Vorwort
Liebe Leserin und lieber Leser,
ich bin das neunte Enkelkind meiner Großeltern Hildegard (geb. 1910) und Arthur Röhrbein (geb. 1898) und das fünfte Enkelkind meiner Großeltern Katharina (geb. 1909) und Wilhelm Kobs (geb. 1907). Insgesamt kann ich auf 14 Cousinen und fünf Cousins väterlicherseits sowie sechs Cousinen und vier Cousins mütterlicherseits zählen.
Mein Großvater Wilhelm (mütterlicherseits) blieb im Krieg – ich habe ihn nie kennengelernt. Meine Eltern erwiesen mir die Ehre, seinen Namen als zweiten Vornamen tragen zu dürfen. Er war Maschinenschlosser von Beruf und hat dem einen oder anderen Leuchtturm an der Küste seinen Halt gegeben. An meine Oma Katharina habe ich viele liebevolle Erinnerungen, denn sie war Oma im besten Sinne.
Mit meinem Großvater Arthur, der als Schreinermeister eine eigene Möbeltischlerei besaß, habe ich viele schöne Stunden erleben dürfen. Neben der Liebe zum Holz, die er auch an meinen Vater weitergab, nährte er meine Freude am Fußball und die Treue zur »alten Dame« Hertha BSC in Berlin. Meine Oma Hildegard (geb. 1910) verstarb 1944 im Wochenbett, und mein Opa heiratete ein zweites Mal. Doch auch seine zweite Frau Liesel (geb. 1909) lernte ich nicht kennen, weil sie 1948 an einer Blutvergiftung verstarb, ausgelöst durch einen Insektenstich. Mit seiner dritten Frau Ida (geb. 1900) lebte er noch einige Jahre bei uns in Essen, was schön und herausfordernd zugleich war.
Meine insgesamt 26 Tanten und Onkel habe ich alle kennengelernt, und ich habe sowohl am Niederrhein, woher meine Mutter stammt, als auch in Berlin, wo meines Vaters Wurzeln liegen, zahlreiche schöne und aufregende Stunden verbringen dürfen. Aufgewachsen bin ich zusammen mit meinen drei Schwestern zunächst in Ratingen (wo ich 1965 geboren wurde) und später in Essen-Borbeck, wo ich mich beheimatet fühle. Inzwischen ist unsere Familie auf ganz Deutschland verteilt und durch die jüngste Schwester meines Vaters haben wir auch eine kleine Dependance in den USA. Während ich an diesem Buch schreibe, hat unser jüngster Sohn Arne geheiratet und sich mit seiner Liebsten in einer eher ländlichen Region niedergelassen, lebt unsere Tochter Lea mit ihrem Lebensgefährten in Hamburg und ist unser ältester Sohn Jan vor Kurzem aus Dresden zurückgekehrt und wohnt nun in Witten. Auch meine drei Nichten und fünf Neffen leben bunt auf Deutschland verteilt.
Meine Frau Sabine und ich können auf 30 glückliche Ehejahre und eine spannende Kindheit im »Pott« zurückblicken. Auch wir haben bis zu unserem Wechsel nach Lüdenscheid im Jahr 1995 von 1988 bis 1992 einen Abstecher in die »Ferne« der Südpfalz unternommen, bevor wir für drei weitere Jahre noch einmal nach Essen in unsere Heimat zurückkehrten. Im Herzen sind wir immer »Ruhrpötter« geblieben – und das wird wohl auch so bleiben.
Grundsätzlich erfülle ich mir mit diesen Zeilen einen schon länger gehegten persönlichen Wunsch, eines meiner Lieblingsthemen einmal besonders in den Fokus zu nehmen, in eine neue Form zu bringen und meine Erfahrungen darin zu bündeln.
Als ich mich schließlich dazu entschied, dieses Buch zu schreiben, war mir allerdings nicht bewusst, was ich mir damit antue. Mein ursprünglicher Gedanke – »das schreibst du so runter« –, löste sich immer mehr in Wohlgefallen auf, je intensiver ich mich mit der Thematik auseinandersetzte. Obwohl ich inzwischen seit über 25 Jahren mit Menschen biografisch arbeite, war mir im Vorfeld nicht klar, was sich in diesem Bereich der selbstreflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen »Gewordenheit« an »Wildwuchs«, wie es Ingrid Miethe (2014, S. 8) bezeichnet, entwickelt hat. Zahlreiche Autoren1 haben sich in den letzten Jahren intensiver damit beschäftigt, was Biografiearbeit aus- und wertvoll macht. Die Bandbreite reicht von kleinen Büchern (Matolycz 2013) über umfangreiche Lehr- und Handbücher (Girrulat et al. 2007; Hölzle u. Jansen 2009; Miethe 2014; Ruhe 2014) bis hin zu sehr praxisnahen, zielgruppenspezifischen Bänden, die mit zahlreichen Methoden aufwarten (z. B. Gudjons, Wagener-Gudjons u. Pieper 2008; Kerkhoff u. Halbach 2002; Lindmeier 2006; Lattschar u. Wiemann 2007; Specht-Tomann 2012; Osborn, Schweitzer u. Trilling 2013; Klingenberger 2015). Wo also anfangen und wo aufhören?
