Vorwort
»Wie manipulativ ist eigentlich Führung?« Mit dieser Frage habe ich in den letzten Jahren zahlreiche meiner Workshops für Führungskräfte gestartet. Selbstverständlich provoziert diese Formulierung – und das ist auch meine Absicht. Manipulation ist doch etwas Unmoralisches, oder? Und welche Führungskraft möchte schon ihre Rolle als zumindest moralisch bedenklich einstufen! Doch wenn der Duden als Synonyme für »manipulieren« die Begriffe »beeinflussen« oder »lenken« vorschlägt, dann wird klar: Natürlich ist eine Hauptfunktion von Führung, genau das zu tun. Menschen beeinflussen sich permanent wechselseitig. Unsere Kollegen hinterlassen Spuren bei uns, die Meinung von Freundinnen kann uns auf neue Gedanken bringen und selbst der Nachbar, der uns grüßt oder auch nicht, hat einen Einfluss darauf, wie wir uns ihm gegenüber verhalten. Situationen, Umgebungsbedingungen oder Rollen, die uns zugeschrieben werden, beeinflussen uns. Warum würden sich sonst Menschen in verschiedenen Lebenssituationen so unterschiedlich verhalten?
Darum bin ich der festen Überzeugung, dass wir als Führungskräfte uns den Tatsachen stellen müssen: Ja, wir beeinflussen Menschen, und das ist ein relevanter Teil unseres Jobs! Erst wenn wir uns dieser Tatsache bewusst werden, ist auch klar, welche Verantwortung damit einhergeht. Die Beeinflussung findet nämlich statt, ob wir das wollen oder nicht. Denken Sie nur an eine Situation in der Vergangenheit, in der Ihnen ein Vorgesetzter oder eine Vorgesetzte ein positives oder negatives Feedback auf etwas gegeben hat, das Ihnen wichtig war. Möglicherweise hatten Sie diese Reaktion sogar einige Tage später noch im Kopf. Manchmal reicht ein einziger Satz für eine Wirkung, die stunden-, manchmal sogar tagelang anhält. Ein Vorgesetzter, der überwiegend mürrisch ist und jeden gemachten Fehler als persönlichen Angriff interpretiert, manipuliert in diesem Sinne sein Team genauso wie jener, dessen Anwesenheit allein schon motivierend wirkt und bei dem man sichergehen kann, dass überdurchschnittliches Engagement auch wahrgenommen wird.
Der Unterschied zwischen »Alltagsmanipulation«, also der zufälligen, unbeabsichtigten gegenseitigen Beeinflussung, und Führung muss meines Erachtens sein, dass sich Führungskräfte ihrer Rolle und deren Wirkung bewusst sein müssen und in der Lage sein sollen, zielgerichtete positive Beeinflussung als ihre Aufgabe zu sehen. Gleichzeitig ist ein überdurchschnittliches Maß an Empathie und Selbstwahrnehmung notwendig, um so wenig unbeabsichtigte negative Beeinflussung wie nur möglich auszulösen. Ich glaube nämlich nicht, dass es viele Vorgesetzte gibt, die sich am Weg ins Büro vornehmen, heute wieder mal so richtig die Stimmung zu senken, die Motivation auf ein Mindestmaß zu reduzieren und jede Form von Eigeninitiative und Engagement zu vernichten. Dennoch passiert es. Täglich! In den meisten Fällen ist dies nicht beabsichtigt, so hoffe ich zumindest. Wenn es aber ohne Absicht und somit nicht zielgerichtet passiert, dann zeigen sich darin fehlende Führungskompetenz und Alltagsmanipulation, die dazu beigetragen haben, Arbeitsleistung zu vernichten.
Führungskräfte haben somit die unteilbare Verantwortung, zu erkennen, wie sie durch die Gestaltung ihrer Rolle und ihrer Verhaltensweisen ihre Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter günstig oder ungünstig beeinflussen. Gute Führung ist somit ein eigenes Kompetenzbündel – eine spezifische Kombination von bestimmen Teilkompetenzen –, das wie in jeder anderen Profession gut oder weniger gut sein kann. Wenn es daher eine der Aufgaben einer Führungskraft ist, durch ihren Führungsstil dazu beizutragen, dass im Team eine arbeitsförderliche Atmosphäre entsteht, dann ist klar, dass dazu auch besonderes Fachwissen gehört. Ein führungsspezifisches Fachwissen. Exzellente Führungskräfte haben sogar die Kompetenzen, die Potenziale ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu erkennen, zu fördern und ein Umfeld zu schaffen, in dem sich diese entfalten können. Zum Vorteil der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, der Organisation und sogar der Gesellschaft. Und hier beginnt Positive Leadership.
Positive Leadership ist somit die Führungskompetenz, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Lust haben, ihre Stärken auszuleben und weiterzuentwickeln, sich in dem, was sie tun, wertgeschätzt fühlen, sich damit identifizieren und dadurch motiviert sind, sich nicht nur an der geforderten Leistung zu orientieren, sondern sich einzubringen – die Extrameile zu gehen. Nicht allzu selten springen allerdings Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in ihre neue Aufgabe mit der Energie und der Motivation eines Tigers, um dann nach wenigen Monaten als Bettvorleger zu landen. In diesem Fall ist etwas schiefgelaufen.
