EINLEITUNG
„Mir ekelt vor diesem tintenklecksenden Säkulum, wenn ich in meinem Plutarch lese von großen Menschen.“
Dieser berühmte Ausruf des Karl Moor in Schillers Drama „Die Räuber“ zeigt uns, zu welch großer Bekanntheit der griechische Schriftsteller Plutarch es von seiner Wiederentdeckung im 15. Jahrhundert bis zu Schillers Zeiten gebracht hatte. Auch heute noch ist sein Ruhm als Biograf nicht vergessen.
Aber Schiller spricht hier nur den Teil der Schriftstellerei Plutarchs an, der uns mit seinen „Parallelbiografien“ berühmter Griechen und Römer überliefert ist.
Es gibt jedoch neben dem Biografen auch den philosophischen und populärwissenschaftlichen Schriftsteller Plutarch, den Verfasser der „Moralia“. In diesen unter Plutarchs Namen überlieferten 78 Abhandlungen - von denen 67 als echt gelten - werden außer ethischen und politischen auch naturwissenschaftliche, literarische und kulturhistorische Themen in Form von Dialogen, Vorträgen oder Brieftraktaten unterhaltsam behandelt. Trotzdem bekamen alle diese Schriften die nicht ganz zutreffende Bezeichnung „Moralische Schriften“ oder kurz „Moralia“.
Zuerst waren es sogar diese „moralischen Schriften“, die auf die Humanisten, z.B. auf Erasmus von Rotterdam und G. Budaeus - seine ersten Übersetzer ins Lateinische - den größeren Eindruck machten. Aber bis ins 18. Jahrhundert, in dem die Parallelbiographien auf das größere Interesse stießen, blieben sie doch immerfort beliebt und wirkten anregend auf viele Denker, Dichter und Künstler. Einen Montaigne z. B. hatten sie bald nach ihrem Erscheinen in der französischen Übersetzung von J. Amyot zum Erschaffen seiner Essays inspiriert, und noch einem Goethe entlockten die kleinen Schriften Plutarchs in einem Brief an F. A. Wolf, der ihm seinen Plutarch ausgeliehen hatte, folgendes Lob: „Sie unterhielten uns mehrere Wochen fast ganz allein, und ich habe mich so darein verliebt, dass Sie diese Übersetzung wohl schwerlich wiedersehen werden.“
Die hier vorgelegte Schrift erörtert Politisches. Die „Politika Parangelmata“ sind nichts Anderes als „politische Ratschläge“, die Plutarch einem jungen Mann erteilt, der sich der Politik widmen möchte. Zu diesem Thema konnte Plutarch nun nicht nur vermöge seiner immensen Belesenheit mit politischen Lehren und den dazu passenden historischen und literarischen Beispielen aufwarten. Er konnte auch aus eigenen praktischen politischen und diplomatischen Erfahrungen schöpfen. Er war zudem ein Schriftsteller, der nach allem, was wir über seinen Lebenslauf wissen, seine Anschauungen, Ratschläge und wohl alles, was er publizierte, nicht nur im stillen Kämmerlein, sondern stets auch im lebendigen philosophischen Gespräch mit Mitbürgern, Freunden und Besuchern aus aller Welt entwickelt und geprüft hat.
Plutarch wurde um das Jahr 45 n. Chr., also zur Zeit des Kaisers Claudius, geboren und starb bald nach 120 n. Chr. in der Regierungszeit des Kaisers Hadrian. Er erlebte somit eine Zeit, in der das Römerreich nicht nur seine größte territoriale Ausdehnung, sondern auch eine außerordentliche kulturelle Blüte erlangte, und in der gerade auch die griechischen Provinzen bewusste kaiserliche Förderung und kulturelle Anerkennung erfuhren. Plutarch wurde einer der produktivsten und einflussreichsten griechischen Autoren der späten und ausgehenden Antike. Im byzantinischen Reich wurden seine Werke weiterhin geschätzt und tradiert.
Als Sprössling einer alteingesessenen Grundbesitzerfamilie in der kleinen böotischen Stadt Chaironeia, die seit 200 Jahren zur römischen Provinz Achaia gehörte, wuchs Plutarch mit seinen Brüdern Lamprias und Timon auf und genoss ein intensives und geistig anregendes Familienleben. Er selber berichtet, dass ihn besonders der Großvater Lamprias durch die Vielseitigkeit seiner Interessen, durch Geisteskraft, Humor und Trinkfestigkeit beeindruckt habe, Eigenschaften, die ihn zum geachteten Mittelpunkt eines Kreises aus Verwandten, Freunden und Mitbürgern machten. Der Vater Aristoboulos war dagegen etwas zurückhaltender, aber ein philosophisch hoch gebildeter Mann. Er schickte seine Söhne zur Ausbildung ins nahe Athen, das ja nach wie vor mit seinen wichtigsten vier Philosophenschulen - die Akademie, der Peripatos, die Stoa und die Gärten des Epikur - Studenten und bildungsbeflissene Erwachsene aus dem ganzen Reich anlockte. Plutarchs Studien galten der Mathematik, der Rhetorik und der Medizin, vor allem aber der Philosophie.
