Einführung
Anja Wildemann
Mehrsprachige und transkulturelle Identitätskonstruktionen und ihr Potenzial für eine moderne Deutschdidaktik
«Auch wenn alle Menschen der Erde sich heute darauf einigen würden, ein und dieselbe Sprache zu sprechen, würde sich diese sehr bald durch den bloßen Gebrauch verändern, sich auf tausend verschiedene Weisen in den verschiedenen Ländern modifizieren und zur Entstehung von ebenso vielen verschiedenen Idiomen führen, die sich zunehmend voneinander entfernen.» (Éléments d’Idéologie, II, 6, S. 569)
1. Einleitung
Die Sprachenvielfalt eines Landes zeichnet sich nicht durch die Nationalvielfalt aus, sondern vor allem durch die gelebten Sprachen und ihre Variationen, die je nach Milieu divergierende Strukturen und Motivationen und damit einen engen Zusammenhang zum jeweiligen sozialen Kontext, in dem sie realisiert werden, erkennen lassen. So kann beispielsweise ein Schüler serbischer Herkunft, unabhängig davon, in welchem Land er lebt, in der Schule fließend die Mehrheitssprache sprechen, in seinem Freundeskreis in englischer Sprache rappen und mit seinen Eltern bevorzugt in Serbisch kommunizieren. Es sind vor allem die wechselnden sozialen und sprachlichen Kontexte innerhalb einer Gesellschaft, die einen Sprecher dazu bewegen, im Alltag diverse Rollen einzunehmen. Die Vielzahl an subjektiven Ausprägungsformen sprachlicher, sozialer, ökonomischer und biografischer Erlebnisse prägt auf diese Weise den Einzelnen und dessen Identität. Wiater spricht in Bezug auf Mehrsprachige von «multiplen sprachlichen und kulturellen Identitäten» (2006, S. 67), die eine Mehrsprachigkeitsdidaktik erfordern, durch die Schülerinnen und Schüler zur transnationalen, multilingualen und multikulturellen Identitätsfindung angeregt werden. Er bezeichnet Identität in diesem Sinne als «Collage von Bereichsidentitäten, bei der der Bereich Sprache zentral ist» (ebd.). Auch Griese u.a. kommen in ihrer Studie «Wir denken deutsch und fühlen türkisch», in der sie deutsch-türkische Studierende befragt haben, zu dem Ergebnis, dass Identität eine vielschichtige und flexible Kategorie ist, die sich in Abhängigkeit zu den Erfahrungen, die in unterschiedlichen Lebensphasen gemacht werden, konturiert (vgl. Griese et al. 2007, S. 168f.). Deutlich wird in dieser und anderen Untersuchungen (z.B. von Brizić 2007, Hoodgarzadeh 2010, Oomen-Welke/Schumacher 2005, Reinders 2003, Reinders u.a. 2006) ein evidenter Zusammenhang zwischen den drei Entitäten Sprache, Selbstwert und Zugehörigkeit, die maßgeblich für heutige transkulturelle Identitätskonstruktionen sind. Was bedeutet nun aber eine solche Erkenntnis für den Deutschunterricht, der sich lange Zeit als hegemonialer Muttersprachenunterricht verstanden hat und dem in der heutigen bildungspolitischen Debatte erneut eine exponierte Position in Bezug auf das zielsprachliche Lernen zugewiesen wird? Unumstritten ist, dass sich unsere Schulklassen durch eine Vielfalt an Sprachen, Kulturen und Identitäten auszeichnen, was an den Deutschunterricht vielschichtige Anforderungen stellt, für die es bislang weder ausreichend wissenschaftlich fundierte Konzepte und Materialien noch genügend Qualifizierungsangebote für Lehrkräfte gibt. Eine «Didaktik der Vielsprachigkeit» (vgl. Oomen-Welke 1999, 2010), wie sie Oomen-Welke bereits 1999 gefordert hat, existiert in den Köpfen vieler Lehrkräfte noch längst nicht (vgl. Cantone 2011, Pünter 2012). Vielmehr besteht weiterhin ein immenser Nachholbedarf in Bezug auf empirisch fundierte Kenntnisse über Voraussetzungen und Bedingungen eines sprachsensiblen Deutschunterrichts und daraus ableitbaren curricularen Festlegungen, durch die ein solcher Unterricht konkretisiert wird. Eine Deutschdidaktik, die sich als «empirisch-praktische Wissenschaft» versteht (Wintersteiner 2007, S. 22) muss sich den genannten Erfordernissen stellen. Neben lehr-lerntheoretischen, fachlichen und didaktisch-pädagogischen Überlegungen sind es die Zusammenhänge zwischen Sprachen und Identitäten in der Entwicklung des Individuums, die essentielle Ankerpunkte einer modernen Deutschdidaktik sind bzw. werden müssen.
