|17|1 Arbeit
„Frag dich nicht, was die Welt braucht, sondern was dich lebendig macht. Und dann tue genau das. Denn was die Welt braucht, sind Menschen, die lebendig sind.“
Harold Thurman Whitman1
„Ich fällte in der Nähe eine kräftige Eiche für den Kiel und ein Farmer namens Howard schleppte diese zusammen mit ausreichend Holz für die Spanten des neuen Schiffs für etwas Geld zum Bauplatz. Ich errichtete einen Dampfkasten und einen Behälter für einen Kessel. Das Holz für die Spanten aus geraden Schösslingen wurde zugerichtet, gedämpft, bis es elastisch war, und schließlich über einem Baumstamm gebogen und dort fixiert. Jeden Tag ging es sichtbar vorwärts und die Nachbarn leisteten mir bei der Arbeit Gesellschaft. Es war ein großer Tag auf der Werft der Spray, als ihr neuer Steven aufgerichtet und am neuen Kiel befestigt wurde. Walfangkapitäne kamen von weither, um sie in Augenschein zu nehmen. Unisono gaben sie ihr die Note 1A und erachteten sie als vollkommen tauglich zum Eisbrechen. Der älteste Kapitän schüttelte ergriffen meine Hände, als die Bugbänder gesetzt wurden. Seiner Ansicht nach gäbe es keinen Grund, warum die Spray nicht vor der Küste von Grönland mit einem Wal längsseits der See trotzen solle.
Das Stevenstück bestand aus dem Stumpf einer prächtigen Solitäreiche. Es sprengte später auf den Kokosinseln ein Korallenriff entzwei, ohne den geringsten Schaden zu nehmen. Ein besseres Holz für den Schiffsbau als Weißeiche gibt es nicht. Die Bugbänder sowie alle Spanten bestanden aus diesem Holz. Sie wurden gedämpft und in die erforderliche Form gebogen. Es war bereits März, als ich richtig mit der Arbeit beginnen konnte, und es war kalt. Noch immer gab es reichlich Ratschläge von sachkundigen Experten. Wenn ein Walfangkapitän in Sicht kam, ruhte ich mich auf meinem Beil aus und plauderte ein wenig mit ihm. Die Jahres|18|zeiten vergingen während meiner Arbeit wie im Flug. Kaum waren die Spanten der Slup errichtet, als auch schon die Apfelbäume blühten. Dann kamen auch bald die Gänseblümchen und die Kirschen …“ (Slocum, 2014, S. 19–20).
So beginnt die Beschreibung der Weltumseglung von Kapitän Joshua Slocum, der von 1895 bis 1898 als erster Mensch allein um die Welt segelte. Für dieses Vorhaben restaurierte er zunächst ein Jahr lang ein altes Austernfischerboot mit Baujahr 1801. Joshua Slocum arbeitete draußen, im natürlichen Tageslicht, die Arbeit erfolgte kreativ und selbstbestimmt, ohne Zeitdruck, ohne Stempeluhr und mit Wertschätzung von anderen Menschen. Hinter der Arbeit stand ein größeres Ziel, die erste Ein-Hand-Weltumsegelung. Welch ein Gegensatz zum Neonlicht-Großraumbüro, wo lediglich die PC-Maus bewegt wird.
Die Arbeitswelt hat sich noch nie so schnell verändert wie in den letzten einhundertfünfzig Jahren. J. R. R. Tolkien, geboren 1892, lebte gerade in dieser Zeit – als Joshua Slocum um die Welt segelte – als kleiner Junge in Sarehole, einem Vorort von Birmingham, der von der Industrialisierung noch unberührt geblieben war. Diese ländliche Idylle wurde später zur literarischen Vorlage für das Auenland in seinem Hauptwerk „Der Herr der Ringe“. Handwerkliche Berufe und Tätigkeiten aus dieser Zeit, der Wende zum 20. Jahrhundert, sind heute mehr oder weniger ausgestorben: Holzschiffbauer, Segelmacher, Büchsenmacher, Falkner, Landkartenmaler, Papiermacher, Brillenmacher, Pfeifenmacher, Glasmacher, Hutmacher, Perlenstickerinnen, Spitzenklöpplerinnen, Korbflechter, Graveure, Zinngießer, Schriftgießer, Kupferschmiede, Hufschmiede, Bäcker, Ölmüller, Weber, Spielzeugmacher, Steinmetze, Drechsler, Fassbinder, Wagner, Kutscher, Postillione, Flößer, Säumer, Schäfer etc. (vgl. Palla, 2014).