Für sein ganzes Leben bestimmend wird seine Begegnung mit Ammonios, dem Leiter der Akademie, der ihn für Platons Philosophie gewinnt. Dieser bleibt er sein Leben lang treu, wenn er auch hier und da Erkenntnisse der Stoiker und Epikureer, die ihm gut und richtig erscheinen, übernimmt. Wo es jedoch um letzte Fragen und Rätsel geht, hält er im Wesentlichen an Platons Vorstellungen fest.
Nach den Studien bereiste Plutarch Griechenland, Kleinasien, Ägypten und das Zentrum des Imperium Romanum, Italien und Rom, das er noch öfter im Leben aufsuchen sollte. Dort hielt er Vorträge und fand Kontakt zu Konsularen wie Sosius Senecio, Minucius Fundanus und Mestrius Florus. Dieser, ein Vertrauter des Kaisers Vespasian, verhalf ihm auch zum Erwerb des römischen Bürgerrechts. Seit jeher brachten ja die gebildeten Kreise Roms der griechischen Kultur und ihren Vertretern großes Interesse entgegen. Griechisch war schon seit langem die Sprache der gebildeten Römer. Griechische Gelehrte konnten ihre Vorträge in Griechisch halten. So erklärt es sich wohl auch, dass Plutarch seinerseits die lateinische Sprache, wie er selber bekennt, erst im Alter und nur, soweit es für die Studien zu den Biographien der großen Römer nötig war, zu beherrschen lernte. Plutarch blieb mit den Freunden und Bekannten in Rom sein Leben lang in engem Kontakt, gelegentlich vielleicht auch in politischer Mission seiner Heimatstadt Chaironeia. Einem dieser alten römischen Freunde, Sosius Senecio, der ein Vertrauter Kaiser Trajans war, widmete er schließlich seine Biographien.
Obwohl Plutarch in Rom mit seinen philosophischen Vorlesungen erfolgreich war und die Unterstützung einflussreicher Freunde genießen konnte, ihm also die große Welt offenstand, kehrte er nach Chaironeia zurück, heiratete und machte seine Heimatstadt zu seinem Lebensmittelpunkt, „um die kleine Stadt durch meinen Weggang nicht noch kleiner zu machen“, wie er in der Biographie des Demosthenes, vielleicht mit Bezug auf sich, den Ausspruch eines anderen zitiert. Er verwaltete sein Haus und Landgut, wirkte in der Politik seiner Heimatstadt mit, z.B. als Leiter des Bauwesens oder als Archon eponymos, und versah in seinen letzten Lebensjahren im benachbarten Delphi das hoch verehrte Amt des Apollonpriesters am Orakel. Eine glückliche mit fünf Kindern gesegnete Ehe und ein inniges Familienleben führte er mit Timoxena. Dass die Ehe für ihn auch geistig-seelisches Zusammenleben mit der Ehefrau bedeutete, bezeugt uns seine „Trostschrift an Timoxena“, die er anlässlich der gemeinsamen Trauer um ihr früh verstorbenes geliebtes Kind verfasste.
In Chaironeia scharten sich um Plutarch bald viele junge Leute, denen er wie seinen eigenen Söhnen zum Lehrer und Erzieher wird. Außerdem finden in seinem gastfreien Hause interessierte Mitbürger, Freunde und auswärtige Besucher Geselligkeit, anregende Gespräche, belehrende Vorträge und philosophische Diskussionen, gleichsam eine „Akademie“ im Kleinen. In seinen „Tischgesprächen“, wie auch in anderen moralischen Schriften, führt Plutarch uns solche Gesprächsrunden vor Augen und vermittelt uns eine Vorstellung davon, wie und in welchem Maße geistiger Austausch unter Bürgern einer kleinen Polis vor sich gehen konnte. Im kleinen böotischen Chaironeia jedenfalls gab es ein reges geistiges Leben: noch Jahre nach Plutarchs Tod existierte seine „Akademie“ weiterhin.
Der Darlegung seiner politischen Lehren gibt Plutarch die literarische Form eines offenen Briefes. Er richtet ihn an Menemachos, einen jungen Freund aus einer reichen angesehenen Familie in Sardes, einer einst bedeutenden Stadt, die nun aber nur eine kleine griechische Polis in der römischen Provinz Lydia ist. Leider wissen wir über diesen Menemachos nur das, was uns Plutarch hier mitteilt. Danach ist er ein Angehöriger der dortigen Aristokratie und strebt eines der höheren kommunalen Ämter an, ohne schon Erfahrungen gesammelt zu haben. Er hat Plutarch persönlich um seinen Rat gebeten.
Unter Plutarchs Ratschlägen sind viele auch heute noch beherzigenswert. Besonders interessant dürften für uns in der heutigen politischen Weltlage diejenigen sein, mit denen er Menemachos deutlich und illusionslos klar macht, welche Grenzen einem griechischen Politiker die römische Vorherrschaft auferlege: die Kriege und Rivalitäten zwischen den Griechen seien sinnlos geworden, was ein Segen sei, und alle restlichen Politikfelder, besonders die Bewahrung von Frieden und Eintracht seien umso lohnenswertere Aufgaben der Politik: sowohl innerhalb der griechischen Staaten als auch zwischen ihnen. Er rät zu vernünftigem Maßhalten und warnt vor übertriebenem Nationalstolz und dem Streben zurück nach alter nationaler Macht und...