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E-Book

Psychische Störungen im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung

Grundlagen und Handlungsoptionen in Schule und Unterricht. Mit Online-Materialien

VerlagBeltz
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783407631152
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis26,99 EUR
Psychische Störungen treten bei Lernenden mit geistiger Behinderung häufiger auf als bei nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen; im Kontext von Inklusion sind davon auch immer mehr Regelschulen betroffen. Das bringt besondere Herausforderungen mit sich: in der Diagnostik, in der Gestaltung von Lernprozessen und Beziehungen, in der Kooperation der Fachpersonen und Einrichtungen. Notwendig sind hierfür Lösungen mit individuellem Zuschnitt - und ein interdisziplinärer Austausch, der u. a. folgenden Fragen auf den Grund geht: • Wie äußern sich psychische Störungen? • Wie lassen sich Unterricht entwickeln und Beziehungen gestalten? • Welche Kooperationspartner bieten Unterstützung? • Welche Bedeutung haben Psychopharmaka? Grundlagen zur Heilpädagogik und Psychiatrie im Kontext Schule werden von den Autoren dieses Sammelbandes ebenso dargestellt wie Spezifika zu Traumata, Autismus, Epilepsie oder Fragen der Psychopharmakmedikation bei aggressivem Verhalten; die Darstellung von innovativen Praxisprogrammen aus Förderschulen und der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis runden diesen praxisnahen Überblick ab.

Dr. phil. Holger Schäfer ist Förderschulrektor und Mitherausgeber der Fachzeitschrift »Lernen Konkret« (Bildung im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung). Dr. phil. Lars Mohr ist Dozent am Institut für Behinderung und Partizipation der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich (HfH).

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Leseprobe

Alois Grüter

Heilpädagogik und Psychiatrie im Dialog


Menschen mit einer geistigen Behinderung haben ein erhöhtes Risiko an psychischen Störungen zu leiden. Sie haben ein Anrecht auf gute und fachgerechte Diagnostik und Behandlung. Diese muss in einem interdisziplinären Setting stattfinden, um den Bedürfnissen dieser Personengruppe genügend Rechnung zu tragen. Psychiatrie und Heilpädagogik sind deshalb gefordert, die gegenseitige Entfremdung, die u. a. im Rahmen der Psychiatrieenquete entstanden ist, aufzulösen und sich wieder anzunähern. Im Alltag muss der emotionalen Begleitung mehr Gewicht beigemessen werden.

2.1Einführung


Menschen mit geistiger Behinderung können auch unter psychischen Störungen leiden – diese Erkenntnis hat sich durchgesetzt. Es ist deshalb sehr zu begrüßen, dass sich die Heilpädagogik vermehrt dieses Themas annimmt. Die Psychiatrie und die Heilpädagogik, beide Fachgebiete stehen vor der Herausforderung, diesen Menschen die ihnen zustehenden Angebote zur Prävention und Behandlung von psychischen Störungen zu gewährleisten. Was haben sich die beiden Fachgebiete zu sagen? Es zeigt sich ja, dass es zwischen ihnen viele Überschneidungen gibt. Die wichtigste und grundlegendste Gemeinsamkeit ist die Arbeit mit und das Engagement für Menschen, welche von der vermeintlichen Norm abweichen. Ich werde in diesem Kapitel den Blick auf das Verbindende von Heilpädagogik und Psychiatrie richten und dies später am Beispiel der Verhaltensauffälligkeiten aufzeigen.

Alle Beteiligten müssen sich in den verschiedenen interdisziplinären Handlungsfeldern ähnlichen Herausforderungen im Hinblick auf Zusammenarbeit, Koordination, Fachwissen, Transparenz usw. stellen. Dabei sind die verschiedenen Sicht- und Herangehensweisen wichtig. Die Sicht auf Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen setzt sich aus vielen Perspektiven zusammen und erfordert den Diskurs. Nicht alle Beteiligten erleben diese Perspektivenvielfalt als Bereicherung. Argumente anderer Disziplinen anzuerkennen kann schwierig sein. Will man als Helfer für die angesprochene Klientel Partei ergreifen, ist man verpflichtet, diese Vielfalt anzuerkennen. Wenn sich beide Fachgebiete auf den Diskurs und die Zusammenarbeit einlassen, wird ein optimaler Erfolg der Behandlung möglich (→ Kap. 12).

2.2Rückblick – zum Personenkreis der beiden Disziplinen


Wenn ich in dieser Einführung über den notwendigen Dialog zwischen Psychiatrie und Heilpädagogik schreibe, geht dies nicht ohne einen kurzen geschichtlichen Blick auf den Umgang mit dieser Personengruppe. Die Auseinandersetzung mit Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Störungen hat in der Geschichte beide Disziplinen beschäftigt.

Wenn wir zurückblicken, waren sich bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts Psychiatrie und Heilpädagogik nicht fremd. Sie haben eine Zusammenarbeit praktiziert. Bis Anfang des letzten Jahrhunderts lassen sich sogar Zeitschriften finden (Zeitschrift für die Erforschung des jugendlichen Schwachsinns auf wissenschaftlicher Grundlage und Die Kinderfehler. Zeitschrift für Kinderforschung), die gemeinsam herausgegeben und genutzt wurden. Mit der zunehmenden Differenzierung von psychischen Störungen im Rahmen der psychiatrischen Weiterentwicklung und dem Bedürfnis der Pädagogik und Psychologie, sich von der Medizin abzuheben und sich therapeutisch weiterzuentwickeln, entfernten sich die beiden Disziplinen voneinander. Dabei spielte wohl auch bei beiden die Institutionalisierung eine Rolle. Die Psychiatrie entwickelte sich von der Irrenanstalt über die Heil- und Pflegeanstalt zur Klinik. Die Pädagogik institutionalisierte sich über die Volksschule.