In den hoch gelegenen Bergtälern der Alpen, die von der industriellen Revolution verschont blieben, existieren heute noch Gemeinschaften, die in ihren Tätigkeiten so weit aufgehen, dass sie kaum zwischen Arbeit und Freizeit unterscheiden. Als ein Team italienischer Psychologen unter Fausto Massimini und Antonella delle Fave die Einwohner aus dem Dörfchen Pont Trentaz im Aostatal nach ihrem Tagesablauf befragten, nannten diese Kühe melken, die Wiesen unterhalb des Gletschers mähen, Wolle kämmen und abends den Enkeln Geschichten erzählen oder Akkordeon spielen. Was ihr Leben kennzeichnete, war: draußen sein, mit den Leuten reden, bei den Tieren sein, in der Planung des Tagesablaufs frei sein. Als sie gefragt wurden, was sie tun würden, wenn sie genügend Zeit und Geld hätten, um nicht mehr arbeiten zu müssen, wiederholten sie die gleiche Liste an Aktivitäten (Csikszentmihalyi, 2008, S. 192–195).
Die Vergangenheit soll hier nicht verklärt werden; wer möchte heute noch wie vor hundert Jahren zum Zahnarzt oder in ein psychiatrisches Krankenhaus gehen? |19|Aber Depression ist eine Epidemie der modernen Welt und die Ursachen sind zahlreich. In der Arbeitswelt verzeichnen wir seit Jahren eine Verdichtung der Arbeit, eine massive Zunahme von Leistungs- und Zeitdruck sowie zunehmende Arbeitsplatzunsicherheit. 40 Prozent der Deutschen fühlen sich „abgearbeitet“, mehr als ein Drittel „kann nicht abschalten“ oder fühlt sich „ausgebrannt“ (Bauer, 2015, S. 76). Die Zahlen in der Schweiz sind ähnlich: In einer Umfrage im Jahr 2018 rangierten Überlastung und Stress bei den Faktoren für emotionale Belastungen an erster Stelle. 42 Prozent gaben an, sie hätten in den letzten zwölf Monaten unter diesen Phänomenen gelitten, der Hauptgrund war Druck am Arbeitsplatz (Hehli, 2018). Insbesondere haben die Beschleunigung und Kontrolle von Arbeitsabläufen und der dadurch verursachte Stress in einem solchen Ausmaß zugenommen, dass wir mit unserer biologischen Ausstattung immer schlechter in die selbst erschaffene Arbeitswelt hineinpassen. Die Welt ist im Wandel und vieles ist verloren gegangen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand heute eine Episode klinischer Depression durchlebt, ist zehnmal so groß wie noch vor einem Jahrhundert (Lyubomirsky, 2008, S. 49).
Selber Hand anzulegen, ist für viele geradezu exotisch geworden, junge Leute bilden sich vorzugsweise in „Wissensarbeit“ aus. Die Welt der postindustriellen Arbeit ist immateriell. Die heute gängige Arbeit ist zwar vielleicht gut bezahlt, erscheint aber vielen als sinnloser Leerlauf: Die Arbeit von Telefonvertrieb, Social-Media-Strategen, PR-Beratern, Verwaltungsangestellten, Personalverwaltern, Buchhaltern, Börsenhändlern, Bürokraten etc. findet in einer Welt aus Bürotürmen, Flughäfen, Autobahnen, Fitnessstudios und Shopping Malls statt. Neuerdings gibt es Anzeichen für einen Gegentrend, eine Revitalisierung des Manuellen. Tätigkeiten wie Gartenarbeit, Kochen oder an Oldtimern schrauben stehen hoch im Kurs – die Wiederentdeckung von praktischem Wissen und Geschicklichkeit. Das Erfahren von Körperfähigkeiten ermöglicht es zu sehen, was mit eigenen Händen erschaffen wurde: Handwerk als eine Seinsweise gegen die Entsubstanzialisierung unseres Lebens (vgl. Kaeser, 2018). Im Laufe der Evolution wurden unsere Körper und unsere Gehirne dafür geschaffen, reale Dinge mit den Händen zu begreifen und zu spüren und sich durch eine natürliche, überwiegend von Pflanzen und Tieren bewohnte, dreidimensionale Welt zu bewegen. Wenn dies nicht mehr möglich ist, verkümmern wir seelisch und körperlich.
„Die Arbeit kann, indem sie der Energie, der schöpferischen Lust und den Selbstverwirklichungsmöglichkeiten des Menschen ein fast grenzenloses Betätigungsfeld bietet, eine Quelle großen Glücks sein“, schreibt Joachim Bauer (Bauer 2013, S. 204). Überdurchschnittlich glücklich und gesund sind Menschen, die kreativ arbeiten. Solche Arbeit wird weniger schnell zur Routine, macht mehr Spaß, |20|und das Lösen von Problemen bietet auch einen Lernerfolg. Unser Gehirn dankt uns die Lösung eines neuen Problems mit Glückshormonen, dazu brauchen wir immer wieder neue Herausforderungen, die erfolgreich gemeistert werden (vgl. Förstl, 2009, S. 61). Doch bei sinnentleerten Arbeitsschritten, bei unmenschlichen Arbeitsverhältnissen oder bei verinnerlichtem...