Die Entwicklung zum Mitmach-Web
Wir sind alle Zeugen. Zeugen einer Geschichte, die heute geschrieben wird. Die Zeiten, als das Internet ein reines Informationsmedium war, sind vorbei: Das Web hat sich in großen Entwicklungssprüngen zum Social Web gewandelt. Die heutige Netzrealität hat unser Leben bereits verändert; weitere tiefgreifende Entwicklungen, die sich auf unseren Medienkonsum auswirken, aber auch die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, stehen noch bevor. Dies bleibt nicht ohne Folgen für die Unternehmenskommunikation.
Machen Sie mit uns eine kleine Zeitreise zurück in das geschichtsträchtige Jahr 1990. Im Februar kam Nelson Mandela nach 27 Jahren Gefängnis wieder frei. Im April setzte das Space Shuttle »Discovery« das Hubble-Teleskop im Orbit aus. Im Oktober feierte Deutschland die Wiedervereinigung. Und dann, am 13. November, ereignete sich etwas, das unser Leben bis heute verändert hat. Tim Berners Lee, Erfinder des World Wide Web, stellte die allererste Website der Welt online[1]. Damit legte er den Grundstein für das »globale Dorf«, zu dem die Welt fortan dank elektronischer Vernetzung werden sollte. Seine Forschungsgruppe machte nicht nur das Verlinken von Dokumenten über Hypertext populär, sondern sie vertrat bereits damals auch die Ansicht, dass jeder Nutzer grundsätzlich in der Lage sein sollte, Inhalte ins Netz einzuspeisen und mit anderen Inhalten zu verknüpfen – heute wird dies als besonderes Merkmal des Web 2.0 hervorgehoben.
Abbildung 1.1 Die Entwicklung des Internets
Nach dieser »Pre-Web«-Phase (siehe Abbildung 1.1) folgte die erste Generation des Internet, die wir heute als »Web 1.0« kennen. Dieses war in den Anfängen neben den Universitäten noch vorwiegend Unternehmen vorbehalten, denn die technischen und finanziellen Hürden waren für private Anwender zu hoch. Bis Mitte der 1990er Jahre mussten für die Publikation von Inhalten technische Spezialisten hinzugezogen werden, was sich auf die Dynamik und Aktualität der Seiten auswirkte. Webauftritte waren virtuelle Visitenkarten und eine Übertragungsleitung für Präsentationen; das Internet war ein reines Abrufmedium, kommuniziert wurde über E-Mail.
Tim O’Reilly prägte 2004 den Begriff »Web 2.0«. Die Ziffern 2.0 haben sich zu einem Wert für eine Reihe von Veränderungen entwickelt, die Geschäftsmodelle, Prozesse der Softwareentwicklung und Nutzungspraktiken des Internets betreffen. Der Zusatz »2.0« spielt auf die Benennung von Software-Versionen an – wir sind der Meinung, dass die Bezeichnung »Social Web« noch besser geeignet ist, schließlich haben wir es hier mit Beziehungen zu tun. Aus diesem Grund verwenden wir bevorzugt den Begriff »Social Web«. Was macht das Social Web aus? Neu ist, dass der Konsument (Consumer) auch zum Produzenten wird (Prosumer). Er publiziert aber nicht nur Inhalte, die er selbst erstellt hat, sondern er kommentiert, korrigiert und bewertet auch Beiträge von anderen Usern. Diese Möglichkeit des gegenseitigen Austausches verschafft dem Web 2.0 die soziale Komponente.
Ein paar Zahlen zur Nutzung von Internet und Social Media im deutschsprachigen Raum
Fast 54,2 Millionen Deutsche sind online, das sind mehr als 77.2% der Bevölkerung. 46% der deutschen Internetnutzer haben ein eigenes Profil in einer Social Community angelegt, 89% davon nutzen Facebook.
In der Schweiz benutzen etwa 80% der Erwachsenen ab 14 Jahren das Internet täglich oder mehrmals pro Woche.
41% aller deutschen Nutzer gehen mit mobilen Geräten wie Laptops, Netbooks oder Tablet PCs online, fast 56% besitzen ein Smartphone und immerhin 66% ein »normales« Handy.
Über 1,189 Milliarden Menschen weltweit sind auf Facebook aktiv, davon 276 Mio. in Europa und über 25 Mio. in Deutschland.
Facebooks Nutzerzahlen sind in zwei Jahren um über 20% gewachsen.
Twitter konnte in zwei Jahren die Nutzerzahlen um 44% steigern, 232 Mio. User sind monatlich aktiv.
LinkedIn hat weltweit 259 Millionen Mitglieder, 4 Mio. entfallen auf die D-A-CH-Länder.
Bei Xing sind es 14 Millionen. Gut 6 Mio. davon entfallen auf die D-A-CH-Länder
Twitter wurde am 31. März 2006 lanciert, im November 2013 ging das Unternehmen an die Börse und war damit schneller als Facebook, das über acht Jahre wartete.
