2 Das biblische
Menschenbild
2.1 Einleitung
Die Bibel kennt die anthropologische Grundfrage: Was ist der Mensch?
Was ist der Mensch, daß du sein gedenkst, und des Menschen Sohn, daß du dich um ihn kümmerst? (Psalm 8,5)
Was ist der Mensch, daß du ihn groß achtest und daß du dein Herz auf ihn richtest? (Hiob 7,17)
Mose aber antwortete Gott: Wer bin ich, daß ich zum Pharao gehen und die Söhne Israels aus Ägypten herausführen sollte? (2. Mose 3,11)
Und Abraham antwortete und sagte: Siehe doch, ich habe mich erdreistet, zu dem Herrn zu reden, obwohl ich Staub und Asche bin. (1 Mose 18,27)
Und die Bibel weiß auch um die Fragen Gottes nach den Menschen, wie sie in Psalm 8 und Hiob 7 (s. o.) und auf den ersten Seiten der Bibel anklingen:
Und Gott, der Herr, rief den Menschen und sprach zu ihm: Wo bist du? (1. Mose 3,9)
Das Wesentliche der biblischen Sicht des Menschen ist, dass sie ihn als ,Mensch Gottes‘, also in Beziehung zu seinem Schöpfer, sieht. Der Mensch ist kein selbst-mächtiges Zentrum oder wird nur von seiner „Selbstbezüglichkeit“ her gesehen, sondern immer in der Beziehung von Schöpfer und Geschöpf (vgl. Janowski in Wolff 2010, 391-392). Darüber hinaus finden wir diese relationale Sicht des Menschen in der Bibel auch im Hinblick auf den Bezug zum Nächsten, die Umwelt und sich selbst (s.u. 2.6 „Der Mensch als Beziehungswesen“).
2.2 Keine einheitliche Lehre vom
Menschen
Das alttestamentliche Menschenbild weist Mehrschichtigkeit und Vieldimensionalität auf (vgl. Janowski in Wolff 2010, 402), aber es liegt uns nicht als einheitliche Lehre vom Menschen vor (Wolff 2010, 24). Trotz dieser Bedingungen und Einschränkungen zeigt sich, „dass der Konsens im Zeugnis über den Menschen bei allem Wandel sprachlicher Formen geistesgeschichtlich erstaunlich ist“ (Wolff 2010, 24). Wenn also in der Bibel keine einheitliche Lehre vom Menschen vorliegt, dann muss das biblische Menschenbild aus den Texten des Alten und Neuen Testaments selbst erschlossen werden. „Biblische Anthropologie (...) wird ihren Einsatz dort suchen, wo innerhalb der Texte selbst erkennbar nach dem Menschen gefragt wird“ (Wolff 2010, 24), aber auch, wo man offen ist für „theologisches Begreifen der anthropologischen Phänomene“ (vgl. Wolff 2010, 24–25).
2.3 Hans Walter Wolffs Grundlagenarbeit
zum biblischen Menschenbild
Hans Walter Wolff, dessen „Anthropologie des Alten Testaments“ einen Höhepunkt alttestamentlicher Wissenschaft markiert (vgl. Janowski in Wolff 2010, 392), behandelt das Thema unter den drei Aspekten einer Anthropologischen Sprachlehre, einer Biografischen Anthropologie und einer Soziologischen Anthropologie. Die Auswahl der Hauptaspekte eines biblischen Menschenbildes orientiert sich im Folgenden schwerpunktmäßig an Wolffs „Anthropologie des Alten Testaments“ (Wolff 2010) und neueren, ergänzenden Arbeiten. Sie erfolgt mit dem Ziel, eine Vergleichsbasis zu erarbeiten für die noch zu behandelnden Persönlichkeitstheorien, Personenmodelle oder Menschenbilder neueren Datums (vgl. Kapitel 3–6). Im Kapitel „Anthropologische Sprachlehre“ behandelt Wolff die Begriffe, mit denen die Bibel am häufigsten den Menschen beschreibt: Herz, Seele, Fleisch und Geist (vgl. für die folgenden Ausführungen Wolff 2010, 29 ff). Er warnt vor dem folgenschweren Missverständnis einer „dichotomischen oder trichotomischen Anthropologie“, die ausgehend von griechischer Sprache (altgriechische Übersetzung der Septuaginta) und griechischer Philosophie (Platon) die semitisch-biblischen Anschauungen überfremdet oder verdrängt und dadurch den Körper, die Seele und den Geist in Gegensatz zueinander geraten lässt.Gemeint ist damit, dass nach griechischem Verständnis der Mensch eine Seele hat, nach biblischem Verständnis – je nach Kontext des hebräischen Begriffs (Seele) – diese jedoch den ganzen Menschen bezeichnet und nicht nur einen Teil von ihm. Darauf wird weiter unten ausführlich eingegangen.
2.4 Besonderheiten des biblischen Redens
vom Menschen
Zwei Kennzeichen des alttestamentlichen Sprachgebrauchs sind von besonderer Bedeutung.
