2 Kapitel 2: Die Wissenschaft vom Glück
Nun erzähle ich Ihnen ein wenig über die Geschichte der Positiven Psychologie als Wissenschaft vom Glück und über einige der daraus entstehenden Modelle. Vielleicht können Sie dann besser verstehen, was Sie zu Ihrem persönlichen Glück brauchen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verfolgte die Psychologie drei wesentliche Ziele: die Heilung von psychischen Erkrankungen, die Förderung von außergewöhnlichen Begabungen und die Verbesserung der Lebensqualität. Nach dem Trauma des Zweiten Weltkriegs konzentrierte man sich jedoch nur noch auf die ersten beiden Ziele. Dadurch wurden zwar große Fortschritte bei der Linderung psychischer Erkrankungen gemacht, aber die positiven Aspekte des Lebens – Fragen wie: Was gibt dem Leben Sinn? Oder: Wie gedeiht der Mensch? – wurden in der Forschung vernachlässigt. Stattdessen sah die Psychologie die Menschen immer mehr als passive Opfer von krankhaften Trieben, Gehirnschäden oder externen Stressfaktoren an. Diese einseitige Wissenschaft wurde zur Psychologie des Negativen, die sich größtenteils auf die menschlichen Defizite konzentrierte und die den Schwächen mehr Aufmerksamkeit schenkte als den Stärken.
In den späten 1990er-Jahren entstand die Positive Psychologie als eigener Wissenschaftsbereich. Sie sollte einen Ausgleich in der Psychologie schaffen und mit wissenschaftlichen Methoden erforschen, was der Mensch braucht, um glücklich und leistungsfähig zu sein. Zu den Themen wie Wohlbefinden, Glück, positive Gefühle, Stärken, Optimismus, Hoffnung, Flow, Achtsamkeit, Liebe, Weisheit, Sinn, Mut, Kreativität, Authentizität, Motivation und Ziele wurde ausgiebig geforscht. Die Positive Psychologie basiert auf ihrer direkten Vorgängerin, der humanistischen Psychologie, die sich ebenfalls mit dem menschlichen Potenzial, mit Wachstum, Erfüllung und Selbstverwirklichung beschäftigte, statt nur zu fragen, was mit den Menschen nicht stimmt. Trotz ihres Namens beschäftigt sich die Positive Psychologie aber auch mit den negativen und problematischen Aspekten des Lebens. Es gibt sogar einen eigenen Bereich der Wissenschaft, der sich mit posttraumatischem Wachstum beschäftigt – mit den unerwarteten positiven Entwicklungen, die aus den schlimmsten Erlebnissen des Lebens entstehen können. Für alles Negative findet die Positive Psychologie Möglichkeiten, damit umzugehen. Zu ihren Forschungsbereichen gehört die Resilienz – die Fähigkeit, schwierige Phasen im Leben zu überwinden und trotz Widrigkeiten aufzublühen.
Begründet wurde dieser Bereich der Psychologie von Professor Martin Seligman, dem Autor der Bücher Pessimisten küsst man nicht, Der Glücks-Faktor und Wie wir aufblühen, und Professor Mihaly Csíkszentmihályi, der den Begriff »Flow« bekannt gemacht hat. Seligmans eigene Karriere spiegelte den Wandel in der Psychologie von der Erforschung des Negativen zum Positiven wider – von der »erlernten Hilflosigkeit« bis zum »erlernten Optimismus«. Das zentrale Thema der Positiven Psychologie ist die Erforschung des »subjektiven Wohlbefindens«, wie man das Glück in der Wissenschaft nennt. Es beschreibt unser persönliches Wahrnehmen unseres Wohlbefindens. Mittlerweile wissen wir viel mehr über die Anatomie des Glücks, darüber, was diesen Zustand ausmacht und wie man ihn erreicht. Wissenschaftler haben sogar Formeln dafür aufgestellt, von denen wir einige im Folgenden behandeln werden. Diese Modelle liefern Ihnen Hinweise dafür, wie Sie Ihr Wohlbefinden wiedererlangen können.
2.1 Die Glücksformel
Rund 40 Prozent Ihres Glücks unterliegen direkt Ihrer willentlichen Kontrolle und können durch frei gewählte Aktivitäten und Ihre Lebensanschauung positiv beeinflusst werden.(12) Unabhängig davon, wie viel Pech Sie im Leben haben, liegt ein großer Teil Ihres Glücks dennoch in Ihrer Hand:
G = V + L + W (13)
G ist Ihr dauerhaftes Glückslevel. Damit sind nicht vorübergehende Gefühle wie Freude gemeint, sondern Ihre grundlegende Zufriedenheit.
V ist die biologische Vererbung. Sie wird von Ihren Genen bestimmt und macht rund 50 Prozent Ihres Glücks aus. Nach bedeutenden positiven oder negativen Lebenserfahrungen kehren Sie allmählich wieder zu Ihrem Ausgangspunkt zurück.
