Ein Mensch sagt und ist stolz darauf,
er gehe ganz in seiner Arbeit auf.
Bald aber, nicht mehr ganz so munter,
geht er in seiner Arbeit unter.
In diesem Vierzeiler beschreibt Eugen Roth mit dichterischer Leichtigkeit zwei Seiten von Arbeit: Arbeit als Bestätigung der Leistungsfähigkeit, als Stabilitätsfaktor auf der einen Seite – und Arbeit als Stressfaktor, als zerstörerische Kraft auf der anderen Seite.
Zahlreiche Untersuchungen befassen sich mit diesen beiden Seiten des Faktors „Arbeit“. Allerdings steht immer häufiger der zweite Aspekt im Mittelpunkt: das wachsende Auftreten psychischer Belastung in Verbindung mit Arbeit und die Auswirkungen dieser Belastung. Fragen nach dem Zusammenhang zwischen psychischer Gesundheit beziehungsweise Krankheit und Arbeit bekommen immer mehr Aufmerksamkeit.
Seit etwa 15 Jahren wächst die Bedeutung psychischer Erkrankungen als Ursache von Arbeitsunfähigkeit. 2012 waren psychische Störungen für mehr als 53 Millionen Krankheitstage verantwortlich. Bereits 41 Prozent der Frühverrentungen haben psychische Ursachen. Depressionen, Angsterkrankungen und andere psychische Störungen sind inzwischen die vierthäufigste Diagnose bei Krankmeldungen.
Dabei stellen viele Untersuchungen und Studien, die sich mit psychischen Erkrankungen und deren Entwicklung befassen, auch Fragen wie: Sind wir heute anders krank? Nehmen psychische Beeinträchtigungen zu? Sind wir nicht mehr so belastbar? Macht uns die Arbeit krank? Sicher ist, dass im Vergleich zu früher psychische Beeinträchtigungen heute wesentlich häufiger diagnostiziert und erfasst werden. Es wäre allerdings zu kurz gegriffen, würde man daraus ableiten, dass psychische Beeinträchtigungen zunehmen. Genauso voreilig wäre es, ausschließlich die sich wandelnden Arbeitsbedingungen dafür verantwortlich zu machen.
Grundsätzlich hat Arbeit einen positiven Einfluss auf die Gesundheit und die persönliche Entwicklung des Einzelnen. Gut gestaltete Arbeit bietet Erfolgserlebnisse und Bestätigung, sie vermittelt soziale Kontakte, sichert die Existenz und stabilisiert die Psyche des Menschen. Wenn allerdings arbeitsbedingter Stress nicht nur zeitweise, sondern dauerhaft auf die Beschäftigten einwirkt und die Folgen der Beanspruchung nicht hinreichend ausgeglichen werden können, kann die grundsätzlich positive Wirkung der Arbeit ins Negative umschlagen und Erkrankungen auslösen.
Der Wandel der Arbeitswelt hat zu deutlichen Veränderungen der jeweiligen Anforderungen geführt und eine Vielzahl von Studien legt dar, dass psychische Belastung im Zusammenhang mit Arbeit an Bedeutung gewonnen hat. Von den möglichen Folgen sind sowohl Unternehmen wie auch die Träger unseres Sozialleistungssystems betroffen. Vor diesem Hintergrund wird der Zusammenhang zwischen den Entwicklungen der modernen Arbeitswelt und der Zunahme von Fehltagen mit psychischer Ursache hinterfragt. Unternehmen und Rehabilitationsträger haben sich auf den Weg gemacht, dieser Entwicklung im Rahmen ihrer Einflussmöglichkeiten entgegenzusteuern.
Die Grenzen sind fließend: Ebenso wie sich die möglichen arbeitsbedingten Gefährdungen der psychischen Gesundheit von Betrieb zu Betrieb unterscheiden, ist die Grenze zwischen einer psychischen Erkrankung und psychischen Problemen, die (noch) keinen Krankheitswert haben, nicht einfach und nicht exakt zu ziehen. So können sich schon psychische Probleme ohne Krankheitswert negativ auf das Leistungsvermögen, die Motivation und die sozialen Beziehungen auswirken. Ohne entsprechende Abhilfe und unter ungünstigen Lebensbedingungen kann aus einer psychischen Störung eine Erkrankung oder gar Behinderung werden – mit allen damit verbundenen Konsequenzen. Der Verlust des Arbeitsplatzes hat unter Umständen schwerwiegende Folgen: Mit dem frühzeitigen Austritt aus dem Erwerbsleben sind für Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen nicht nur erhebliche finanzielle Einbußen verbunden. Es fallen darüber hinaus auch wichtige berufliche Kontakte, Kommunikations- und Anerkennungsmöglichkeiten weg.
Auch aus unternehmerischer sowie volkswirtschaftlicher Sicht sind die Konsequenzen erheblich: Psychische Erkrankungen verursachen inzwischen etwa 13 Prozent der Arbeitsunfähigkeitstage und stellen mittlerweile die häufigste Frühverrentungsursache dar. Nach Schätzungen des Statistischen Bundesamtes belaufen sich die Krankheitskosten wegen psychischer Erkrankungen auf 29 Milliarden Euro.