1. Der Parallelismus der Sprachglieder, Stereometrie des Gedankenausdrucks Ein Beispiel dafür finden wir in Psalm 84,3:
Meine Seele lechzt, ja sehnt sich nach Jahwes Vorhöfen, mein Herz und mein Fleisch jubeln dem lebendigen Gott zu. (Übers.: H. W. Wolff)
Seele, Herz und Fleisch stehen hier in ,Parallele zueinander‘, d.h., dass sie nicht selten untereinander austauschbar sind, ja man könnte auch das Pronomen ,ich‘ für sie setzen: ,ich‘ mit den Aspekten meiner Person, nämlich Seele, Herz und Fleisch, jubele dem lebendigen Gott zu. In Sprüche 2,10–11 werden Herz, Seele und die Pronomina dir und dich parallel genannt:
Denn Weisheit zieht ein in dein Herz, und Erkenntnis wird deiner Seele lieb. Besonnenheit wacht über dir, Verständnis wird dich behüten.
Der Sinn der in Parallele stehenden anthropologischen Begriffe ist dabei nicht die bedeutungsgleiche Aussage, sondern deren Aspektivität. D.h., der Mensch wird durch das Anführen zweier oder mehrerer Aussagen von verschiedenen Seiten her beleuchtet. Damit kommt er besser, reichhaltiger in den Blick als durch eine Aussage allein. Weil die Aussagen jedoch nicht deckungsgleich sind, addieren sie sich durch ihre unterschiedlichen Akzente zu einer Gesamtaussage (vgl. Wagner 2009, 188). Dieses Beleuchten des Menschlichen von verschiedenen Seiten wird auch als ,Stereometrie des Gedankenausdrucks‘ bezeichnet.
2. Das synthetische Denken Damit ist gemeint, dass die hebräischen Schreiber Organe oder Glieder des menschlichen Leibes verwenden, um die typisch menschlichen Möglichkeiten, Tätigkeiten oder Erfahrungen zu benennen oder zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird mit der Nennung eines Körperteils dessen jeweilige Funktion mitgedacht (Synthese). Heißt es in Jesaja 52,7:
Wie schön sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten ...
so ist mit den schönen Füßen nicht deren graziöse Gestalt, sondern ihre flinke Bewegung gemeint, so dass sinngemäß zu übersetzen ist:
Wie schön ist, dass der Bote über die Berge heraneilt.
Die Füße werden genannt, deren Funktion es ist, mit ihnen heranzueilen.
In Richter 7,2 heißt es:
Meine Hand hat mir geholfen.
Damit ist der Selbstruhm, die eigene Kraft, das eigene Zupacken gemeint. „Das Glied und sein wirksames Handeln werden zusammen geschaut“ (Wolff 2010, 31). Das ist mit ,synthetischem Denken‘ gemeint.
2.5 Ziele einer biblisch-anthropologischen
Sprachlehre
In der Einführung in seine biblisch-anthropologische Sprachlehre fasst Wolff die Aufgabe derselben in drei Punkten zusammen (vgl. Wolff 2010, 31):
- mit dieser biblisch-anthropologischen Sprachlehre den Bedeutungsreichtum der Wörter, die den Menschen beschreiben, hervorzuheben
- das synthetisch-stereometrische Denken der biblischen Schreiber in unsere heutige analytisch-differenzierende Sprache zu übertragen
- die semantische Weiträumigkeit der anthropologischen Hauptbegriffe zu erschließen Mit diesen ist ein erster Zugang zum biblischen Menschenbild gegeben, „da mit den wesentlichen Organen zugleich kennzeichnende Fähigkeiten und Eigenarten des Menschen und damit typische Aspekte des Menschlichen ins Blickfeld treten“.
Als ,anthropologische Hauptbegriffe‘ nennt Wolff die traditionell mit Seele, Fleisch, Geist und Herz übersetzten Begriffe, deren typisch biblische Aspekte im Abschnitt 2.7 „Biblische Grundworte zum Menschen“ (s.u.) erschlossen werden. Zunächst sollen jedoch einige wichtige biblische Grundaussagen zum Menschen behandelt werden.
2.6 Biblische Grundaussagen zum
Menschen
Gott schafft den Menschen nach seinem Bild Eine der wichtigsten biblisch-anthropologischen Grundaussagen – Janowski nennt sie ,Axiom der Geschöpflichkeit‘ (Janowski in Wolff 2010, 401) – steht auf den ersten Seiten der Bibel:
Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn; als Mann und Frau schuf er sie. (1. Mose 1,27)
In welchem Sinn ist der Mensch ,Bild Gottes‘? (vgl. Wolff 2010, 229 f). Damit ist zunächst gesagt, dass es eine Entsprechung zwischen Gott und Mensch gibt. Die Eigenart des Menschen besteht in seinem besonderen Verhältnis zu Gott. In der Selbstberatung und dem Entschluss Gottes, den Menschen zu schaffen nach 1. Mose 1,26a
Und Gott sprach: Lasst uns Menschen machen in unserm Bild, uns ähnlich!
wird deutlich, dass noch genauer von Gottes Verhältnis zum Menschen zu sprechen ist „als der Voraussetzung zum Selbstverständnis des Menschen“. Diese besondere Beziehung zwischen Gott und den Menschen wird in der sogenannten Segensrede...