Trotzdem galt bis in die 1960er- und 1970er-Jahre eine geistige Behinderung als psychische Krankheit. Dies führte unweigerlich dazu, dass auffällige Verhaltensweisen dieser Menschen über die medizinische, sprich medikamentöse Ebene angegangen wurden. Erst mit dem Paradigmenwechsel der Psychiatrieenquete 1975 in Deutschland, die die damalige Lebenssituation und Verwahrung der psychisch kranken Menschen anprangerte, änderte sich auch die Haltung gegenüber geistig behinderten Menschen. Geistige Behinderung wurde nicht mehr als Krankheit, sondern als eine Daseinsform betrachtet. Deshalb entstanden Doppeldiagnosen. Dies implizierte nach wie vor, eine geistige Behinderung sei den psychiatrischen Störungsbildern zuzuordnen. Folglich grenzten sich Pädagogik und Psychiatrie stärker voneinander ab. Die Psychiatrie wandte sich, teils verständlicherweise, etwas gekränkt von dieser Klientel ab. Die Heil- und Sonderpädagogik ging davon aus, die Schwierigkeiten dieser Menschen alleine bewältigen zu können. Die Problematik der psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung geriet aus dem Blickfeld.

Die Neuorientierung der Psychiatrie führte in der Schweiz zuerst dazu, dass sich die Angehörigen der Menschen mit geistiger Behinderung, die in der Psychiatrie verwahrt wurden, für bessere Lebensbedingungen engagierten. Die Schweizerische Heilpädagogische Gesellschaft konnte für ein Projekt (Lebensräume) gewonnen werden, das zum Ziel hatte, dieses Engagement der Angehörigen zu unterstützen. Das Projekt Lebensräume begleitete viele Kliniken auf diesem Weg. Zahlreiche Menschen mit geistiger Behinderung wurden aus Kliniken in Wohnheime entlassen. Ebenso entstanden in den Kliniken Einrichtungen, welche nicht mehr medizinisch, sondern pädagogisch geführt wurden. Administrativ blieben aber die meisten weiterhin der Psychiatrie angegliedert.

Die heutigen Erkenntnisse sagen klar: Menschen mit einer geistigen Behinderung können genau wie alle andern Menschen an einer psychischen Störung leiden. Das Risiko, daran zu erkranken, ist sogar deutlich höher als in der Allgemeinbevölkerung. Die verschiedenen psychiatrischen Störungsbilder können alle auftreten. Die einzelnen Störungsbilder können aber in ihrer Ausprägung vom Allgemeinbild abweichen. Die interdisziplinäre Zusammenarbeit, insbesondere zwischen Psychiatrie und Pädagogik im schulischen und nachschulischen Bereich, ist deshalb nötig. Diese Erkenntnis beginnt sich mittlerweile durchzusetzen (→ Kap. 10).

2.3Verhaltensauffälligkeiten und psychische Störungen


Verhaltensauffälligkeiten sind vielgestaltig und können verschiedenste Ursachen haben. Es geht um Verhaltensweisen, die in Form, Ausprägung und Intensität situativ nicht angepasst sind. Für die betroffene Person oder deren Umwelt sind sie verunsichernd, belastend und verhindern Entwicklungen, statt sie zu fördern. Schlussendlich können sie Gefahren für die Person selber oder deren Umfeld darstellen. Die genaue Abgrenzung zu psychischen Störungen ist aufwändig und schwierig.

Studien zeigen immer wieder eine deutlich erhöhte Prävalenz von psychischen Störungen bei Menschen mit geistiger Behinderung (u. a. Lotz/Koch/Stahl 1994). Woher stammt dieses erhöhte Risiko für psychische Störungen? Sicher reicht eine nur auf die Schädigung des Zentralnervensystems (ZNS) ausgerichtete Sichtweise nicht aus. Menschen mit einer geistigen Behinderung haben oft wenig bis keine Erfahrung, mit belastenden Situationen konstruktiv umzugehen. Das Mitteilen über Belastungen und Befindlichkeit kann wegen mangelnder Selbstwahrnehmung oder verminderter Kommunikationsfähigkeit für die Personen erschwert sein. Bei Menschen mit einer Behinderung besteht zudem ein erhöhtes Risiko früher Bindungsstörungen (Spitalaufenthalte ö. Ä.). Nicht zu vergessen sind zudem Kränkungen durch die Behinderung selber sowie weitere mögliche soziale Faktoren wie Trennung vom Elternhaus, Einsamkeit, usw.

Viele Menschen mit geistiger Behinderung leben (auch schon im Kinder- und Jugendalter) institutionalisiert und deshalb in teilweiser großer Abhängigkeit von andern Menschen. Diese Abhängigkeit kann für die Entwicklung von Selbstbestimmung und für die Erfüllung eigener psycho-sozialer Bedürfnisse hinderlich sein. Häufig trauen sich diese Menschen gar nicht, ihre Bedürfnisse zu äußern, weil sie sich nicht exponieren wollen. Es allen recht machen wollen ist dann ihr Ziel....

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