Gerhard Polt geht auf die Bühne
Gerhard Polt geht auf die Bühne – und spielt. In seinem ihm eigenen, eigentümlich schlendernden Gang betritt er die Bühne, beinah etwas zögerlich, als stapfte er einen Abhang hinauf. Und dann, dann spielt er Polt. Er geht auf die Bühne und macht nichts und sagt nichts. Und alle lachen. Doch, er macht schon etwas: Er macht – ein Nichts. Das geht eigentlich nicht. Auf der Bühne schon gar nicht. Im Fernsehen überhaupt nicht. Und dann sagt er doch etwas. Er sagt: »I sag nix!« Mit diesem Auftritt wird er unverzüglich zur Legende, 1980, bei der Verleihung des Kleinkunstpreises in Mainz, ausgestrahlt im ZDF. Polt hat als Preisträger zehn Minuten Sendezeit für seine Dankrede – und sagt nichts und tut nichts. Außer dass er sich über das Medium Fernsehen lustig macht, und darüber, was das kostet, diese zehn Minuten Sendezeit.
Dieter Hildebrandt erzählt, wie er zum ersten Mal Gerhard Polt gesehen hat, damals im Schwabinger Bräu. Wie er von Anfang an dieses Gefühl hatte: »Jetzt kommt einer, das ist er! Der hat’s!« Dabei hat auch bei diesem Auftritt dieser Mann nichts gesagt, erst nach einer Zeit, die Hildebrandt schon »unverschämt lang« vorgekommen ist, sagt er etwas, etwas ganz und gar Unartikuliertes, so etwas Ähnliches wie »Wooau!«. Und was macht er? Nichts macht er, das heißt, doch, er geht von der rechten Seite auf die linke Seite der Bühne, ganz langsam, und schaut sich die Menschen im Zuschauerraum an. Irgendetwas scheint ihm nicht zu passen. Schon will er offenbar die Bühne verlassen, überlegt es sich im letzten Moment doch noch einmal anders, lächelt – und sagt: »Mei.« Das ist alles. Jetzt explodiert die Stille, auf einen Schlag brüllt das Publikum, brüllt vor Lachen. »Es gibt so Erlebnisse im Leben«, setzt Hildebrandt dieser Erinnerung noch einmal hinzu, »da weiß man: Er ist es!«
Dieter Hildebrandt, Verkörperung der Lach- und Schießgesellschaft und der Sendung Scheibenwischer, ist selbst ein Meister der Ellipse, des verkürzten Satzes, in dessen nicht ausgesprochenem Satzteil die eigentliche Aussage steckt, das Gemeinte. Teils belustigt, teils scherzhaft bedauernd, aber natürlich voller Anerkennung klagt er, dass er, um das auszudrücken, was Polt ohne Worte transportiert, eine ganze DIN-A4-Seite bräuchte, eine ganze DIN-A4-Seite halber Sätze.
Gerhard Polt spielt auch die Menschen, die in der ersten Reihe sitzen, und nimmt sie aufs Korn, und auch sie, die Menschen in der ersten Reihe, klatschen sich auf die Schenkel vor Vergnügen. Er hat es geschafft, in Volkes Mund einzugehen, wird zitiert ohne Ende. Er selbst brummt dazu, dass ihm das so nicht bewusst sei. Aber sein »Leberkäs Hawaii« ist sprichwörtlich geworden, keine Adventszeit vergeht ohne »Nikolausi« und »Osterhasi«. Und er ist noch weitaus mehr. In vielen seiner Texte testet er spielerisch die Sprachränder menschlicher Unsäglichkeiten und Unsagbarkeiten aus, in Darstellungsformen, die dadaistisch reinsten Wassers sind. Ohne Zweifel schafft Polt einen Mythos, einen Mythos der absurden modernen Gegenwart und Alltäglichkeit. Polt ist Kult. In seinen Sketchen, Fernsehstücken, Filmen, Theaterabenden und Auftritten wirkt er als eine Art Homer der Neuzeit, einer, der die Katastrophen des Alltags mikroskopisch aufnimmt und dann aufführt – dazu bedarf es keines Trojanischen Krieges. Es ist der Trojanische Krieg in uns allen. Polt bringt ihn ans Tageslicht, als ein Homer des Humors. Die eigentliche Aufgabe eines Dichters bestünde darin, lobt Aristoteles den Homer, »darzustellen, in welchem Zustand sich jemand befindet, statt diesen Zustand in allgemeinen Reflexionen zu erklären«. Nichts anderes stellt Polt mit seinem Personal dar.
