1. Advent: Die Unsicherheit akzeptieren!
Bibeltext: Lk 21, 25-28.34-46
1. Advent Wir stehen am Anfang des Kirchenjahrs. Wir feiern den 1. Advent. Wir wünschen uns vielleicht ein schönes, einfaches Wohlfühl-Evangelium. Aber gegen diesen Wunsch macht uns die Leseordnung einen Strich durch die Rechnung. Am 1. Advent hören wir in jedem Lesejahr einen apokalyptischen Text: Wir hören von Krisen, Kriegen, Katastrophen. Wir hören von Ängsten. Wir werden zur Wachsamkeit aufgefordert. Und am Ende der Zeiten wird der Menschensohn die Geschichte der Menschheit vollenden.
Viele wünschen sich sicherlich am 1. Advent ein einfaches Wohlfühl-Evangelium und bekommen dies stattdessen zu hören. Damit zwingt uns der 1. Advent, dass wir uns einer grundsätzlichen Herausforderung stellen:
Herausforderung Wir Menschen leben immer in einer unsicheren, komplexen, teilweise chaotischen Welt. Zufälle passieren und können unberechenbare Folgen haben. Wir sind so vernetzt und verflochten: Ereignisse am einen Ende der Welt können unvorhersehbare Folgen am anderen Ende bewirken.
Wir wünschen uns eine sichere und überschaubare Welt. Und genau hier sagt der 1. Advent: Nein – eine völlig sichere und überschaubare Welt bekommst du nicht!
Also fragt uns der 1. Advent: Wie gehst Du mit dieser unsicheren, komplexen Welt um?
Strategien Es gibt völlig sinnvolle Strategien, um in die unsichere und komplexe Welt Sicherheit und Ordnung zu bringen. Wir haben zurecht eine Krankenversicherung, eine Rentenversicherung, eine Arbeitslosenversicherung oder eine Kfz-Versicherung. Auf gesellschaftlicher Ebene schafft die Polizei und der demokratische Rechtsstaat eine Sicherheit und Ordnung.
Und objektiv betrachtet ist unsere Zeit, wenn man in Europa lebt, eine Zeit mit unvergleichlicher Sicherheit und Ordnung! Medizinisch gab es noch nie so viel Sicherheit. Noch nie gab es in Deutschland so lange einen Staat ohne Krieg, ohne Bürgerkrieg, ohne überbordende Kriminalität.
Wir Menschen haben wirklich viel Ordnung und Sicherheit in eine unsichere Welt gebracht!
Wir können sehr, sehr dankbar sein, dass wir in einer sicheren und geordneten Welt leben! Viele Menschen in Deutschland machen sich das vielleicht zu wenig bewusst!
Angst vor der ungewissen Zukunft Aber trotzdem haben Menschen in Deutschland, in Europa und auf der Welt Ängste vor der ungewissen Zukunft. Wir erleben, dass unsere selbst geschaffene Ordnung und Sicherheit nie völlig sicher ist. Und wir erleben, dass grundsätzliche Konstanten unseres sicheren Lebens der letzten 70 Jahre zu bröckeln anfangen: Die Natur ächzt unter Ausbeutung und Klimawandel. Unwetter wie Hurrikans, Tsunamis werden häufiger und stärker. So ein heißes Jahr wie das Jahr 2018 hatten wir noch nie!
Ebenso auch unser normales gesellschaftliches System ist im Wandel. Der Münchner Soziologe Nassehi meinte in einem Interview: „Das Institutionengefüge, an das wir uns gewöhnt haben, ist unter Druck geraten. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat es der Industriestaat des Westens für eine Weile geschafft, den Eindruck zu erzeugen, die Welt lasse sich kontrollieren, Risiken und Konflikte ließen sich einhegen. Es gab gut organisierte Kämpfe zwischen Kapital und Arbeit, mit starken Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, es gab Normallebensverläufe, die gewissermaßen ein kalkulierbares Leben möglich gemacht haben.“1
Die moderne Technik und moderne Wirtschaft, die mehr Sicherheit und Ordnung bringen sollte, bringt uns neue Unsicherheit und neue Komplexität!
„Wir erleben gerade einen Realitätsschock. Krisen gab es immer schon, doch ebenso ein paar Gewissheiten, auf die wir uns verlassen zu können glaubten: Das deutsche Parteiensystem ist stabil, die USA stehen an unserer Seite, der europäische Einigungsprozess schreitet weiter voran. […] Mittlerweile wissen wir, dass diese Sicherheiten nicht mehr gelten. Viele Menschen fühlen sich dadurch überfordert. Aber es hilft nichts: Wir müssen lernen, uns in einer Welt einzurichten, in der unsere Erwartungen viel öfter unterlaufen werden als bisher.“2
Wie kann man auf diese unsichere Zukunft, auf die hochkomplexe, vernetzte und unberechenbare Welt reagieren? Falsche Antworten: Verschwörungstheoretiker Eine falsche Antwort geben Verschwörungstheoretiker. An dieser extremen Reaktion kann man etwas sehr wichtiges verstehen. Wenn Verschwörungstheoretiker behaupten, dass eigentlich geheime Mächte in der US-Regierung die Twin-Towers zerstört haben, um einen Überwachungsstaat zu errichten und das Öl im Nahen Osten durch Kriege zu kontrollieren, dann erreichen sie in ihrem Denken etwas: Eine total unübersichtliche, hochkomplexe Welt wird auf einmal total erklärbar. Sie haben eine überschaubare Theorie und einen eindeutigen Bösewicht, auch wenn dieser eine versteckt und anonym arbeitende Machtgruppe ist – all das beseitigt unüberschaubare Komplexität, Zufälligkeit, Unberechenbarkeit. Alle Verschwörungstheoretiker haben eines gemeinsam: Sie halten absolut nicht die unüberschaubare, undurchdringliche Komplexität, Zufälligkeit, Unberechenbarkeit unserer Welt aus. Lieber einer völlig abwegigen Erklärung folgen als die Unübersichtlichkeit und Unsicherheit akzeptieren!
