2 ÜBERBLICK ÜBER DAS STRAFVERFAHREN UND DIE BETEILIGTEN
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
In diesem Kapitel wird zunächst der Ablauf des Strafverfahrens von der Anzeigeerstattung bis hin zu einer Verurteilung und deren anschließende Vollstreckung beschrieben. Darüber hinaus werden die Beteiligten an einem Strafverfahren mit ihren jeweiligen Aufgaben im Kontext des Verfahrens vorgestellt.
Am besten, Sie verknüpfen die Lektüre dieses Kapitels mit der Beobachtung einer Gerichtsverhandlung. Da strafgerichtliche Verhandlungen öffentlich sind, können Sie sich einfach an einem freien Tag in eine Verhandlung beim Amts- oder Landgericht setzen.
2.1 Strafverfahren
Ein Strafverfahren beginnt, sobald eine Straftat bekannt wird (§ 152 Abs. 2 StPO). In der Regel erfährt die Polizei als erste von einer Straftat. Sie führt die Ermittlungen (eigenständig) durch, obwohl die Strafprozessordnung (StPO) die Staatsanwaltschaft zur ‚Herrin des Ermittlungsverfahrens‘ erklärt und ihr die Aufgabe zuweist, den Sachverhalt zu erforschen (§ 162 StPO). Erst wenn der Sachverhalt hinreichend aufgeklärt ist, gibt die Polizei ‚die Akte‘ an die Staatsanwaltschaft ab, wo über eine Anklageerhebung entschieden wird (§§ 152, 162 Abs. 1 StPO). Anklage wird nur in etwa einem Drittel aller Ermittlungsverfahren erhoben; zudem ist die ‚Anklagequote‘ von Bundesland zu Bundesland sehr verschieden (Statistisches Bundesamt 2011: 19). Wird die Anklage vom Gericht zugelassen (§ 207 StPO), kann es zum Hauptverfahren – mit seinem Kernstück: der gerichtlichen Hauptverhandlung – kommen. An dessen Ende steht, manchmal erst nach Einlegung von Rechtsmitteln, eine gerichtliche Entscheidung über den Ausgang des Strafverfahrens (Beschluss, Urteil).
2.1.1 Ermittlungen
Ermittlungen können ‚von Amts wegen‘ aufgenommen oder von Betroffenen oder unbeteiligten Dritten durch eine Strafanzeige in Gang gesetzt werden. Die Anzeigeerstattung ist bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes sowie den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich möglich (§ 158 StPO). Geschätzt wird, dass über 90 % der Ermittlungen von den Geschädigten selbst ausgehen und nur 2–10 % auf Ermittlungen der Polizei beruhen (LKA-NRW 2006: 1). In meiner eigenen Untersuchung (Oberlies 2005: 16) wurden 86 % der Ermittlungen wegen häuslicher Gewalt durch Anzeigen von Geschädigten oder Dritten eingeleitet; anders im Bereich der sexuellen Gewalt, wo fast 40 % der Ermittlungen durch die Polizei ‚von Amts wegen‘ aufgenommen wurden.
2.1.1.1 Anzeigeerstattung
Die – sehr unterschiedliche – Anzeigebereitschaft ist also das erste wichtige Zugangstor zum Strafverfahren. Untersuchungen zeigen, dass ältere Menschen eher Anzeige erstatten als jüngere, Frauen es leichter haben, sich als ‚Opfer‘ (einer Straftat) zu sehen als Männer, Kinder und Jugendliche vieles, was untereinander stattfindet, als nicht schlimm erleben (während Lehrer dafür schon den Begriff ‚Gewalt in der Schule‘ benutzen). Minderheiten: Homosexuelle, Drogenabhängige, aber auch Migranten und Migrantinnen tun sich ebenfalls schwer mit Anzeigen – und fast jedes Delikt hat eine eigene Anzeigekultur entwickelt (vgl. LKA-NRW 2006).
Den Ladendiebstahl gibt es quasi nur, wo (und weil) es einen dazu gehörigen ‚Ladendieb‘ gibt: Während die Aufklärungsquote im Durchschnitt aller Delikte bei 56 % liegt, beträgt sie beim Ladendiebstahl seit vielen Jahren weit über 90 %. Andere Anzeigen gibt es dagegen nur, weil es keinen ‚Täter‘ gibt – aber eine Versicherung, die den Schaden ersetzt: Nur 21 % der Diebstähle aus Kellern und gar nur 7 % der Fahrraddiebstähle werden aufgeklärt (PKS 2010: Tabelle 01), aber der Diebstahl von versicherten Gegenständen wird dreimal häufiger angezeigt als der Diebstahl unversicherter Gegenstände (LKA-NRW 2006: 5). Auch beim Kapitalanlagebetrug war die Anzeige in der Vergangenheit nicht hoch: vermutlich, weil es sich beim angelegten Kapital nicht selten um Schwarzgeld handelte (BKA 2009: 6), aber auch, weil Kapitalanleger schlau sein wollen Damit verträgt sich nicht, Betrügern aufzusitzen. Das hat sich allerdings jetzt, in der Finanzkrise, geändert: Medien und Verbraucherschützer haben zur Anzeige aufgefordert – und die Zahl der Anzeigen stieg (BKA 2009: 11). Nicht immer – aber meistens – ist die Höhe des Schadens ein Indikator für die Anzeigebereitschaft (LKA-NRW 2006: 22). Im Gewaltbereich hängt die Anzeigebereitschaft sehr davon ab, was jeweils als Gewalt eingestuft wird: Ist eine Ohrfeige schon Gewalt? (Vgl. BMFSFJ 2004: 39 f). Ist alles ok, wenn man dem/der Anderen auch eins mitgegeben hat? Was hat man – von wem – zu erdulden?