Auf die Frage, ob er so spielt, wie er fühlt, antwortet er: »Hm.« Der Polt, der auf der Bühne steht, ist ein Polt, der sich selbst spielt, ein gespielter Polt. Polt auf der Bühne ist Polt, der sich eine Polt-Maske aufsetzt. Die Maske erlaubt alles, was sonst nicht erlaubt ist – wie im Karneval, im Fasching, gegen alle Konventionen. Und zugleich erlaubt die Maske ihrem Besitzer Polt im richtigen Leben, ganz einfach Polt zu sein.
Polt sitzt im Freien vor einem Café und möchte gern ein Bier trinken. Die Bedienung kommt, Polt bestellt ein Bier, die Bedienung kommt aus dem Fernen Osten, eindeutig erkennbar. Komischer Zufall, denkt man und erinnert sich unwillkürlich an Mai Ling, die berühmte Mai-Ling-Nummer, in der Polt als Herr Grundwirmer dem Publikum seine neueste Errungenschaft vorstellt, eine Thailänderin, die er sich aus dem Katalog bestellt hat. Die Bedienung kommt, stellt die Biere auf den Tisch und sagt zu Gerhard Polt: »Sie sind doch der Herr Polt, oder?!« »Ja«, sagt Polt. »Wer prominent ist, ist selbst schuld«, so reflektiert er immer wieder einmal seinen Status, aber er versteht das. Ihm selbst würde es nicht anders ergehen, wenn er in einer Wirtschaft an einem Tisch zu sitzen käme, und da isst zum Beispiel Claudia Cardinale Schweinswürstl. Es ist zwar nicht ganz einfach, sich Claudia Cardinale beim Schweinswürstl-Essen vorzustellen, auch ist das vielleicht nicht das Erste, was jedermann bei ihr einfiele, aber man versteht, dass ein Gerhard Polt gern mit ihr ins Gespräch käme.
Ob sie ein Autogramm haben könne, fragt die Bedienung; ohne den geringsten Akzent spricht sie. Sie zieht ihr Kassenblöckchen aus der Schürze. »Für wen?«, will Gerhard Polt wissen und lächelt schon ein klein wenig ahnungsvoll. Auch die Bedienung lächelt, ihre Augen verengen sich zu noch schmaleren Schlitzen. »Für die Mai Ling!«, sagt sie. Man möchte es nicht glauben, doch ist es so. »Für die mai-Ling«, schreibt Gerhard Polt auf den Kassenzettel. Ist das Leben ein Traum oder der Traum das Leben oder das Leben eine Vorstellung von Gerhard Polt? Mai Ling ist hochbeglückt: »Ich werde Sie in mein Abendgebet einschließen!« Das freut ihn. Kurze Zeit später klingelt sein Handy: »Was? Wie viel Uhr ist es bei euch? So viel Zeitverschiebung habt ihr? Ja, so ein Wahnsinn!« Offensichtlich handelt es sich um ein Gespräch in weite Ferne. »Mein Sohn«, sagt er nach dem Ende des kurzen Telefonats, »aus Bangkok.« Es gibt Augenblicke in der Wirklichkeit, die nicht mehr wirklich sind, also braucht man sie nicht zu glauben. Als bestünde in dem Fall doch irgendeine Art von Klärungsbedarf, vielleicht nur, weil man selber etwas blöd geschaut hat, wird man darüber in Kenntnis gesetzt, dass der Sohn seinen Freund nach Bangkok begleitet: »Und der ist mit einer aus Vietnam verheiratet.« Ja, wenn das so ist.
