|24|Kapitel 2
Störungstheorien und Erklärungsansätze
2.1 Die verhaltensbezogene Perspektive
Prokrastinierende berichten über ihr Aufschieben häufig als eine paradoxe Erfahrung: Sie können oft recht präzise beschreiben, mit welchen alternativen Tätigkeiten sie verhindern, dass sie auf ein uneingeschränkt für wichtig gehaltenes Ziel hinarbeiten (vgl. Kasten 2 und 3). Sie realisieren durchaus, dass sie, statt z. B. den wichtigen Bericht fertigzustellen, E-Mails beantworten, telefonieren, im Internet surfen, recherchieren oder mit Kollegen den Urlaubsplan besprechen. Die Erklärungen der Betroffenen für ihr Verhalten variieren zwischen „Ich bin eben so ein Mensch“ über eine Abwertung der vermiedenen Tätigkeit als stupide und deshalb lästig, bis zu einer überzeugten Verteidigung des Arbeitsstils – „Ich kann nur unter Druck arbeiten“ – oder auch Ratlosigkeit. Der Arbeitsstil wie auch die Erklärungen werden jedoch beibehalten, obwohl jeder Betroffene nachteilige Folgen dieses Verhaltens fürchtet oder schon erfahren hat, wenn ein Termin doch nicht eingehalten wurde oder wenn die Qualität der schließlich geleisteten Arbeit hinter eigenen wie fremden Erwartungen zurückblieb. Prokrastinierer finden übrigens andere Menschen, die dasselbe Problem haben, wenig sympathisch und haben wenig Vertrauen zu ihnen. Darin scheint sich die Unzufriedenheit mit dem eigenen Verhalten abzubilden (Ferrari & Patel, 2004). Wie ist es zu verstehen, dass Prokrastination weiter betrieben wird, obwohl das Verhalten von den Betroffenen als derart nachteilig bewertet wird?
Nach einer der im vorangegangenen Kapitel aufgeführten Definitionen befindet man sich beim Prokrastinieren im Konflikt zwischen dem, was man tun sollte, und dem, was man stattdessen gerne täte, und dieser Konflikt wird so lange wie möglich zugunsten dessen gelöst, was man lieber macht: Liegt die Prüfung noch in weiter Ferne, so ist die tägliche Arbeitszeit von prokrastinierenden Studenten für die Prüfungsvorbereitung kürzer, dafür ihre Stimmung besser als bei ihren Kommilitonen. Unmittelbar vor der Prüfung aber steigt ihre Arbeitszeit drastisch an, sodass sie erheblich mehr Zeit als zuvor und sogar mehr Zeit als ihre nicht prokrastinierenden Kommilitonen mit Arbeiten verbringen. Diese Veränderung des Arbeitsverhaltens in Abhängigkeit vom Termin wird aber nur deutlich, wenn das Verhalten selbst täglich protokolliert wird (DeWitte & Schouwenburg, 2002). Befragt man nämlich Prokrastinierende vor Beginn einer Lernphase dazu, wie sie diese Zeit planen, so finden sich kaum Unterschiede zu Nichtprokrastinierenden – ein weiterer Beleg dafür, dass beim Prokrastinieren eine Diskrepanz zwischen Intention und Handlung vorliegt. Andere Aktivitäten sind für Studierende mit Prokastinationstendenz attraktiver als die jeweils zu erledigende wichtige Aufgabe. Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass sie soziale Aktivitäten durchweg als attraktiver einschätzen als ihre nicht prokrastinierenden Kommilitonen – aber auch nur dann, wenn der Abstand zur Prüfung noch groß ist. Die Tätigkeit selbst, bei der prokrastiniert wird, schätzen Prokrastinierer in allen Untersuchungen als unangenehmer, lästiger, beschwerlicher, schlicht als aversiver ein als Nichtprokrastinierer (Steel, 2007).
Prokrastinieren erscheint unter diesem Aspekt als ein Versuch, die eigene Stimmung dadurch zu regulieren, dass stimmungsverschlechternde Aktivitäten gemieden oder abgekürzt werden.
Aus der verhaltensbezogenen Perspektive erscheint Prokrastinieren als ein aktiver Anpassungsprozess mit dem Ziel, angenehmes und unangenehmes Erleben in ein Gleichgewicht zu bringen. Lässt man Probanden in einer standardisierten Untersuchung die Wahl zwischen verschiedenen Sequenzen von abwechselnd interessanten und uninteressanten Aufgaben am PC, so wählen Prokrastinierende durchwegs Sequenzen, bei denen die angenehmen Aufgaben vor den unangenehmen zu erledigen sind (König & Kleinmann, 2004).