Ich habe in meinen Ausführungen versucht, die aus meiner Sicht wichtigsten Protagonisten zu Wort kommen zu lassen, erhebe aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit und entschuldige mich bereits jetzt bei denen, die möglicherweise auf den nächsten Seiten »zu kurz« gekommen sind. Wie gesagt – es gibt eine Fülle. Die Kunst liegt in der Auswahl.
Natürlich gehört es sich für eine grundlegende Betrachtung von biografischen Ansätzen, zu Beginn eine kleine theoretische Herleitung oder Begründung des Vorgehens zu wählen und darauf aufbauend den Nutzen für die Praxis abzuleiten. Bei der Recherche in den einzelnen Publikationen aus Erziehungswissenschaft, Psychologie und Soziologie habe ich selbst eine Menge hinzugelernt und hoffe, dass es mir gelungen ist, die einzelnen Stränge so miteinander zu verknüpfen, dass es Ihnen als Leser einen Gewinn bringt.
Wie bereits erwähnt, arbeite ich seit mehr als 25 Jahren mit Menschen aller Altersgruppen in unterschiedlichen Kontexten und Settings. Dazu gehören unter anderem meine Beratungstätigkeit im Märkischen Kinderschutz-Zentrum, die Begleitung von Menschen in Aus-, Fort- und Weiterbildungen, die Unterstützung von Unternehmen im Hinblick auf ihre Personal- und Teamentwicklung und meine Seminartätigkeit für Pflegeeltern, Tagesmütter und -väter und weitere Zielgruppen. All dies mache ich immer noch gerne, teilweise sogar mit wachsender Begeisterung! Ausgehend von meinen ersten Erfahrungen in der Erwachsenen- und Familienbildung über zahlreiche Jahre in der stationären Jugendhilfe bis hin zu meinem aktuellen bunten Mix von Familienberatung, Supervision und Dozententätigkeit war mir die Biografiearbeit oder die »biografische Selbstreflexion«, wie Gudjons, Pieper u. Wagener (1986) es genannt haben, stets eine treue Begleiterin.
Standen zu Beginn die werdenden Eltern im Fokus, so waren es später die fremduntergebrachten Kinder mit allen ihren Elternteilen und Bezugspersonen, aber auch die Erwachsenen, die sich für die Aufnahme eines »Gastkindes« als Pflege- oder Adoptivkind oder für eine Weiterbildung entschieden hatten. Heute sind es sowohl Kinder und Jugendliche als auch Mütter und Väter, die auf der Suche nach einer eigenen Standortbestimmung und einem gelingenden Miteinander mit einem interessierten Gegenüber die eigenen Gedanken und Gefühle sortieren möchten. Und zahlreiche Erwachsene in unterschiedlichen beruflichen Kontexten, die sich weiterqualifizieren und in der sich verändernden (Arbeits-)Welt den Durch- und Überblick behalten wollen, um den eigenen Aufgaben und Balanceprozessen gerecht werden zu können.
Im Jahr 2009 hat die Band Silbermond mit ihrem Song »Irgendwas bleibt« den Wunsch nach Beständigkeit und Halt zum Ausdruck gebracht, der mir heute an vielen Stellen in der Begleitung von Menschen begegnet und den vermutlich viele Menschen teilen:
»Sag mir, dass dieser Ort hier sicher ist
Und alles Gute steht hier still
Und dass das Wort, das du mir heute gibst
Morgen noch genauso gilt
Diese Welt ist schnell
Und hat verlernt beständig zu sein
Denn Versuchungen setzen ihre Frist«2
Das (Arbeits-)Leben wirkt zuweilen beschleunigt, unsicher und unübersichtlich, zeitweise wenig durchschaubar und unkalkulierbar. In solchen Phasen stehen Menschen häufig vor zentralen Fragen: Wer bin ich? Was macht mich aus? Wo komme ich her? Wo will ich hin? Und mit wem? Wie nehme ich meinem Leben Geschwindigkeit? Wie behalte ich die Übersicht und bleibe handlungsfähig? Was sorgt für Regeneration und Durchatmen? Was für Planungssicherheit und Perspektive?
Alle diese Fragen passen gut in den Kontext des biografischen Arbeitens. Denn eine große Stärke dieses Ansatzes ist es, sich selbst als Mensch ernst zu nehmen und unter fachlicher Begleitung in den Mittelpunkt zu stellen. Was Experten brauchen, um Menschen im Rahmen einer Biografiearbeit bei der Suche nach Antworten auf die aufgelisteten Fragen hilfreich zu begleiten, versuche ich in den nächsten Kapiteln zu beantworten, verbunden mit einem Überblick, worum es in der Biografiearbeit grundsätzlich geht.
In meinen Ausführungen lege ich dabei den Schwerpunkt auf eine mögliche »Schatzsuche« und die Ressourcen aktivierenden und selbstwertstärkenden Vorgehensweisen. Schön ist es, wenn Menschen mit Johannes Oerding einstimmen können: »Ohne unser Gestern würd ich mich heut nicht so auf morgen freuen« (aus seinem 2017 veröffentlichten Lied »Hundert Leben«). Dies zeugt von guten Gaben, schönen Erlebnissen und tragfähigen...