Aufgrund der ausführlichen Vorstellung des Münsteraner Straßenmagazins „draußen!“ im beiliegenden Praktikumsbericht kann im folgenden Abschnitt auf detaillierte Ausführungen zur Einrichtung verzichtet werden. Da Organisationen aber nicht nur durch die Binnenperspektive erklärt werden können, soll im folgenden der Fokus eher auf das Umfeld des Münsteraner Straßenmagazins und dessen lokale Bedeutung gelenkt werden. Dieser Ansatz wird auch in der ökonomischen Organisationsforschung vertreten: „Entwicklungen in der Praxis und theoretische Überlegungen zeigen [aber], dass gerade die Organisation des Unternehmensumfeldes [...] und die Organisation an den Grenzen der Unternehmung [...] erhebliche Bedeutung für den Erfolg und die Ausgestaltung von Unternehmensstrukturen haben.“[43] Um dieses Umfeld näher zu beleuchten, soll die „draußen!“ kurz in die Ergebnisse der Befragung „Vereine in Münster“[44] von ZIMMER eingegliedert werden.
Neben Statistiken und Statuten kann auch ein Gründungsmythos, der von Mitglied zu Mitglied und Freiwilligem zu Freiwilligem weitergegeben wird, viel über den Geist aussagen, der einen Verein prägt. Vorangehend soll deshalb kurz der erste Schritt hin zur Gründung eines Straßenmagazins in Münster nachgezeichnet und eingeordnet werden.[45]
Der erste Schritt hin zu der Gründung einer Straßenzeitung in Münster wurde in den Neunziger Jahren unternommen. Aufgrund der grassierenden Wohnungsnot begannen sich Wohnungslose locker in der sogenannten „Berbergilde“ zu organisieren, um auf ihre Situation aufmerksam zu machen. Einer der Aktiven in der Berbergilde, der Wohnungslose Karl-Heinz Weiten, kam im Winter 1989 auf die Idee für eine öffentlichkeitswirksame Aktion: Die Berbergilde sammelte Spielzeug und beschloss, dieses am Nikolaustag vor dem Sozialamt in Münster kostenlos zu verteilen, um einerseits auf materielle Not von Kindern in der Weihnachtszeit, andererseits aber auch auf die eigene Lage am Rande der Gesellschaft aufmerksam zu machen. Die Aktion stieß auf ein großes mediales Echo, unter anderem erfuhr der Journalist Peter Wolter von der Aktion. Wolter hatte auch von der in Gründung befindlichen Straßenzeitung „Hinz und Kunzt“ in Hamburg erfahren und schlug Weiten aufgrund der bestehenden losen Strukturen der Berbergilde in Münster und dem offensichtlichen Willen vieler Wohnungsloser, ihre Situation nicht hinzunehmen und sich sogar für die Belange anderer sozial Schwacher einzusetzen die Gründung einer sozialen Straßenzeitung in Münster nach dem Hamburger Vorbild vor, die nach einigen Jahren von Koordinierungsbemühungen schließlich 1994 ihre Arbeit aufnahm.
Die Geschichte vom „Nukleus“ der „draußen!“, der Berbergilde, die versucht spontan und selbstlos sich und anderen zu helfen, hat heute bei den „draußen!“-Mitarbeitern noch immer Popularität.[46] Dies lässt Rückschlüsse auf eine Sympathie für spontanen Aktionismus und die Favorisierung des Konzepts der „Hilfe zur Selbsthilfe“ innerhalb der „draußen!“ zu. Aus der Perspektive eines teilnehmenden Beobachters lässt sich sagen, dass Spontaneität und der Wunsch nach konkreter Hilfestellung im Einzelfall bis heute die Arbeit bestimmen. Treffend hat dies die Sozialarbeiterin im Interview umschrieben: „Wenn es draußen kalt ist, muss ich kucken, ob ich für die Verkäufer noch ein paar warme Handschuhe im Keller habe. Da kann ich keinen Antrag stellen; bis dahin ist der Winter vorbei.“[47] Die offensichtliche Präferenz für Aktionismus und unbürokratische Hilfe innerhalb der „draußen!“ bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Chancen zur Durchsetzung eines Zielmanagementsystems. Dieses Problem wird in Kapitel 3.2 weiter unten noch ausgeführt werden. Zunächst sollen noch einige Basisdaten zur „draußen!“ vorgestellt und gleichzeitig die Stellung der Straßenzeitung in der Münsteraner Vereinslandschaft verortet werden.
Momentan hat der gleichnamige Trägerverein der Straßenzeitung nach Aussagen des Vorsitzenden 20-30 Mitglieder[48] und gehört damit zu den Kleinstvereinen nach der Definition von ZIMMER.[49] Bei der Charakterisierung von Vereinen sollte aber nicht nur auf die Mitgliederzahl verwiesen werden.[50] Diese kann aufgrund der häufig großen Anzahl passiver oder Fördermitglieder irreführend oder sogar verfälschend sein. Als zusätzliche Indikatoren sind Finanzkraft, hauptamtliche Beschäftigung und Umfang des freiwilligen Engagement heranzuziehen.
