Und wer fragt nach mir? Angehörige zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung
Eva Straub
Wen interessiert es eigentlich, wie es mir geht? Wen kümmert es, ob ich Angst vor dem Entlassungstermin unserer Tochter, des Sohnes, meines Partners, meiner Mutter, des Vaters aus dem Krankenhaus habe? Wohl jeder Angehörige eines psychisch kranken Menschen hat sich das oder Ähnliches schon einmal gedacht. Der dahinter stehende Vorwurf ist meist berechtigt. Zumindest signalisiert er, dass der so denkende Mensch in einer schwierigen Lebensphase steckt, sich vergessen und allein gelassen fühlt, »frustriert« ist.
Es ist nicht leicht, ein »guter« Angehöriger zu sein
Zur unrechten Zeit und bei der falschen Gelegenheit bewirkt unsere wohlgemeinte Hilfe unter Umständen genau das Gegenteil von dem, was wir gern erreichen möchten – sie macht den Kranken unselbstständiger. Bei einem körperlich Kranken ist das einfacher, da übernehme ich die Verantwortung dafür, dass beispielsweise einem Blinden nichts im Wege steht, worüber er stolpern könnte. Es ist viel schwieriger zu erkennen, inwieweit ein psychisch kranker Mensch unserer Hilfe bedarf. Und immer wieder stellt sich den betreuenden Angehörigen die Frage, wie man das erkennt: »Will er – oder sie – nicht oder kann er nicht?« Will er nicht, dann kann er selbst Verantwortung übernehmen; kann er aber nicht, dann sollten die nahen Bezugspersonen ihm die Verantwortung für Entscheidungen abnehmen. Was ist, wenn der Betroffene nicht einsieht, dass er krank ist und Hilfe braucht? Wenn er oder sie dem Angehörigen das Recht abspricht, für ihn zu handeln, um Schaden abzuwenden? Angehörige sind durch dieses Dilemma noch verunsicherter, als sie es ohnehin schon sind durch die Veränderung des psychisch kranken Familienmitglieds. Der Gedanke quält sie: Hilfe wider Willen – ist das dann noch Hilfe? Ein »guter« Angehöriger zu sein, alles im Griff haben zu wollen, ist ein Anspruch, den Angehörige besser nicht haben sollten. Übertriebene Selbstverpflichtung setzt sie unter Druck, bringt sie an den Rand der nervlichen und psychischen Erschöpfung und lässt sie innerlich ausbrennen. Außerdem, wie ist er denn, der »gute« Angehörige? Wir wissen, wie sich ein »guter« Angehöriger nicht verhält. Vom Verstand her wissen wir es. Die Umstände machen es vielen Angehörigen sehr schwer, ihre Emotionen und ihre Einstellungen so zu ändern, dass sie weder sich noch dem Betroffenen schaden.
Meine Rolle als Angehöriger
Voraussetzung hierfür ist es, in sich zu gehen und sich Rechenschaft abzulegen über seine eigene Einstellung zur Krankheit. Welche Rolle will und kann ich dabei einnehmen? Was tut dem kranken Familiemitglied gut – und was mir?
Wissen macht selbstsicher
Es gibt nur einen Weg, die Gratwanderung des Angehörigen zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung sicherer zu machen und der führt über bessere Kenntnisse über die Erkrankung, über das Einholen von Informationen bei allen Beteiligten: bei Profis, in Trialog-Gesprächen mit Gleichbetroffenen und mit Psychiatrie-Erfahrenen und ganz besonders auch im Gespräch mit dem eigenen psychisch kranken Familienmitglied. An mündliche Sachinformationen der jeweils zuständigen Profis ist bedauerlicherweise schwer heranzukommen. Da drängt sich die Frage auf, wie es denn mit der Verantwortlichkeit der professionell Tätigen in dieser Hinsicht aussieht. Brauchbaren Rat, wie wir mit Verantwortung und Selbstbestimmung umgehen, gibt es bei betroffenen Familien, in Angehörigengruppen und in Einzelgesprächen. Nur – Patentlösungen gibt es auch hier nicht!