Mehr als 1 Milliarde Nutzer besuchen YouTube jeden Monat. Pro Minute werden 100 Stunden Video-Material hochgeladen.
Der zu Facebook gehörige Bilder-Sharing-Dienst Instagram hat weltweit 150 Mio. monatliche Nutzer.
Die mobile Messenger App WhatsApp hat weltweit über 340 Mio. Nutzer, mindestens 20 Mio. nutzen den Dienst auch in Deutschland, viele als Alternative zum Facebook Messenger.
Mehr als 70 Mio. nutzen die digitale Pinnwand Pinterest.
Heute stehen wir bereits an der Schwelle zum Web 3.0, dem sogenannten semantischen Web, das Informationen nach seiner Bedeutung klassifiziert. Die niedrige Schwelle zur Veröffentlichung von Texten, Fotos, Video oder Podcasts macht die Vielfalt von Informationen und Kanälen immer schwerer überschaubar. Eine Struktur muss her, und es sind die Nutzer selbst, die diese aufbauen. Bereits heute versehen sie Webeinträge mit Schlagworten (Tags) und legen diese online ab, sie kennzeichnen unangemessene Inhalte oder heben besonders wertvolle Beiträge mit Flags hervor. Mit RSS-Feeds stellen sie sich die Inhalte ihrer Wahl zu einem Nachrichtenstrom zusammen. Menschen strukturieren vor und machen Informationen für Computer verwertbar. Letztlich sind es dann Maschinen, welche diese Informationen im Web interpretieren und automatisch weiterverarbeiten. Wie schon im Web 2.0 ist jeder Teilnehmer gleichzeitig Produzent und Konsument.
So kommt das »social« ins Web
Alle sprechen von »social«, aber was bedeutet das in einer Online-Welt, in der sich die Menschen nicht persönlich zu Gesicht bekommen? Was macht das Social Web zu dem, was es heute ist? Müsste man einen Bauplan für das Social Web entwerfen, dürften folgende Elemente nicht fehlen:
Jeder kann publizieren.
Jeder kann Feedback geben und Dialoge beginnen.
Gespräche finden in einer ungezwungenen Sprache statt.
Wissen ist frei verfügbar und wird geteilt.
Die Hierarchien sind flach, Reputation entsteht durch Vernetzung.
Mit diesen neuen Kommunikationspraktiken sind heute auch Unternehmen und Organisationen konfrontiert. Umso wichtiger ist es, ihre Bedeutung zu verstehen. Schauen wir uns deshalb diese und weitere Merkmale des Social Web einmal aus der Nähe an.
Richtig. Jeder kann publizieren, auch Sie. Die technischen Schwellen dazu sind ja inzwischen ausreichend niedrig, wie wir gesehen haben. Wie sieht es bei Ihnen aus? Veröffentlichen Sie regelmäßig online Inhalte, die Sie selbst generiert haben? Falls Sie diese Frage mit ja beantworten können, dann gehören Sie einer Minderheit an. Denn entscheidend ist hier nicht das Publizieren, sondern das Können. In der Tat werden die wenigsten Onliner selbst aktiv. Die 90–9–1-Regel des dänischen Webexperten Jakob Nielsen besagt, dass im Social Web ein Verhältnis von passiver zu aktiver Teilnahme herrscht, das sich bemerkenswert konsequent durch alle Plattformen hindurch zieht (siehe Abbildung 1.2). Was verbirgt sich hinter 90–9–1?
Wir haben es bei jenen Menschen, die im Internet sind, mit einem großen, konsumierenden Publikum zu tun. Natürlich gibt es Abweichungen, wenn man die Zahlen exakt herunterrechnet, aber wir können 90–9–1 als Faustregel mitnehmen (im angelsächsischen Raum spricht man auch von der 1-Prozent-Regel). Die Medienjournalistin Ulrike Langer hat in ihrem Blog www.medialdigital.de einige Werte herausgearbeitet:
Auf ungefähr 90 User, die bei Wikipedia Einträge lesen, aber dort niemals auch nur ein fehlendes Komma korrigieren, kommen ungefähr neun, die bestehende Beiträge redigieren oder aktualisieren. Und nur einer von 100 veröffentlicht einen eigenen neuen Eintrag.
Auf 90 Käufer bei Amazon kommen ungefähr neun, die eine von jemand anderem verfasste Produktrezension bewerten. Aber nur einer setzt sich hin und schreibt selbst eine.
Auf 90 Facebook-Fans einer großen Marke kommen vielleicht zehn, die bei einem Beitrag auch mal den »Gefällt mir«-Button anklicken. Aber nur einer macht sich die Mühe, auch einen Kommentar in eigenen Worten zu formulieren, und sei es nur ein LOL! (Laughing Out Loud).