Im verhaltensbezogenen Erklärungsansatz ist die Aversivität der Aufgabe das zentrale aufrechterhaltende Moment des Prokrastinierens: Lerntheoretisch ist gut nachvollziehbar, dass alles Aversive nach Möglichkeit vermieden wird bzw. dass aus |25|aversiven Situationen geflüchtet wird. Ein solches Vermeidungs- oder Fluchtverhalten wird dadurch wirksam verstärkt, dass unangenehme Gefühle sofort nachlassen. Die unangenehmen Konsequenzen des Vermeidens, die in der Nichterreichung eigener Ziele bestehen (z. B. bei einer Prüfungsvorbereitung), sind zeitlich weit entfernt und wirken deshalb kaum verhaltenssteuernd.
Besonders gut ersichtlich wird die Aufrechterhaltung von Prokrastination durch lerntheoretische Prinzipien in unserem Störungsmodell der Prokrastination (vgl. Abb. 4 in Kapitel 4.7.2). Es zeigt, dass die Aufrechterhaltung sowohl durch kurzfristige negative als auch durch kurzfristige positive Verstärkung erfolgt: -Die negative Verstärkung erfolgt durch das Nachlassen unangenehmer Gedanken und Gefühle, die positive Verstärkung durch die – relativ gesehen – angenehmeren Ersatztätigkeiten. Bei den Ersatztätigkeiten kann es sich entweder um angenehme Tätigkeiten handeln (z. B. Fernsehen) oder um Tätigkeiten, die im Vergleich zur aufgeschobenen Tätigkeit zumindest relativ gesehen angenehmer und leichter erfolgversprechend sind (z. B. kleinere Erledigungen, wie z. B. Putzen, durch deren erfolgreichen Abschluss kurzfristig positive Verstärkung erfolgt). Die langfristigen Konsequenzen sind im Moment des Aufschiebens oft noch zu ungewiss oder zeitlich zu weit entfernt, um verhaltenssteuernd zu wirken. Im Falle eines solchen Konflikts benötigen die Betroffenen eine besondere Selbststeuerung, um nicht aufzuschieben.
2.2 Die motivational-volitionale Perspektive
2.2.1 Das Rubikonmodell: Vom Wünschen zum Handeln
Wie kommt es, dass sich im Handeln einer Person einige Absichten bevorzugt durchsetzen, während andere, oft als erheblich wichtiger eingeschätzte Absichten „auf der Strecke“ bleiben? In der Motivations- und Volitionspsychologie stellt das sogenannte „Rubikonmodell“ (Heckhausen & Gollwitzer, 1987; Heckhausen, 1989; Gollwitzer, 1991; vgl. Abbildung 1) das „Schicksal“ von Absichten in einem mehrphasigen Ablauf der Handlungssteuerung dar: von der Auswahl einer Intention aus verschiedenen Wünschen und Handlungstendenzen über deren Realisierung bis hin zur abschließenden Bewertung nach der Zielerreichung. Das Konzept differenziert verschiedene psychische Prozesse und situative Merkmale, welche die Bildung und die Realisierung von Vorsätzen begünstigen. Demnach wird bei komplexen Vorhaben erst dann effizient gehandelt, wenn zuvor verschiedene Phasen der Absichtsbildung erfolgreich absolviert wurden.
Der Ausdruck „Rubikon“ steht hier für die Brisanz endgültiger Entscheidungen: Als Cäsar im Jahr 49 vor Chr. mit seinem Heer den Grenzfluss Rubikon überschritt und das römische Staatsgebiet betrat obwohl er zuvor vom Senat aufgefordert worden war, sein Heer zu entlassen, kam dies einer direkten Kriegserklärung gleich. Nach dieser Überschreitung des Rubikon konnte Cäsar aus der Situation nur noch entweder als Sieger (mit Aussicht auf Herrschaft) oder Verlierer (mit Aussicht auf die Todesstrafe) hervorgehen.
Bezogen auf die Selbstregulation wird damit zum Ausdruck gebracht, dass die Entscheidung für ein bestimmtes Handlungsziel für die Person ein kritisches Ereignis ist, das die motivationale Lage grundsätzlich verändert, und hinter das sie zudem nicht mehr ohne „psychische Kosten“ zurückfallen kann.
Kasten 6:Das Rubikonmodell
Im Unterschied zu einer bloßen Handlungstendenz im Sinne von „ich würde gerne“ oder „ich möchte eventuell“, die sich auf eine Möglichkeit unter vielen anderen bezieht, kann ein definitiv gefasster Entschluss im Sinn von „ich will es wirklich“ nicht so einfach wieder aufgegeben werden: Wenn ein wünschenswertes, aber unverbindliches Ziel nicht erreicht wird, hat dies keine besondere Bedeutung für das Selbstkonzept. Wenn es der Person jedoch nicht gelingt, eine fest gefasste Handlungsabsicht in die Tat umzusetzen, muss dies von ihr als Versagen oder Misserfolg gewertet werden.
Für die Bildung und Umsetzung einer Absicht im Normalfall werden im Rubikonmodell vier abgrenzbare, durch Übergänge bzw. durch Schwellen miteinander verbundene Phasen unterschieden. Diese müssen für die Realisierung einer Absicht logisch und zeitlich ...