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DJ * BOBO
Die Frisur von Sophie Marceau
Vati, Mueti (so nannte ich Opa und Oma) und meine Mama Ruth zogen mich in Kölliken auf.
Bis zu meinem sechsten Lebensjahr war meine Hosenscheißerwelt ein Knaller. Nur ein paar Hundert Meter musste ich geradeaus laufen, dann stand ich mitten im Wald. Hohe Tannen stellten im Sommer ein dichtes Dach bereit, ruhig und still, und mein Wald war voller Abenteuer und Geheimnisse. Ich spielte zwischen riesigen Farnbüscheln mit meinen Freunden Verstecken, staute zum Unwillen der Bauern den Bach unten im Dorf, baute eine Hütte aus Baumstämmen.
Im Winter konnte ich prima Schlitten fahren, denn wie es sich für ein Schweizer Dorf gehört, haben wir natürlich rund um Kölliken ordentliche Hügel und Berge. Die sind zwar nicht so hoch wie die Alpen, aber zum Rodeln reichte es, zum Beispiel die Schorüti, da war sogar mal ein Skilift. Skifahren lernte ich natürlich auch sehr früh. Eigentlich sollten wir immer brav im Schneepflug fahren, allenfalls Schwüngli rechts, Schwüngli links, ich liebte es jedoch, im Schuss den Berg hinunterzudonnern. Ein Glück: Verletzt hab ich mich nie ernsthaft.
Die Erwachsenen trugen in den Siebzigerjahren sehr große Brillen, die das halbe Gesicht verdeckten, die Männer dazu gern Koteletten und die Damen eine Ponyfrisur, die »Bob« hieß, so wie Bob Dylan, der berühmte Protestsänger, komisch, eine Frisur wie ein Musiker. Hosen waren am Bund extrem schmal, sodass man kaum sitzen konnte, und unten so weit ausgestellt, dass die Schuhspitze darunter verschwand. Es gab schreiende grafische Muster in grellen Farben (dass unser aller Augen das überlebten …). Selbst wir im kleinen Schweizer Dorf hatten diese Muster an der Kleidung oder auf der Tapete. Im Radio lief ABBAs »Waterloo«. Mit dem Lied, das die Liebe mit Napoleons Niederlage vergleicht, hatte die Popband den Eurovision Song Contest gewonnen. Alle tanzten außerdem zur Musik von The Sweet, Carl Douglas’ »Kung Fu Fighting« oder Lobos Hit »Baby, I’d Love You To Want Me«.
Leider kamen Schatten angekrochen und legten sich bleiern über mein kleines Idyll – meine Oma starb und nicht so viel später auch mein Opa. Das war sehr, sehr traurig.
Mama kam damit der sichere Hafen abhanden. Sie stand alleine da. Vor der Herausforderung, sich selber und mich ernähren zu müssen, ohne weiterhin eine Betreuung für das kleine Peterli (also mich) zu haben.
Sie musste mehr arbeiten, Geld verdienen und sich zeitgleich um mich kümmern – das war anstrengend und zermürbend. Noch dazu in einer Zeit, in der es kaum unterstützende Angebote für Alleinerziehende gab, und in einem recht konservativen Land, das erst 1971 (!) das allgemeine Frauenwahlrecht eingeführt hat.
Meine Mama und ich saßen abends oft am Küchentisch. Ich aß ein Chäsebrötli, und Mama saß mir gegenüber, stumm, manchmal flossen Tränen ihre Wangen hinunter.
»Mama, was ist denn, hab ich dich geärgert?«, fragte ich dann unsicher und ängstlich. »Nein, Peterli, es ist doch alles gut«, antwortete sie mit fester Stimme. Aber ihr Körper zitterte.
Sie wollte mir keine Sorgen bereiten, mir die Last von den schmalen Schultern nehmen. Ich hörte beruhigende Worte, die leider nicht zu den Tränen passten, und wusste: Nein, hier war nicht alles gut, Mama war traurig und verzweifelt, das sah ich genau.
So konnte es nicht weitergehen, das wusste ich. Nur war das, was dann kam, weitaus schlimmer als Mamas Tränen: Das Schicksal schickte uns einen Mann. (Hey, Schicksal, es hätte gern ein anderer sein dürfen!) Der Mann hieß Peter, war Witwer und heiratete meine Mama. Und er hatte bereits zwei Kinder, die jetzt mein Bruder und meine Schwester wurden, Regula und Peter.
Jetzt hatten wir ein bisschen viele Peters auf einmal im Kölliker Holzhaus. Den Ehemann-Peter, seinen Sohn und mich. So wurde ich umgetauft – ab jetzt rief mich keiner mehr Peterli, sondern René, nach meinem Zweitnamen.
Die beiden Geschwister waren das einzig Positive an der neuen Familienkonstellation, denn: Dieser Mann, der mein Stiefvater wurde, trank oft nicht nur ein Gläschen.
Dann stand er vor Mama und schrie sie an. Sie verharrte stumm und unbeweglich, weinte. Vielleicht hatte sie Angst, er könne davongehen, wenn sie sich wehrte, möglicherweise hatten Frauen in dieser Zeit auch nicht den Mut, um aufzubegehren.
Wenn Mama schwieg und alles erduldete, wurde es aber schlimmer. Er schrie weiter und wurde immer wütender. Das war furchtbar, es tat mir im Herzen unglaublich weh.