Studien zeigen, dass Unbekannte dreimal häufiger angezeigt werden als Familienangehörige (LKA-NRW 2006: 22). Besonders bemerkbar macht sich dies im Bereich häuslicher Gewalt. Eine repräsentative Studie ergab, dass nur 13–15 % der Frauen, die Gewalterlebnisse berichtet hatten, die Polizei eingeschaltet haben; 8–10 % erstatteten Anzeige (GIG-net 2008: 232). Leuze-Mohr (2002) fasst die Ergebnisse ihrer eigenen Studie so zusammen:
„Nur 41 % der Befragten rufen in einer akuten Notsituation die Polizei. Jede zweite Frau mit strafrechtlich relevanter Gewalterfahrung hat noch nie Strafanzeige erstattet. Von zehn Frauen, die Strafanzeige erstatten, nehmen drei diese wieder zurück. Mehr als zwei Drittel der Frauen wollen nach entsprechenden Erfahrungen mit einer Strafanzeige nie mehr anzeigen. (…) Mehr als drei Viertel derjenigen Opfer häuslicher Gewalt, die von einer Strafanzeige absehen, nennen dafür Motive, die in der Täter-Opfer-Beziehung zu suchen sind. Ganz oben steht die Angst vor dem Täter, verbunden mit konkreten Todesdrohungen und Todesängsten. Darüber hinaus wird auch der Kinder wegen Abstand von einem Strafverfahren genommen. (…) [Die Mutter] bemüht sich um den Erhalt der Familie und um die Sicherung des Kindesunterhalts. Zum Teil befürchten die betroffenen Frauen negative Folgen einer Strafanzeige für das eigene Sorgerecht oder das väterliche Umgangsrecht. Sie identifizieren sich mit dem Misshandler und betonen seine Vorzüge vor allem als Vater.“
Noch andere Einflussfaktoren sind bei Sexualdelikten beobachtet worden: Hier hindern nicht selten Gefühle von Scham und Schuld, Ängste und die Furcht vor gesellschaftlicher Stigmatisierung die Frauen an einer Anzeige. Hinzu kommt die Angst, im Strafverfahren selbst nochmals zum Opfer zu werden (LKA-NRW 2006: 22).
2.1.1.2 Polizeiliche Ermittlungen
Erfährt die Polizei von einer Straftat, dann ist sie zu (strafrechtlichen) Ermittlungen verpflichtet (sog. Legalitätsprinzip; § 152 StPO). Davon zu unterscheiden sind Interventionen, die die Polizei, auf der Grundlage der Polizeigesetze der Länder, zur Gefahrenabwehr unternimmt: Der in der Sozialen Arbeit vielleicht bekannteste Anwendungsbereich dafür ist der sog. polizeiliche Platzverweis (auch: Wohnungsverweisung) bei häuslicher Gewalt. Einige Bundesländer haben instruktive Handlungsleitlinien für das polizeiliche Vorgehen in solchen Fällen erlassen, die im Internet verfügbar sind.
Ist ein Beschuldigter flüchtig, kann er – bei schwerwiegenden Straftaten – mit Haftbefehl gesucht und festgenommen werden; in weniger schwerwiegenden Fällen wird einfach eine Aufenthaltsermittlung durchgeführt (Nr. 41 RiStBV).
Anzeigenaufnahme
Nachdem die Polizei Kenntnis von einer (potentiellen) Straftat erlangt hat, wird eine Kriminalakte angelegt. Was genau in die Akten aufzunehmen ist (und in welcher Reihenfolge), ist in Richtlinien und Erlassen der Innenminister festgelegt, die in den Bundesländern für die Polizei zuständig sind. In Brandenburg z.B. regelt der entsprechende Erlass des Innenministers (Az.: IV/1.1 – 454-8), dass die Kriminalakte zu heften und wie folgt zu ordnen ist:
- Personalblatt BB Pol 1050,
- Lichtbild(er), soweit gegenständlich vorhanden, in einem Umschlag,
- erkennungsdienstliche Unterlagen,
- Auszug aus dem Bundeszentralregister,
- andere Unterlagen, chronologisch abgelegt,
- sowie – als letztes Blatt – alle Einsichtnahmen in die Akte.
Zu den chronologisch abzulegenden Unterlagen einer Kriminalakte können gehören: Tatblätter, Anzeigen, Hinweise von Auskunftspersonen, Tatortbefundberichte, Vernehmungsniederschriften, Schriftproben, Asservatenlisten, Durchsuchungs- und Beschlagnahmeprotokolle, Merkblätter, Aktenvermerke, Berichte und Gutachten, Auskunftsersuchen, Fahndungshinweise und Haftmitteilungen, Vorgänge über Selbsttötungsversuche und Hinweise auf besondere Gefährlichkeiten (z.B. Waffenträger, Ausbrecher), Genehmigungen (oder Verbote) sowie Gerichtsbeschlüsse, Verfahrenseinstellungen, Verurteilungen und Freisprüche. Idealtypisch sollen in der Akte alle Erkenntnisse gesammelt werden, die über die Person im Zuständigkeitsbereich eines Tatortes (in manchen Ländern auch des Wohnortes) bestehen. Nur eine vollständige Akte stellt sicher, dass alle jederzeit ‚den Faden aufnehmen‘ können – und nur eine paginierte (also mit Seiten versehene) Akte kann verhindern, dass nachträglich manipuliert wird. Deshalb sind unsauber geführte Akten ein Fressen für jeden Strafverteidiger!
Die Anzeigen-Aufnahme (im Polizeijargon auch ‚Erst-Angriff‘ genannt) enthält typischerweise einen formularmäßigen Informationsteil: Tagebuchnummer, aufnehmender Beamter, Tatvorwurf, Geschädigte/r,...