2 Schwierig und komplex
In unserem jährlich durchgeführten Seminar »Lernwerkstatt Großgruppenmethoden« lehren wir, dass gewisse Grundbedingungen für eine gelingende Großgruppenintervention erfüllt sein müssen. Dazu gehört unter anderem, dass die Systemspitze hinter dem Prozess stehen muss und dass es einen Leidensdruck braucht, wie wir dies im Kapitel »Grundlagen« bereits aufgeführt haben.
Was aber, wenn es keine eindeutige Systemspitze gibt? In Verwaltungen ist das häufig der Fall. Dort gibt es für gewisse bereichsübergreifende Themen keine zentrale Instanz, die Entscheidungsbefugnis für alle Bereiche hat. Die Prozessgestaltung ist hier dann besonders anspruchsvoll.
Anspruchsvoll ist die Prozessgestaltung auch bei Konflikten, wenn der Leidensdruck schon so hoch ist, dass die Betroffenen kaum mehr in der Lage sind, sich an einen gemeinsamen Tisch zu setzen, geschweige denn zusammen nach Lösungen zu suchen. Ist eine Konfliktklärung in einer Großgruppenkonferenz noch möglich?
Schwierige und komplexe Situationen treffen wir auch im politischen Kontext an, etwa bei Regionalplanungen oder Verkehrsplanungen, wo zahlreiche Akteure mit ganz unterschiedlichen Interessenslagen zusammenkommen. Können diese sich überhaupt in einem gemeinsamen Prozess, in einer Großgruppenkonferenz auf eine gemeinsame Grundlage, einen Common Ground einigen?
Die gute Nachricht zuerst: Die Großgruppenkonferenz kann in all diesen Fällen in einem der gewohnten Formate geplant werden! Wir müssen also in der Durchführung nichts Neues erfinden. Es sind vielmehr Fragen der Vorbereitung, die hier eine besondere Rolle spielen. Wenn es in der Vorbereitung gelingt, alle Beteiligten so einzubinden, dass die Großgruppenkonferenz überhaupt durchgeführt werden kann, wird die Konferenz als Durchbruch erlebt. Was in etwas geringerem Ausmaß für alle Großgruppeninterventionen gilt, gilt in schwierigen und komplexen Situationen in besonderem Maße: Sie werden als Ausnahmezustand im positiven Sinne erlebt. »Wir erleben zum ersten Mal, dass es möglich ist, dass wir alle gemeinsam und ohne hierarchische Stufen Lösungen erarbeiten!« oder »Ich hätte nie gedacht, dass ich mit denen einmal an einem Tisch gemeinsame Sache machen würde!«
(K)eine Systemspitze
Jedes Projekt braucht eine Systemspitze, welche die für das Gelingen des Projekts erforderliche Macht und Entscheidungsbefugnis hat. Im Regelfall ist dies über die Hierarchie oder die fachliche Funktion gegeben. Über eine Strategie oder die Leitplanken ihrer Umsetzung entscheidet die Unternehmensleiterin oder der Unternehmensleiter. In einigen Fällen entscheidet das Gremium der Unternehmensleitung mit Mehrheitsbeschlüssen oder Konsensbeschlüssen auf Antrag eines ihrer Mitglieder. Diese Beschlüsse sind dann unternehmensweit verbindlich.
In der Praxis treffen wir aber immer wieder Fälle an, in denen das so nicht gegeben ist. So im Beispiel »Führungsgrundsätze in der öffentlichen Verwaltung« (Kapitel 2.1.4), wo eine Personalabteilung zwar den Auftrag erhält, allgemein gültige Führungsgrundsätze zu entwickeln, dabei aber verpflichtet ist, dies auf konsultativem Weg in Abstimmung mit allen Verwaltungseinheiten zu tun. Ähnlich gelagert ist auch das Beispiel »Nachtleben und Nachtruhe« (Kapitel 2.1.3), in dem sich der Auftraggeber − der Leiter des Sicherheitsdepartements − mit zahlreichen Kolleginnen und Kollegen abstimmen muss. Bau- und Betriebsbewilligungen, Straßenreinigung, aufsuchende Sozialarbeit, Stadtentwicklung und viele andere Verwaltungseinheiten sind für die Konfliktklärung entscheidend, unterstehen ihm aber nicht.
Einen weiteren wichtigen Aspekt zeigt das Beispiel »Konfliktklärung im öffentlichen Straßenbau« (Kapitel 2.1.2). In diesem Beispiel verfügt die gewählte Behörde zwar über die entsprechende Entscheidungsbefugnis, ist also Systemspitze. Sie hat im öffentlichen Bereich aber keine Chance, wenn sie nicht allparteilich wirkt. Sie darf Wählerinnen und Wähler, Betroffene, Industrie etc. nicht verärgern. Zumeist wird in solchen Fällen eine Projektleitung eingesetzt, die möglichst bei allen Parteien Akzeptanz findet. Immer wieder werden auch wir angefragt, ob wir die »Projektleitung« für ein solches Projekt übernehmen könnten – was wir beharrlich ablehnen. Wir sind für den Prozess verantwortlich und brauchen gerade in komplexen Projekten ein Gegenüber, das die inhaltliche Verantwortung übernehmen kann.