2. Migration und Mehrsprachigkeit
«Migranten_innen sind Menschen, die nicht in ihrem Herkunftsland leben; also beispielsweise Jürgen Klinsmann, Thomas Gottschalk, Howard Carpendale, Nastasia Kinski, Mick Jagger, Madeleine Albright und Huub Stevens.» (Show 2011, S. 445)
Es ist ein wenig müßig zu wiederholen, dass die heutige Gesellschaft, egal, wo man hinschaut, durch Menschen geprägt ist, deren Biografien sich nicht in eine In- und Auslandstypologie einordnen lassen. Um die sich daraus ableitenden Folgerungen für den Deutschunterricht zu legitimieren, beginnt fast jeder Beitrag und nahezu jedes Buch zu dieser Thematik mit dem Verweis auf Aspekte wie Globalisierung, Vernetzung, Ein- und Auswanderungsgeschichten sowie sprachlicher Vielfalt. Warum verhält es sich so, obwohl allen beteiligten Berufs- und Wissenschaftsgruppen längst bekannt ist, dass der Mikrokosmos Schule ein Abbild der gesellschaftlichen Vielfalt darstellt und entsprechend Antworten darauf bereitzustellen hat? Eine nicht von der Hand zu weisende Argumentationslinie verbirgt sich in der Perspektive des Faches selbst, welches nach wie vor in einer scheinbar unauflösbaren Tradition eines «reinen» Muttersprachenunterrichts steht. Daran hat auch die aktuelle Diskussion um Bildungssprachlichkeit nur wenig geändert, handelt es sich doch in erster Linie um eine akademische Debatte, die bislang kaum zu sichtbaren Konsequenzen im Deutschunterricht geführt hat. So konnte im Rahmen einer kleinen Erhebung festgestellt werden, dass Lehrkräfte weder über ein einheitliches Verständnis von Bildungssprache verfügen (vgl. Pünter 2012, S. 76f.), noch ihr Wissen über sprachliches Lernen unter mehrsprachigen Bedingungen für die Unterrichtsgestaltung nutzen. Dies gilt selbst für Lehrkräfte mit langjähriger Erfahrung mit mehrsprachigen Schülerinnen und Schülern und der Einsicht in die Notwendigkeit eines sprachsensiblen Deutschunterrichts (vgl. ebd., S. 79). Andere Untersuchungen, die den jeweiligen Mehrheitssprachenunterricht eines Landes in den Blick nehmen, untermauern dieses Ergebnis über den deutschsprachigen Raum hinaus (vgl. u.a. Gándara et al. 2005, Gershberg et al. 2004, Tikly 2006). Es handelt sich somit um ein länderübergreifendes Phänomen. Schließen lässt sich aus den bisherigen Forschungsresultaten, dass das Wissen um gesellschaftliche Bedingungen und curriculare Vorgaben noch lange nicht den gewünschten, an Mehrsprachigkeit orientierten Deutsch- bzw. Sprachunterricht nach sich zieht. Die Gründe dafür sind vielschichtig. Allen voran haben wir es nach wie vor mit einer äußerst engen Sichtweise auf Mehrsprachigkeit als Folge von Migration zu tun, die konträr zu den Prämissen der Europäischen Kommission verläuft, wonach Mehrsprachigkeit sowohl Voraussetzung für eine selbstbestimmte Teilhabe an einer pluralen Gesellschaft als auch ein Garant für Bildungserfolg ist (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaften 2005). Deutlich wird, dass sich hier zwei Denkweisen konträr gegenüberstehen. Während die vermeintliche Mehrheitssprache eines Landes häufig im Kontext ihrer nationalstaatlichen Formierung betrachtet und mit einer Homogenisierungsfunktion versehen wird, hat die Europäische Union längst eine mehrsprachige Identität angenommen. Nach außen sichtbar wird dies durch das Vorhandensein von derzeit 23 Amtssprachen sowie die ausdrückliche Akzeptanz von Regional- und Minderheitensprachen und diversen Programmen zur Förderung von Mehrsprachigkeit (vgl. Gerhards 2010, Elsner/Wildemann, i. D.). Folgt man der Europäischen Union, so ist Mehrsprachigkeit inzwischen weniger eine Folge als vielmehr eine Voraussetzung für Migrationsbewegungen. Sowohl im deutschen wie auch österreichischen Schulalltag ist diese Sichtweise bislang jedoch nicht angekommen.
3. Das Konstrukt Identität zwischen Nationalität und Transkulturalität
«Die meisten unter uns sind in ihrer kulturellen Formation durch mehrere kulturelle Herkünfte und Verbindungen bestimmt. Wir sind kulturelle Mischlinge. Die kulturelle Identität der heutigen Individuen ist eine patchwork-Identität.» (Welsch 2010, S. 46)
Die Bindung von Identität an Kultur ist die eine, die von Identität an Sprache die andere. Beide sind in der Debatte um heutige Identitätskonstruktionen in einer pluralen Gesellschaft nicht mehr wegzudenken. Dreht sich die Auseinandersetzung zudem um Migrantinnen und Migranten bilden die Begriffe Identität, Sprache und Kultur eine nahezu unauflösliche Triade, mit der kontroverse Assoziationen und Attitüden einhergehen. Feststellen lässt sich in der wissenschaftstheoretischen Debatte eine zunehmende Abkehr von national determinierter Identität zugunsten crosskultureller und multilingualer Identitäten (vgl. u.a. Auer 2007, Lösch 2005, Welsch 2010). Anders also als zu Zeiten der Nationalstaatenbildung, die vor allem durch Bestrebungen zur Vereinheitlichung geprägt waren (vgl. Roth 2011), wird Identität nunmehr transdifferent gedacht. Danach sind Identitäten...