Eines muss ich zu seiner Ehrenrettung sagen: An uns Kindern hat er seine Wut nie ausgelassen. Aber auch so standen die Dinge schlimm genug. Idyllisch war mein Leben nicht mehr, sondern voller Spannungen, schlimmer Gefühle und der Angst vor dem Abend, wenn der Alkohol wieder zuschlug.
Vielleicht trinke ich deshalb heute keinen Alkohol, und zwar wirklich gar keinen. Wenn man mir ein bisschen Hustensaft mit Alkohol gibt oder im Käsefondue den Weißwein nicht einkochen lässt, sing ich »Everybody« auf Spanisch, und das ganz ohne Playback.
Im Wald regierte der böse Mann nicht, mein Dorf und der Fußballverein waren meine Zuflucht. Beim Fußball bolzte ich über den Platz, so oft ich konnte, und wurde ein wieselflinker, ehrgeiziger Spieler. Ich rannte, was die Lunge hergab, kletterte, fuhr Rad, balgte mich mit meinen Freunden.
Wenn ein Junge Letzteres heute tut, kommen alle schnell mit ADHS und Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom. Meiner Ansicht nach ist das Quatsch. Keine meiner Hosen war ohne Lederflicken an den Knien, und Bücher ohne Bilder fand ich sehr schwierig. Ich durfte ein wilder Schweizer Junge sein, ohne Ritalin, dafür mit sehr viel Frischluft in einem tollen Dorf.
Mein erster Berufswunsch war: Lokführer. Durch die Tunnels hinein, aus den Tunnels wieder hinaus, aufs Bergli hinauf, ins Täli hinab. Alle Kinder kannten damals Lukas den Lokomotivführer aus dem Buch von Michael Ende. Der war stark, wusste für alle Probleme eine Lösung und erlebte die tollsten Abenteuer. So wollte ich auch sein.
Mein erster Job war: Moos sammeln. Ohne Moos nix los, weiß ja jedes Kind. Ich war ja sowieso den ganzen Tag im Wald, das ließ sich doch vielleicht zu Geld machen, überlegte ich. Meine Mama, die Floristin, kam auf die Idee. »René, such doch Moos, der Gärtner kauft’s dir ab.«
So war’s. Ich wurde Moosspezialist. Wir legten es auf dem geräumigen, luftigen Heuboden zum Trocknen aus, Platz hatten wir ja genug. Pro Kiste Grünzeug zahlte mir der Gärtner sieben Franken, kein schlechter Tarif, wenn man acht Jahre alt ist. Manchmal schaffte ich sechs, sieben Kisten pro Monat.
»Super gemacht, René!«, rief mir dann der Gärtner schon von Weitem entgegen, wenn ich mit einer vollen Kiste angestiefelt kam.
Von meinem ersten eigenen Geld kaufte ich mir ein Schlagzeug. Ein richtiges, ordentliches Schlagzeug mit Hi-Hat, Snare, Drums und Becken. Jetzt konnte ich unterm Dach trommeln, Rhythmen ausprobieren und … mich auch ein bisschen abreagieren.
Der Belchen-Bächli-Weg war mein Schulweg. Zwischen üppigen, dichten Büschen ging es hinunter, über den rauschenden Köllikerbach hinweg, zwischen üppigen, dichten Büschen wieder hinauf zur Schule, meistens mit meinem Kumpel Luca aus dem gelben Haus von gegenüber.
Ich war ein ganz passabler Schüler, und aus mir hätte auch ein Versicherungsvertreter werden können. Baumann, René, stand auf dem Zeugnis, schön mit Bandzugfeder geschrieben.
Ungefähr zu dieser Zeit bekam ich auch Klavierunterricht. Die Lehrerin war meine Patentante Therese, und dafür machte meine Mama ihr den Garten.
Das Klavierspiel gefiel mir leider ganz und gar nicht. Ich fand den Unterricht so schrecklich, ehrlich! Kinder-Etüden von Czerny, das kleine Klavierbüchlein für Anna Magdalena Bach, Tonleitern, das quälte mich alles ungeheuer.
Von meiner Patentante bekam ich immerhin später das Geschenk meines Lebens: meine ersten Schallplatten. Für die jungen Leute: Das sind diese dünnen, runden Scheiben aus schwarzem Kunststoff, Vinyl, und, verrückt aber wahr: Man versenkt eine Nadel an einem Tonarm in die Endlosrille. In der Oberfläche sind Unregelmäßigkeiten, die von der Nadel abgetastet werden. Die Schwingungen werden zu Tönen und die Platte spielt Musik. Das öffnete mir ein ganzes Universum.
Eine meiner ersten Platten war »Live Killers« von Queen. Was für ein Sound, so majestätisch und pompös, so cool und rockig zugleich, in meinem Kopf explodierten unglaubliche Klangwelten. Ich war wie paralysiert, hörte die Platte immer und immer wieder, drang in die Strukturen des Sounds ein, die Schichten, die Melodien – das hat mich unglaublich inspiriert.
Im November 1980 erzählten mir Freunde auf dem Schulhof unglaubliche Geschichten. Sie wären im fernen Zürich gewesen, im Hallenstadion. Damals ein Tempel der Konzertveranstaltungen, wer dort spielte, war wirklich berühmt. Sie hätten Queen dort live gesehen und gehört. Mit 13 000 anderen Schweizern. Mann, war ich neidisch. Was sie von diesem verrückten...