2. Sozialer Protestantismus
Social Entrepreneurship im 19. Jahrhundert – das Beispiel Wilhelm Löhe
von Gury Schneider-Ludorff
Für das sich formierende protestantische Bürgertum des 19. Jahrhunderts mit seiner sozialen Ausrichtung, seiner Internationalität und weltweiten Vernetzung spielte der Neuendettelsauer Pfarrer Wilhelm Löhe (1808–1872) eine bedeutende Rolle. Die Forschung zu Löhes Leben und Werk fördert neuerdings nicht nur neue Erkenntnisse zur Geschichte der Diakonie zu Tage, sondern auch zur Entstehung des sog. ‚Dritten Sektors‘ insgesamt.1
Interessant ist in diesem Zusammenhang die Beobachtung, dass sich seit einiger Zeit eine Renaissance der Unternehmerfigur feststellen lässt, die eine eher unerwartete Seite aufweist. Die Rede ist vom Social Entrepreneur – dem Sozialunternehmer. Dabei handelt es sich um einen Unternehmertypus, der soziale Probleme mit unternehmerischen Mitteln zu lösen versucht, also Wirtschaft und Soziales miteinander verbindet.2 Die Idee des Social Intrepreneurships findet zunehmend Aufmerksamkeit, trifft der Begriff doch auf Akteure, die davon überzeugt sind, dass Regierungen, Verwaltungen und soziale Organisationen mit den sozialen Herausforderungen überfordert seien – sei es, weil sie ineffizient arbeiteten, soziale Bedürfnisse mehr verwalteten als befriedigten oder überhaupt unbeweglich und veraltet seien. Notwendig seien – so die These – Social Entrepreneurs, die mit neuen Ansätzen auf die komplexen Probleme adäquate Antworten finden. Inzwischen sind interdisziplinäre Forschungsgruppen an Universitäten eingerichtet worden, die sich mit diesem Phänomen aus volkswirtschaftlicher, politischer und sozialwissenschaftlicher Perspektive befassen.3 Auch in der Philanthropy-Forschung ist dieses Thema virulent. Was die kirchenhistorische Forschung angeht, trifft das Anliegen in die neue Forschungsrichtung der Kulturgeschichte und des Stiftungswesens, weil sich hier Religion und Gesellschaftsgestaltung miteinander verschränken.
Der Begriff des Social Entrepreneur ist neu, das Phänomen ist es nicht. Jedoch fehlen bislang eingehende Forschungen zu den historischen Wurzeln. Diese Geschichtsvergessenheit ist umso bedauerlicher, als es sich hier um ein Phänomen handelt, das in besonderem Maße christliche, evangelische – ja auch lutherische Wurzeln aufweist. Das soll im Folgenden an Wilhelm Löhe und seinem sozialen Unternehmertum aufgezeigt werden. Exemplarisch wird sein unternehmerisches Konzept an zwei Beispielen veranschaulicht. In einem weiteren Schritt werden die wesentlichen Charakteristika herausgestellt. Der Schluss wagt einen Ausblick.
1. Wilhelm Löhe als Social-Entrepreneur
1.1 Der Aufbau der diakonischen Einrichtungen in Neuendettelsau
„Ohne dieses Haus, daß wir gebaut haben, hätten wir den Zweck nicht erreichen können. Es war zur Sache nöthig. Wird der Zweck auch nur ein Jahrzehnt unter dem Maß göttlichen Segens verfolgt, das wir jetzt schon erfahren haben, so ist die Geldausgabe und der Verlust, auch wenn das Haus dann eine Ruine würde, gar nicht in Anschlag zu bringen gegen den Strom der Güte und Barmherzigkeit des Herrn, der sich von ihm ergoß. Darum laße sich auch niemand durch den Umstand irren, daß das Haus bei diesem Dorfe steht. [...] Aber eine große Last ist doch vorhanden und obwohl auch sie sich zu heben und zu schwinden beginnt, so möchten wir doch hiermit diejenigen unserer Glaubensgenossen und Freunde, welche Gott mit zahlreichen Gütern gesegnet hat, bitten, die Hände gütig auszustrecken und die Last wegheben helfen.“4
Aus dem ersten Jahresbericht Löhes über den Bestand und Fortgang der Diakonissenanstalt Neuendettelsau von 1855 spricht Hoffnung und Zuversicht. Zugleich zeigt sich hier auch das Bewusstsein, dass das Gelingen des innovativen und zukunftsweisenden sozialkaritativen Projektes eines Hauses für die Unterkunft und den Unterricht der Diakonissen jedenfalls in den nächsten Jahren nicht am Finanziellen scheitern durfte. Denn es war sozusagen die Keimzelle, aus der sich die weitere diakonische Arbeit entwickeln sollte. Das finanzielle Engagement auch privater Geldgeber war daher vonnöten und von Beginn an ein wichtiger Teil der Unterstützung des Projektes. Ein Großteil der Bausumme von 12.000 Gulden konnte durch einen Kredit beglichen werden.5 Löhe sah jedoch, dass seinem Projekt nur Zukunft beschieden sein konnte, wenn der Kredit schnellstmöglich wieder beglichen wurde. Und in dieser Hinsicht ließen sich Löhe – und in zunehmenden Maße auch die Diakonissen – einiges einfallen.