Der Schlüssel, um die vorhandene Energie einzusetzen und zu stärken, ist, dass Ressourcen, die in Personen, im Team oder in der Organisation bereits vorhanden sind, genützt und weiterentwickelt werden. Oft sind diese Ressourcen nicht bekannt oder wurden bisher nicht benötig. Das Nützen dieser Ressourcen ist allerdings eine Möglichkeit, bei der alle Beteiligten gewinnen: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Führungskraft, Organisation und letztendlich auch die Gesellschaft. Durchschnittliche Führungskräfte leiten überwiegend an, kontrollieren und sind zufrieden mit sich, wenn das gelingt. Großartige Führungskräfte sehen ihre Aufgabe hingegen darin, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter bei der Entwicklung ihrer individuellen Großartigkeit maßgeblich zu unterstützen.
Klingt nach einer sozialromantischen Idee, die in der Realität weder sinnvoll noch umsetzbar ist, oder? Stimmt nicht, wie ich Ihnen in diesem Buch zeigen werde. Die Anzahl der Unternehmen, die diesen Ansatz als Grundlage für ihr Führungsleitbild definieren und auch leben, hat in den letzten Jahren kontinuierlich zugenommen. Zahlreiche Berater, Führungskräfte, Personalentwickler und Manager nützen Positive Leadership, um ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu helfen, engagierter, produktiver und letztendlich glücklicher zu werden. Ganz klar, für Führungskräfte, die ihre Aufgabe hauptsächlich darin sehen, Menschen zu ›managen‹ anstatt zu führen, ist dieser Ansatz wahrscheinlich realitätsfern. Diese mögen tatsächlich den Eindruck haben, dass sie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu verwalten hätten. Es ist allerdings falsch, Mitarbeiter als etwas Mechanisches zu sehen, als Computer oder andere Objekte im Arbeitskontext. Daher gibt es einen relevanten Unterschied zwischen »managen« und »führen«: Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind Menschen und haben demnach auch menschliche Bedürfnisse, Empfindungen und – wenn es passt – Engagement, das von innen kommt und nicht nur, wenn es von außen aktiviert wird. Computer können das nicht. Es macht somit einen großen Unterschied, ob jemand die Kompetenz hat, etwas zu managen, oder die Fähigkeit, Menschen zu führen. Wenn jemand in der Lage ist, für ein neues Projekt unter anderem die höchstmöglichen Personaleinsatzstunden zu planen, damit der ROI (Return on Investment) baldigst erreicht ist, dann ist das eine wichtige Managementkompetenz. Aber wenn das Projekt läuft, werden aus den Personaleinsatzstunden plötzlich eine Frau Meier und ein Herr Müller, und dann benötigt die Führungskraft andere Kompetenzen.
Wenn 85 Prozent der Businessfrauen bei einer großen Befragung angeben, dass sie im Job eher funktionieren als ihr Potenzial entfalten[1], 97 Prozent aller Führungskräfte sich in einer offensichtlichen Selbstüberschätzung für gut halten, nur rund 30 Prozent der Personen überwiegend gute Erfahrungen mit Führungskräften gemacht haben[2] und Gallup 2016 berechnet, dass schlechte Führungskräfte allein in Deutschland durch ihre Wirkung auf Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Schaden von rund 105 Milliarden Euro verursachen[3], dann läuft etwas grundlegend falsch. Potenzialentfaltung zu erwarten und dabei nur Schwächen zu korrigieren ist wie an der Bushaltestelle auf den nächsten Zug zu warten.
Um erfolgreich mit Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu arbeiten, braucht es andere Kompetenzen als nur gute Managementqualitäten. Wenn es nun darum geht, motivierend zu führen, und wenn Sie wissen wollen, was High-Performance-Teams anders machen als durchschnittliche oder vielleicht sogar unterdurchschnittliche Teams, dann vertiefen Sie mit diesem Buch einen Führungsansatz, der das Werkzeug dazu hat. Positive Leadership als Teilgebiet der wissenschaftlichen Disziplin »Positive Psychologie« hat den Anspruch, die Wirkung dieses Zugangs durch seriöse Forschung zu evaluieren. So wie bei einer Hypothese, die jemand hat und die dann in der Praxis oftmals ausprobiert wird, um zu sehen, ob sich diese Hypothese bewahrheitet. Oder eben nicht. Obwohl der Positive-Leadership-Ansatz noch recht jung ist, gibt es mittlerweile unzählige fundierte Studien, die signifikant positive Auswirkungen auf Arbeitszufriedenheit, Leistung, Fluktuation, ja sogar auf die Gesundheit und viele weitere Aspekte zeigen.
Genau darum geht es im ersten Teil dieses Buches: einen Einblick zu geben, welche relevanten weltweiten Forschungsergebnisse zu Positive Leadership derzeit vorliegen, die Wurzeln dieses Führungsansatzes zu ergründen und zu verstehen, wie Führung (noch) besser gelingen kann. Vielen ist dieser Führungsansatz unter dem Begriff »stärkenorientiertes Führen« bekannt. Das ist allerdings heute nur mehr ein Teil der Wahrheit, das Thema ist größer geworden. Die Forschung dazu ist nämlich in den letzten Jahren rapide gewachsen. Die Suche nach diesem Begriff in wissenschaftlichen Datenbanken zeigt weltweit derzeit tausende Publikationen, und jeden...