Nach Angaben des Vorsitzenden ist die Haupteinnahmequelle des Vereins der Heftverkauf.[51] Genaue Zahlen können aufgrund einer mit dem Vorsitzendem und dem Geschäftsführer der „draußen!“ aus Datenschutzgründen getroffenen Vereinbarung hier nicht genannt werden. Es ist aber eine Hochrechnung der Einkünfte möglich: Bei einer durchschnittlichen monatlichen Auflage von 7000 Stück und dem unterstellten Abverkauf aller Hefte nimmt der Verein hierdurch monatlich nach Abzug des Verkäuferanteils (gegenwärtig € 0,70) geschätzte
€ 7700,00 ein. Hinzuzurechnen sind noch Spenden und Anzeigehonorare in Höhe von monatlich schätzungsweise 1000,00 €, sodass Jahreseinnahmen von fast
€ 100000,00 erreicht werden. In finanzieller Hinsicht gehört die „draußen!“ damit nach der Einstufung von ZIMMER zur Kategorie der Großverein in Münster, die in dieser Kategorie mit 15 % eher eine Minderheit stellen, meistens jedoch soziale Dienste sind. Die Zeitung folgt dem für Vereine in Münster typischen Mischfinanzierungskonzept[52], allerdings gelingt es ihr nicht, sich aus der auch für die Mehrheit der anderen Münsteraner Vereine typischen Abhängigkeit von einer Finanzquelle (hier: Heftverkauf) zu lösen.[53] In dieser Hinsicht stellt die „draußen!“ unter den Sozialen Diensten in Münster, zu denen sie zu rechnen ist[54], allerdings einen Sonderfall dar. Während diese generell nur zehn Prozent ihrer Gesamteinnahmen durch eigenwirtschaftliche Zwecke erzielen, liegt der Anteil bei der „draußen!“ vermutlich deutlich höher. Die Grundannahme, dass Straßenzeitungen soziale Ziele über marktorientierte Wege erreichen wollen, trifft also eindeutig auch auf die „draußen!“ zu.[55] Zwar hat die „draußen!“ wiederholt versucht, sich aus dieser Abhängigkeit durch die Acquise städtischer Mittel (institutionelle Förderung) zu lösen, was aber bisher ohne Erfolg geblieben ist.[56]
Gegenwärtig beschäftigt der „draußen!“ e.V. zwei festangestellte Mitarbeiter (Chefredakteur und Sozialarbeiterin) sowie eine Honorarkraft (Layouter) und hat etwa drei bis fünf freiwilligen Mitarbeiter.[57] Die Gremienarbeit im Vorstand wird unentgeltlich geleistet. Die weiteren Mitglieder bleiben in der Vereinsarbeit überwiegend passiv oder sind dem Verkäuferstamm zuzurechnen.[58] Die Zahl der Freiwilligen der „draußen!“, die gegenwärtig (Stand: September 2007) sehr niedrig ist, ist nach ZIMMER untypisch für Kleinstvereine, die im Verhältnis zur Gesamtmitgliederzahl generell deutlich mehr Ehrenamtliche binden, als größere Vereine.[59] Grund hierfür könnte der überdurchschnittlich hohe Anteil Festangestellter sein.
Die „draußen!“ ist aufgrund ihrer Organisationsstruktur und Mitgliederzahl ein Kleinstverein mit einer überdurchschnittlich hohen Zahl von festen Angestellten, der sich hauptsächlich aus einer Einnahmequelle finanziert. Die Tatsache, dass die Jahreseinnahmen denen eines Großvereins entsprechen, sollte nicht überbewertet werden. Ein großer Teil der Bruttoeinnahmen wird monatlich für den Druck des Heftes verwendet, sodass kaum freie Mittel für Investitionen in anderen Gebieten zur Verfügung stehen. Nach Aussage der Interviewpartner ist die „draußen!“ kein reicher Verein, sondern „lebt“ ständig am Existenzminimum.[60] Die Selbstbeurteilung der eigenen (Finanz)Situation ist bei der „draußen!“ etwas pessimistischer als der von ZIMMER für die Münsteraner Vereine ermittelte Durchschnitt. Dies widerspricht insofern dem Trend in Münster nachdem eher staatsabhängige und weniger marktabhängige Vereine über Probleme klagen.[61]
Welche Auswirkungen haben die vorgestellten Tatsachen auf Zieldefinition, Strategieformulierung und interne Evaluation? Je kleiner eine Organisation ist, desto eher kann angenommen werden, dass den Mitgliedern Sinn und Notwendigkeit von Zieldefinition und Arbeitsevaluation nicht ersichtlich ist. „Konflikte und Unklarheiten lassen sich doch am besten unter vier Augen lösen“ mag eine der vorherrschenden Ansichten sein. Dies ist aus zweierlei Gründen falsch. Zunächst sind Konflikte nichts schlechtes, sondern können für Organisationen sogar hilfreich sein.[62] Langfristig hilft es außerdem auch nicht, konkret auftretende Probleme im Arbeitsalltag „vermeintlich“ zu lösen, wenn die unterschwelligen, grundlegenden Konflikte ungeklärt bleiben. Alltagsprobleme sind häufig...