L sind Ihre Lebensumstände. Sie machen nur etwa 10 Prozent des gesamten Glücks aus und das ist wahrscheinlich weniger, als Sie denken. Veränderungen in Ihrem Leben, etwa ein besserer Job oder ein Umzug in ein neues Haus, wirken sich also nur geringfügig auf Ihr Glück aus – obwohl wir uns oft gerade auf solche Veränderungen konzentrieren.
W ist der Anteil, der Ihrem Willen unterliegt. Er beläuft sich auf rund 40 Prozent. Das bedeutet, dass fast die Hälfte unseres Glücks durch bewusst gewählte Aktivitäten beeinflusst wird. Zu solchen Aktivitäten gehören auch die Praktiken in diesem Buch.
2.1.1 Glück ist …
Martin Seligman definierte die drei wichtigsten Wege zu authentischem Glück.(14) Sie werden Ihnen dabei helfen, Ihren eigenen Weg zu finden und zu erkennen, ob und wo es Ungleichgewichte in Ihrem Leben gibt.
Vergnügen ist alles, was angenehm ist: Freude, positive Gefühle, Energie.
Engagement ist der Anteil, den Sie an Ihrem Leben nehmen – im Beruf, mit Menschen, durch Aktivitäten. Zu ihm gehört auch der »Flow« – wenn alles »wie von selbst« läuft.
Sinn ist alles, was für Sie Bedeutung hat und Ihrem Leben eine Richtung gibt.
2.2 Die Elemente des Wohlbefindens (PERMA)(15)
Das Modell aus Vergnügen, Engagement und Sinn wurde 2011 zum »PERMA«-Modell ausgebaut, um weitere Elemente des Wohlbefindens zu integrieren. Jedes dieser Elemente wird in diesem Buch behandelt.
positives Gefühl (positive emotion)
Engagement (engagement)
Beziehungen (relationships)
Sinn (meaning)
Zielerreichung (accomplishment)
SWB (subjektives Wohlbefinden) = LZ + hoher PA + niedriger NA(16)
Diese Formel für subjektives Wohlbefinden berücksichtigt, wie Sie über das Glück denken (die kognitive Seite) und wie Sie sich fühlen (die emotionale Seite).
LZ steht für »Lebenszufriedenheit«. Sind Sie mit Ihrem Leben zufrieden oder besteht eine Diskrepanz zwischen Ihrem tatsächlichen Leben und dem Leben, das Sie sich wünschen? Je größer diese Diskrepanz ist, desto geringer ist Ihre Lebenszufriedenheit.
PA (hoch) steht für »positiver Affekt« und ist die Summe all Ihrer positiven Gefühle. Dabei geht es nicht um die Intensität der Gefühle, sondern um ihre Häufigkeit.
NA (niedrig) ist der »negative Affekt«, die Summe all Ihrer negativen Gefühle. Für ein subjektives Wohlbefinden muss der positive Affekt höher als der negative Affekt sein.
2.3 Seelisches Wohlbefinden(17)
Dieses Modell des Wohlbefindens besteht aus sechs Elementen. Können Sie jedes dieser Elemente abhaken, fühlen Sie sich seelisch wohl. Sind einige der Elemente nicht oder nur unzureichend vorhanden, sind das die Bereiche, die es zu fördern gilt.
Selbstakzeptanz – sich selbst so annehmen, wie man ist
positive Beziehungen – eine starke Verbindung zu anderen Menschen haben
Lebenszweck – Ziele und Aufgaben haben, die dem Leben Bedeutung geben
persönliches Wachstum – die persönliche Entwicklung fördern
Autonomie – eigenständig denken und handeln können
Umweltanforderungen meistern – das Leben und das eigene Umfeld erfolgreich bewältigen
Flow ist ein Zustand, in dem man engagiert und aufnahmefähig ist und so in eine interessante Aufgabe vertieft, dass man kein Zeitgefühl hat. Im Flow fühlen Sie sich völlig im Einklang mit Ihrer Aktivität und sind ganz im Moment versunken. Meist nimmt man das Wohlgefühl erst nach der eigentlichen Erfahrung wahr. Der Flow selbst ist ein neutraler Zustand. Oft sind es persönliche Interessen, die Sie in den Flow bringen. Das können kreative, sportliche, lehrreiche, berufliche oder spirituelle Tätigkeiten sein. Lesen, Tanzen, Gärtnern, Musizieren, Laufen und Kochen werden oft als Auslöser des Flows genannt. Wenn meine Coaching-Klienten nicht glauben, dass sie sich gut fühlen können, schlage ich ihnen vor, es mit einer Flow-Aktivität zu versuchen.
2.5 Selbstbestimmungstheorie(19)
Diesem Modell zufolge haben wir drei grundlegende Bedürfnisse, die erfüllt sein müssen, damit wir uns wohlfühlen.
Autonomie – das Gefühl, die Kontrolle über unser Handeln zu haben
Kompetenz – der Glaube an die eigenen Fähigkeiten
Eingebundenheit – das Vorhandensein von engen, stabilen Beziehungen
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