Das Beispiel »Konfliktklärung zwischen Produktion und Zentrale« (Kapitel 2.1.1) zeigt, dass die Systemspitze manchmal »in den Ausstand« treten muss – um nachher die erarbeiteten Lösungen umso mehr zu unterstützen.
Massiver Leidensdruck – Konfliktklärung in Großgruppen
Wenn es in den vielen Veränderungsprozessen darum geht, einen »sense of urgency« zu erzeugen, so haben wir es in einigen Beispielen in diesem Kapitel mit der umgekehrten Situation zu tun: Der Leidensdruck ist allgemein schon so hoch, dass die betroffenen Parteien zwar unbedingt einen Klärungsprozess wollen, gleichzeitig aber wegen unterschiedlicher Vorgeschichten nicht mehr so recht an eine Veränderung glauben.
Deshalb ist in diesen Fällen der Vorprozess viel aufwendiger. Wenn wir uns in der Auftragsklärung üblicherweise eine Spurgruppe zusammenstellen lassen, mit der wir in ein bis zwei Sitzungen gemeinsam die Rahmenbedingungen für die Konferenz klären, braucht es in Konfliktfällen zunächst oft Einzelgespräche. Erst wenn es gelingt, die verschiedenen Anspruchsgruppen für einen gemeinsamen Prozess zu gewinnen, wenn sie zudem im Vorprozess erfahren, dass sie auch an der Art und Weise der Prozessgestaltung mitwirken können, erst wenn sie sehen, wie die Großgruppenkonferenz in etwa ablaufen wird und was mit den Ergebnissen geschehen wird, sind sie bereit, ihre jeweilige Interessensgruppe zu motivieren, in den Prozess einzusteigen und an der Großgruppenkonferenz teilzunehmen.
Die folgende Darstellung zeigt, wie die einzelnen Prozessschritte im Vergleich zu Mediationsverfahren verortet werden können:
Abb. 7: Großgruppenprozess und Mediation im Vergleich
Die üblichen Großgruppenmethoden
Wir verwenden auch in schwierigen und komplexen Prozessen die üblichen Großgruppenmethoden. Was in den Beispielen in diesem Kapitel aber auffällt: Bis auf eines starten alle mit einem World Café. Warum ist das so? In allen Beispielen dieses Kapitels ist die Skepsis, »ob das was wird«, besonders groß. Wir gestalten den Einstieg in solche Prozesse oft niederschwellig, mit nicht allzu großem zeitlichem Aufwand für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Im World Café erreichen wir trotz knapper Zeit durch die permanenten Sitzgruppenwechsel eine maximale Verdichtung. Alle können ihre Positionen und Interessen vielfach einbringen und die Erfahrung machen, dass alle Meinungen erlaubt sind. Sie erleben, dass die Empfehlungen tatsächlich entgegengenommen werden. Wenn dann bei der nächsten Konferenz nachvollziehbar wird, wie mit den Empfehlungen weitergearbeitet wurde, steigt das Vertrauen in den Prozess trotz kurzem Einstieg massiv.
E-PARTIZIPATION
E-Partizipation wird zunehmend ein Thema. Viele Firmen haben erste Erfahrungen damit gemacht, und auch im öffentlichen Bereich kommen laufend neue spannende Produkte auf den Markt. Die Einbindung von solchen Tools erhöht die Komplexität der Prozesse.
In den wenigen Beispielen, in denen wir E-Partizipation bisher eingesetzt haben, haben sich zwei Vorgehen bewährt:
- Eine möglichst repräsentativ zusammengestellte Gruppe entwickelt in einer Großgruppenkonferenz, wie auch sonst üblich, konkrete Empfehlungen. Diese Empfehlungen stellen wir nun in eine Dialogplattform. In der E-Partizipation wird also nicht bei null angefangen. Die Dialogteilnehmerinnen und -teilnehmer diskutieren ausschließlich die durch die Großgruppenkonferenz bereits breit abgestützten Ergebnisse. Sie machen damit quasi einen Plausibilitätscheck. Die Arbeits- bzw. Projektgruppen nehmen die Hinweise aus der E-Partizipation als Ergänzungen zu den Resultaten der Großgruppenkonferenz auf und bauen sie in die Folgeschritte ein.
- Vor der Großgruppenkonferenz wird die ganze Mitarbeiterschaft eines Unternehmens oder die Bevölkerung einer Stadt beispielsweise aufgerufen, zu einem Kernthema Stellung zu nehmen. Die Resultate werden für die Großgruppenkonferenz aufbereitet und kommen als Input in die Konferenz. Die E-Partizipation sensibilisiert die Teilnehmerinnen und Teilnehmer so bereits vor der Konferenz für das...