tempo, aber trotzdem entsteht viel Wärme im Körper. Sie wird wegen des Regenponchos, obwohl er atmungsaktiv sein soll, nicht schnell genug abgeführt.
Weiterlaufen. Bei Lahaugmoen verlasse ich schließlich den Wald und folge einer kleinen Straße. Bei Hellerud folge ich den Markierungen entlang der Hauptstraße, biege also nicht sofort nach Norden ab in Richtung Ramstad, sondern überquere die E6 und biege erst dann ab. Bei Jogstad habe ich dann wohl eine Abzweigung übersehen. Dieser Fehler wird mir leider erst klar, als ich den Ortsanfang von Korsfjellet erreiche und mich damit an einer anderen Stelle der Karte wiederfinde als erwartet. Na toll, das geht ja gut los. Leise Zweifel an meinen Fähigkeiten nagen im Hinterkopf.
Inzwischen habe ich Hunger, aber es gibt keine Rastmöglichkeit, geschweige denn ein Café, wie ich es von Spanien gewohnt war. Schließlich lasse ich mich in einer Bushaltestelle nieder und esse eine Scheibe Brot. Danach schließe ich für einen Moment die Augen. Der Weg hierauf war eine einzige lange Steigung, ich bin müde. Was habe ich vor, was mute ich mir zu, warum das? Späte Pfadfinderträume? Vielleicht finde ich ja auch darauf Antworten.
Als ich nach einer dreiviertel Stunde weitergehe, stehe ich wenige Minuten später am Beginn einer Siedlung und vor einer Bäckerei mit Kaffeeausschank. „Schade,“ geht es mir durch den Kopf, „dass ich das nicht vorher bemerkt habe.“ Nach kurzer Überlegung gehe ich trotzdem hinein und mache erneut eine Pause, jetzt mit heißem Kaffee und Brötchen.
Noch immer ist kein Pfeil oder Pfahl zu sehen. Dank meiner Karte kann ich mich im Moment zwar auch ohne Markierungspfähle des Olavsweges zurechtfinden, aber da ich ohne die Karten offensichtlich nicht auskommen werde, will ich die 12 fehlenden Karten bis Hamar in einem Internetcafé ausdrucken lassen. (Ich hatte meine Planung erst in Oslo, nach Gesprächen mit Eivind Luthen, vom Westweg auf den ursprünglicheren Pilgerweg, den Ostweg umgestellt. Luthen hatte mir erzählt, dieses sei vielleicht nicht der schönere, aber der authentischere Weg. Die zugehörigen Karten konnte ich wegen eines Druckerproblems aber nicht mehr ausdrucken lassen.) Inzwischen wird mir allerdings klar, dass es hier auf dem Land schwierig werden wird, solch ein Internetcafé zum Ausdrucken der fehlenden Karten zu finden. In einem großen Malerfachgeschäft bei einem Einkaufszentrum erkundige ich mich nach solch einer Möglichkeit. Statt eine Zielbeschreibung zu geben, fragt mich der junge Mann an der Kasse: „Von welcher Internetseite möchten Sie die Karten denn herunterladen?“ Kurzentschlossen gibt er meine Angaben im Kassenterminal ein und ruft diese Seite auf. Und er druckt mir nacheinander alle zwölf Karten aus und will noch nicht einmal Geld annehmen. Ich bin überrascht und dankbar. (Dass die Auflösung nicht so gut ist wie bei meinem ersten Druck, merke ich erst später. Aber so verfüge ich wenigsten wieder über Kartenmaterial)
So abgesichert mache ich mich wieder auf den Weg. Noch immer regnet es. Nachdem ich erneut die Autobahn unterquert habe, finde ich endlich die Markierungen wieder. Mir wäre es am liebsten, ich fände sie rechtzeitig und müsste die Karte nur zur Absicherung und allgemeinen Orientierung benutzen. Für genaueres Orientieren ist der Maßstab nämlich zu groß. Aber die Realität unterwegs ist eine andere. Ich finde nicht immer die Markierung: entweder weil ich sie übersehe oder weil sie verschwunden ist, vielleicht auch nie existiert hat. So werde ich die Karten wohl auf dem ganzen Weg für die genaue Orientierung nutzen müssen.