Kurz drauf klingelt wieder das Handy, diesmal ist es Tini, die Ehefrau, aus Málaga – ohne Zeitverschiebung. Ziemlich gut unterwegs, die Familie, für so einen Reiseverweigerer wie Gerhard Polt. Er selbst muss nirgends hin, er will vor allem gar nicht. Die Karibik drückt ihn nicht, Bangkok nicht, den Grand Canyon muss er nicht sehen, lieber fährt er nach Agatharied, ein Dorf in nächster Nachbarschaft seines heimatlichen Schliersee. Agatharied ist ein zentraler Ort in Gerhard Polts kosmologischer Topographie. Immer wieder kommt er darauf zu sprechen, selbst vor dem schwedischen König und seinem Publikum in Stockholm, dem er erzählt von Chroniken aus Schliersee, aus Agatharied, in denen Schweden so gut wie nicht vorkomme – außer mit einem Satz: »Bet, Kindlein, bet, morgen kommt der Schwed!« Er muss allerdings zugeben, dass umgekehrt auch in der schwedischen Geschichte Schliersee kaum vorkommt.
Polt kennt nicht dieses Heimweh nach dem »weg von hier«, allenfalls muss er den Stuhl im Café Woerner’s wechseln, auf die andere Seite des Tisches, um nicht ständig auf die Pralinen in der Auslage des Schaufensters schauen zu müssen. Die asiatische Bedienung des Kaffeehauses verstört es überhaupt nicht, in welcher Weise eine Exotin wie Mai Ling dargestellt wird. Sie kann darüber lachen. Das kann natürlich nicht jeder. Von den schwarzen Komparsen, die man in den Münchner Kammerspielen für die Aufführung von Tschurangrati brauchte, konnten das nicht alle und wollten infolgedessen nicht mitspielen. Auch hat Polt einmal von einer Thailänderin einen langen Brief bekommen, mit der inständigen Bitte, sich doch nicht über eine Frau mit anderer Hautfarbe lustig zu machen. Solche Missverständnisse können ihn sehr traurig machen, eigentlich kann er es gar nicht glauben, dass es zu so etwas kommt.
Man muss über sich selber lachen können, sagt die Mai Ling des Kaffeehauses – und lacht. Sie selbst findet es zwar unglaublich, dass man wegen seines anderen Aussehens angeschaut wird, aber so ist es nun mal. Ein Freund von ihr, mit dem sie gelegentlich voller Neugierde angeschaut wird, meinte nur: »So geht das eben mit den Katalogfrauen« – und wieder muss sie lachen, in ihrer eigenen Erzählung. Wie auch die Thaifrau auf der Bühne während einer Probe für diesen Sketch, bei dem sie selbst nur eine stumme Statistin spielt, unentwegt lachen muss; freilich von Polt in dem akkurat gleichen betulich-belehrenden Tonfall ermahnt wird, mit dem er die Szene selbst spielt: »Da darfst du aber nicht lachen, gell!« Zwischen Wirklichkeit, Probe und Aufführung scheint kein Unterschied zu bestehen. »Gell, das verstehst du schon«, fügt er gönnerhaft hinzu. Der Tonfall, wie gesagt, bleibt der gleiche, der das vermeintlich Wohlmeinende erst so richtig gemein macht. Wobei er leicht beschwichtigend hinzusetzt: »Na ja, jetzt schon«, also dass sie in Gottes Namen lachen darf, »aber in der Aufführung nicht!« Er spielt mit anderen, er spielt sich selbst, mit sich selbst – auf der Bühne gestaltet er sich zur Kunstfigur.
Die Mai Ling aus dem Café Woerner’s ist Koreanerin und heißt natürlich nicht Mai Ling. Weshalb sie sich dann so vorgestellt habe? »So...