Aber so ist die Welt. Der 1. Advent zwingt uns dazu, wachsam die Realität anzuschauen!
Und in unserer heutigen Welt sind die Dinge „viel mehr miteinander verwoben als früher. Nehmen Sie das Finanzsystem. Milliarden werden da in Sekunden über den Globus hin- und hergeschoben, und plötzlich bringt eine Immobilienkrise in den USA die Weltwirtschaft dem Kollaps nahe. Oder die sogenannte Flüchtlingskrise: Ein Bürgerkrieg in Syrien produziert Millionen Flüchtlinge, die bald in deutschen Turnhallen sitzen – und am Ende droht die Europäische Union auseinanderzufliegen.“3
Falsche Antworten: Populisten und Nationalisten Eine zweiter extremer Umgang mit der unübersichtlichen Welt ist der Populismus: Sie halten einfache Lösungen für komplexe Probleme und Fragestellungen bereit. Eine Mauer zwischen Mexiko und USA bauen, Strafzölle erhöhen – Probleme gelöst. Wenn die Probleme trotzdem nicht gelöst sind, sucht man Sündenböcke: z. B. der politische Gegner, der die genialen Lösungen verhindert! Aber der Komplexität werden die einfachen Lösungen der Populisten nicht gerecht!
Der dritte extreme Umgang halten die Nationalisten bereit: Lange Zeit half der Nationalstaat, Komplexität zu bändigen. Die bürgerliche Lebensform schuf die Illusion, der Bürger habe die Kontrolle über sein eigenes Leben. Aber unsere Welt ist über Nationen hinaus zu stark vernetzt, als dass wir in einer Nation die Probleme lösen könnten. Der Brexit wird die Briten nicht zu neuer Macht und Reichtum gereichen sondern vielmehr in ein Desaster führen!
Also wie können wir positiv und sinnvoll mit der unüberschaubaren, hochkomplexen Welt umgehen?
Zwei Zitate und einige Tugenden:
Ich möchte zwei denkwürdige Zitate anführen. Der berühmte Psychologe Erich Fromm meinte einmal: „Ungewissheit ist gerade die Bedingung, die den Menschen zur Entfaltung seiner Kräfte zwingt.“
Und Gerd Gigerenzer, deutscher Kognitionspsychologe, der Risikoentscheidungen erforschte, stellte lakonisch fest:
„Absolute Gewissheit macht das Leben langweilig. Wer will schon alles im Voraus wissen.“
Damit wir uns der Herausforderung unserer unsicheren und komplexen Welt stellen können, brauchen wir einige Tugenden: Staunen, Demut, Beweglichkeit und Mut, Neues zu wagen, Versöhnung mit dem Nicht-Perfekten, und zuletzt Gottvertrauen aufgrund Jesu Geburt!
Staunen: Wir können die Perspektive umdrehen und uns staunend fragen, warum funktioniert eigentlich so vieles? Die moderne Welt ist unkoordiniert, und trotzdem: die U-Bahnen fahren, Flugzeuge fallen nicht vom Himmel. Man muss sich gelegentlich klarmachen, was da für eine Logistik dahintersteckt. Also, diese Welt hat eine Struktur, und trotzdem sitzen viele in dieser saturierten Gesellschaft und sagen: Nichts funktioniert!
Demut: Ich sage mir demütig, ich kann nicht alles überschauen, kontrollieren, lenken und steuern. Das müssen sich Eltern bei der Kindererziehung sagen. Noch vielmehr müssen sich das Politiker wie die Kanzlerin Merkel sagen. Die Demut verhindert uns, den größten Fehler zu machen: Nämlich weiter so zu tun, als könnten wir alle Dinge kontrollieren. Können wir nicht! Und mit dieser Nicht-Kontrollierbarkeit müssen wir rechnen und uns mit ihr arrangieren.
Beweglichkeit, Mut, Neues wagen: Wer die Komplexität und Unberechenbarkeit demütig annimmt, der kann neue Beweglichkeit und Mut entwickeln, Neues zu wagen. Dazu gehört die Demut, dass nicht alles klappen muss, ja klappen kann, weil in dieser Welt nie alle Folgen überschaubar sind!
Gottvertrauen Zuletzt schaue ich an diesem 1. Advent auf...