Dem betrieblichen Umfeld kommt im Umgang mit seelischen Erkrankungen und Krisen eine besonders wichtige Rolle zu: Vorgesetzte, Kollegen, Betriebs- und Personalräte und Schwerbehindertenvertretungen sind häufig die Ersten, die auffallende Veränderungen wahrnehmen. Viele Betriebe und Verwaltungen sehen sich von daher schon jetzt aktiv in der Verantwortung, die Gesundheit der Beschäftigten zu sichern, ihren Schutz zu verbessern und gesundheitsbewusstes Verhalten zu fördern, um Fehlzeiten und Frühverrentungen aufgrund psychischer Erkrankungen entgegenzuwirken. Dem Bemühen, angemessen zu reagieren und den Betroffenen zu unterstützen, stehen noch oft genug Hemmungen, Unsicherheiten im Umgang und auch Ängste entgegen: die Angst der Arbeitgeber, dass Mitarbeiter häufiger ausfallen – die Angst der Beschäftigten, die Arbeit ihres psychisch kranken Kollegen mit übernehmen zu müssen – und die Angst der Betroffenen selbst, den Anforderungen eines Arbeitsplatzes nicht (mehr) genügen zu können.
Um erwerbstätig sein zu können, benötigen Menschen mit psychischen Beeinträchtigungen daher auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Arbeitsbedingungen und Unterstützungsangebote. Fehlen diese, haben die Betroffenen im schlimmsten Fall keine Möglichkeit, erwerbstätig zu sein, oder sie sind auf Arbeitsplätze außerhalb des allgemeinen Arbeitsmarktes, vorrangig in Werkstätten für behinderte Menschen, angewiesen.
Was also können Betriebe tun? Wie können Betriebe unterstützt werden? Welchen Beitrag kann unser soziales Sicherungssystem leisten? Auf diese Fragen gibt es vielfältige Antworten.
Hinschauen und der eigenen Wahrnehmung vertrauen – handeln, wenn es nötig erscheint – sich nicht überfordern – fachliche Unterstützung hinzuziehen: Diese vier Kernbotschaften richten sich an Arbeitgeber, Vorgesetzte, Kollegen und das betriebliche Integrationsteam. Doch vielfach reicht das Engagement der Betriebe allein nicht aus, um psychischen Erkrankungen und deren Auswirkungen entgegenzusteuern. Professionelle Unterstützung, frühzeitige ambulante psychotherapeutische Behandlungsangebote sowie beruflich orientierte Rehabilitation wirken der Entstehung und Chronifizierung psychischer Erkrankungen und der Ausgliederung aus dem Erwerbsleben entgegen. Unser gegliedertes Sozialleistungssystem bietet ein Netz an Hilfemöglichkeiten. Auch die Rehabilitationsträger stehen hier in der Verantwortung, die ihnen zur Verfügung stehenden Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation einzusetzen, sie in Betrieben noch stärker bekannt zu machen und Betriebe bei der Umsetzung dieser Maßnahmen zu unterstützen.
Viele Barrieren bestehen immer noch aus Unkenntnis der gesetzlich geregelten und betrieblichen Unterstützungsmöglichkeiten. Betriebliches Eingliederungsmanagement, Prävention, Leistungen der medizinischen und beruflichen Rehabilitation, Begleitung durch Rehabilitationseinrichtungen für psychisch kranke und behinderte Menschen, Integrationsfachdienste, Berufsbildungswerke, Berufsförderungswerke oder berufliche Trainingszentren, stufenweise Wiedereingliederung, finanzielle Unterstützungsleistungen – das sind nur einige Beispiele für Hilfemöglichkeiten, um Beschäftigte mit psychischen Problemen vor einer Verschlimmerung und vor dem Verlust des Arbeitsplatzes zu schützen oder ihnen nach längerer Arbeitsunfähigkeit die Rückkehr in den Betrieb zu ermöglichen.
Es ist von zentraler Bedeutung, in den Unternehmen und der öffentlichen Verwaltung mehr Handlungssicherheit beim Umgang mit psychischer Belastung zu erzeugen. Gezielte Öffentlichkeitsarbeit über die Möglichkeiten unseres Sozialleistungssystems, Netzwerke zwischen Sozialleistungsträgern und Unternehmen und einschlägige Fortbildungen für Vorgesetzte in den Unternehmen werden helfen, dieses Ziel zu erreichen.
Auch vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung und des damit verbundenen Fachkräftemangels müssen wie bestrebt sein, durch gut gestaltete Arbeit psychischen Erkrankungen vorzubeugen und die Wiedereingliederung von psychisch erkrankten Beschäftigten zu verbessern. Das vorliegende Buch hilft, die beruflich bedingten Anforderungen und Belastungen für die Seele besser zu verstehen. Es zeigt, welche Möglichkeiten es gibt, den Beschäftigten zu helfen, mit Stress auf gesunde Weise umzugehen. Es motiviert und unterstützt dabei, die zur Verfügung stehenden Hilfen im Unternehmen konkret anzuwenden.
Dr. Helga Seel
Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation
(BAR) e.V. in...