Die im vierten Jahresbericht von 1857 abgedruckte Bilanz bietet einen guten Einblick in die Finanzierung des Hauses: Machten die Kostgelder und Schulgelder der Schülerinnen, die für ihre Ausbildung zahlen mussten, einen großen Teil der Finanzierung aus, war ein weiterer Posten die Bewirtung der zahlreichen Besucher.6 Bemerkenswert ist die Summe der Geschenke. Sie sind mit 7000 Gulden an zweiter Stelle der Einnahmen genannt und bezeichneten nicht nur die finanziellen Zuwendungen, sondern auch die Naturalgaben. Die Geldspenden, eine Summe aus vielen kleinen Beträgen, wurde in den folgenden Jahren samt Spendernamen im Correspondenzblatt der Diaconissen von Neuendettelsau aufgeführt. Die größten Ausgaben waren die Rückzahlung der Kredite mit 8750 Gulden. Durch die konsequente und rasche Rückzahlung der verschiedenen Kredite gelang es der Diakonissenanstalt Neuendettelsau, das Grundstücksvermögen auszubauen. Durch Ackerbau und Viehhaltung und durch die Errichtung einer eigenen Bäckerei und Gärtnerei wurde zudem die Selbstversorgung befördert.7 Zur Finanzierung trugen in den folgenden Jahren neben den Spenden auch Erbschaften bei. Ebenso konnte Löhe auf unverzinsliche Privatkredite – gerade auch vieler Unterstützerinnen – zurückgreifen. Über diese Privatkredite führte er sehr genau Buch und suchte sie auch so rasch wie möglich wieder zu tilgen.8
Interessant wäre es, diesen Aspekt auch einmal näher unter der Genderfrage zu beleuchten, da bekannt ist, dass es adelige Frauen wie Sophie von Tucher, Friederike von Meyer, Helene und Marie von Meyer oder Thekla von Tucher gab, die das Projekt Löhes großzügig unterstützten, finanziell oder durch Mitarbeit in den Einrichtungen.9 Und das kam nicht von ungefähr, war es doch eine innovative Idee, die mit ihrem hohen Bildungsideal gerade Frauen zu Gute kam.10
Neben diesen Maßnahmen zur Finanzierung findet sich auch eine eher ungewöhnliche Aktion. Sie diente zur Einrichtung eines Rettungshauses, dessen finanzielle Verantwortung Löhe 1861 an die Neuendettelsauer Diakonissen übertragen und ihnen sowohl den Bau als auch den Unterhalt dieses Hauses zur Aufgabe gemacht hatte. Die Diakonissen entwickelten daraufhin ein Konzept, das Erfolg zeitigte, da es tatsächlich einen großen Teil der Baukosten kompensieren konnte11 – das aber auch Diskussionen hervorrief. Die Diakonissen veranstalteten eine Lotterie: Für den Preis von sechs Kreuzern konnten Lose erworben werden. Mit diesen waren wiederum einige Preise im Wert von sechs Kreuzern zu gewinnen. Dies führte gerade in konservativen Kreisen zu Irritationen – auch wenn es sich bei dem Gewinn lediglich um ein Traktatbüchlein handelte. So sahen sich die Initiatorinnen gezwungen, im Correspondenzblatt mit fiktiven Antworten auf die ihnen vorgetragenen Anfeindungen zu reagieren:
„Liebe YZ.
da stehen wir und möchten gerne ein Haus haben, um thun zu können, was der Herr will: Die Elenden hereinzuführen. Aber ein Haus – wer weiß das nicht? – kostet Geld. Wo bekommen wir solches her? Wir wollen nichts für uns, sondern alles für unseren Herrn, in dessen Hände Goldes und Silbers die Fülle ist und der den Seinen geben kann, so viel er will. Also ängstlich zu sorgen brauchen wir nicht; aber ebenso wenig dürfen wir die Hände in den Schoß legen und Gottes Zuschauer statt Arbeiter sein; wir müssen thätig sein und das mit Eifer. Da kommt uns unter anderem auch der Gedanke der Lotterie. Das Los steht in der heiligen Schrift in Ehren.“12
Zur Erfüllung der christlichen Nächstenliebe ist nach Überzeugung der Diakonissen nicht nur das Vertrauen auf Gott notwendig, sondern auch das eigene tätige Handeln, zumal wenn die Bibel diesem nicht entgegensteht. Wichtig ist auch der Hinweis, dass dies nicht dem Eigennutz der Diakonissenschaft diene, sondern allein der Ehre Gottes.
Auch den Vorwurf der „Weltförmigkeit“ einer Lotterie, weiß die Verfasserin zu entkräften:
„Du sprichst von Weltförmigkeit der Lotterie und meinst, wir sollten doch nicht etwas, das so von der Welt gemisbraucht worden ist, zur Erreichung unsrer Zwecke anwenden. Ich möchte Dich darauf bitten mir irgendein Ding zu nennen, das von der Welt noch nicht gemisbraucht worden wäre, und das, wenn Dein Grundsatz gelten sollte, unserem Gebrauch offen stünde.“13
Und selbstbewusst führt sie weiter aus:
„Strömten uns die Wohltaten zu; bliebe die Kirche nicht so kalt bei ihrem Werke, das unter Gottes Segen in ihrer Mitte blüht; [...] so ließen wir die Lotterie und alle ähnlichen Bemühungen wohl unterwegs. So lang die Dinge aber so liegen, wie jetzt, laß uns nur die Wege allerlei auffinden und betreten, um das ‚Reizen zur Liebe und zu guten Werken‘ recht nachdrücklich und eindringlich zu machen.“14
Um die christliche Sache des Rettungshauses voranzubringen, sind also, solange die verfasste Kirche keine Unterstützung bietet, auch ungewöhnliche Ideen erlaubt.
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