Der markierte Weg biegt links als Feldweg von der Straße ab, es wird ruhiger. Erst nach einigen Kilometern komme ich bei Ullreng wieder an eine befahrenere Straße und muss nach Norden abbiegen.
Nach einigen Kilometern zeigt die Markierung, ohne auf einen wirklich erkennbaren Weg zu deuten, nach links - direkt auf einen Acker. Ich vermute, ich soll am Rande des Ackers laufen - durch das hohe, nasse Gras. Nicht sehr verlockend. Dann erkenne ich zum Glück den Grund für diesen besonderen Weg - in der Ferne kann ich Frogner Kirke sehen.
1918 brannte die alte romanische Kirche aus dem 12. Jahrhundert ab. 1936 wurden die Mauern, 1948 Dach und Boden und 1977 die Inneneinrichtung wiederhergestellt. Auf einigen Grabsteinen ist das Symbol der Jakobspilger, die Muschel, zu finden.
Die gegenwärtige Frogner nye kirke („neue“ Kirche) wurde 1925 fertiggestellt. Die alte Kirche steht auf einer Anhöhe schräg gegenüber der Frogner nye kirke, beide stehen etwas außerhalb des Dorfes.
Durch das kleine Dorf Frogner führt der Weg dann wieder zurück zur recht stark befahrenen Landstraße. In Wahrheit ist dieses Stück Straße eine einzige, lange Baustelle: es wird ein Rad- und Fußweg gebaut. Von der Absperrung lasse ich mich nicht abhalten und benutze ihn schon jetzt. So muss ich nicht mehr ständig auf Autos achten.
Kurz hinter Lindeberg geht es endlich ab von der Straße ins Grüne. Über einen kleinen Feldweg erreiche ich ein Waldgebiet. Dieser Weg soll der St. Olavspfad sein, den die frühen Pilger benutzten, um von Frogner zur Kirche von Ullensaker zu gelangen. Es ist wieder eine ähnliche Strecke wie am Morgen. Steinig, rutschig, ansteigend. Und es regnet wieder - alles in allem nicht gemütlich. Ich merke allmählich auch, dass ich schon über 30 km gelaufen bin. Und das am ersten Tag. Arteid Gård, wo es eine Herberge geben soll, liegt leider erst hinter diesem Waldgebiet. Kurz frage ich mich, ob sich nicht irgendwo am Weg ein Schuppen oder eine offene Hütte anböte. Im Moment würde ich selbst solch eine provisorische Unterkunft für die Nacht akzeptieren, aber es ergibt sich keine Gelegenheit. Also weitergehen.
Schließlich endet aber auch dieser Passage - an einem Waldrand. Und vor mir liegt eine große Wiese. Auf der anderen Seite sehe ich einen geschotterter Weg. Also folge ich dem Trampelpfad durch die Wiese und gehe den Berg hinauf zu einem links sichtbaren Bauernhof. Beim Näherkommen wird der Bauernhof zm Gutshof, so groß ist die ganze Anlage.
Es ist schon dämmrig, als ich am Wohnhaus klingle. Ich muss wohl verwegen aussehen. Nass, dreckig, verschwitzt, mit Regenponcho - eben ein roter Zwerg. Innerlich bin ich unsicher, halte eine Ablehnung meines Aussehens wegen für möglich. Die Reaktion des Mannes, der die Tür öffnete, tut mir dann richtig gut. Er freut sich und ruft: „Oh, ein Pilger. Herzlich Willkommen.“ Freundlich beschreibt er mir, in welchem der Gebäude ich die Herberge und die Toiletten finde und bietet mir an, nach dem Auspacken könne ich gern zu seinem Wohnhaus kommen und duschen. Diese Gelegenheit lasse ich mir natürlich nicht entgehen. Ausgestattet mit einem kühlen Bier meines Gastgebers, komme ich nach dem Duschen zurück in...