Teufelskreis von Schuldgefühlen durchbrechen
Je mehr der Angehörige bei der Betreuung des psychisch Kranken Verantwortung übernimmt oder aus Selbstüberschätzung an sich zieht, umso weniger Selbstbestimmung bleibt ihm. Gefangen in den eigenen Ansprüchen und nicht selten in gesellschaftlichen Konventionen, kümmert er sich schließlich um alles, verliert das Gefühl für sich selbst und seine Belastungsgrenzen. Es gehört eine gehörige Portion Selbstbewusstsein dazu, zu seinen Bedürfnissen zu stehen, ohne Schuldgefühle zu entwickeln. Schuldgefühle führen zu Wiedergutmachungsbemühungen der Angehörigen bis zur Selbstaufgabe. Dadurch wird nichts besser, sondern alles nur noch verkrampfter und unfreier im Zusammenleben mit psychisch Kranken. Eine Besserung des Gesundheitszustandes des Patienten kann so nicht entstehen. Wegen dieser Erfolglosigkeit erhalten sich die Schuldvorwürfe ständig selbst, und irgendwann besteht unser ganzes Leben aus Verantwortungsgefühl. Wir verlieren uns selbst. Wir können ihm kein Halt mehr sein. Schuld hat gemeinhin in der Psychiatrie wenig zu suchen, auch wenn sie in enger Beziehung zu Verantwortung steht. Wie steht es mit der Verantwortung des Gesetzgebers für eine für alle gleiche Gesundheitsversorgung, wie mit der des Staates für bedarfsgerechte und unterschiedslos allen zugutekommende, erschwingliche Leistungen aus? Der Staat hat eine Fürsorgepflicht für Kranke und Behinderte. In dieser Fürsorgepflicht stehen auch Kommunen und Landkreise.
Und wer fragt nach uns, den betroffenen Familien?
Die Rolle der Angehörigen in der Psychiatrie hat sich gewandelt. Trotz einer erheblichen Therapieverbesserung, bei der Behandlung von Schizophrenien zum Beispiel, gelingt es vielen Patienten nicht, wieder ein selbstständiges Leben zu führen. Mehr als die Hälfte aller psychisch Kranken lebt in der Familie. Und trotz moderner Medikamente und sozialpsychiatrischer Betreuung muss immer wieder mit Rückfällen gerechnet werden. Es käme noch viel häufiger zu Rückfällen, würden die Familien nicht stützend, ermutigend und zur Behandlung motivierend mithelfen.
Miteinbeziehung der Angehörigen
Angehörige sind ein wichtiges Glied in der psychiatrischen Versorgungskette, unverzichtbar zum Beispiel bei der Nachsorge nach stationärer Behandlung. Sie erwarten dafür aber eine gewisse Mitsprache bei Entscheidungen. Sie erwarten Rücksichtnahme auf ihre, den Lebensumständen entsprechenden Unterstützungsmöglichkeiten. Am Beispiel der Entlassungspraxis aus dem psychiatrischen Krankenhaus möchte ich das erklären. Jeder Ortswechsel, jeder Wechsel der Bezugspersonen macht psychisch kranken Menschen zu schaffen. Es ist ein kritischer Moment. Die Entlassung aus der Klinik ist solch ein belastendes Ereignis – und das nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für ihre Angehörigen. Soll dieser Schritt gut gelingen, bedarf es der Miteinbeziehung der Angehörigen in die Entlassungsvorbereitungen. In der Praxis hieße das zum Beispiel, die Familien vor der Entlassung ihrer psychisch kranken Familienmitglieder aus stationärer Behandlung zu fragen, ob sie sich praktisch, räumlich, psychisch in der Lage fühlen, die weitere Betreuung ihrer Kranken zu übernehmen, ob sie darauf vorbereitet sind. Gemeinsam – »trialogisch« – die Entlassung vorzubereiten, das hieße, die Angehörigen und die Patienten ernst zu nehmen und ihnen beiden die Selbstbestimmung – in Form der Mitbestimmung – zu lassen. Unbestritten gibt es eine Kommunikationslücke zwischen Krankenhaus und Familie, aber auch – und diese Kluft ist vielleicht noch größer – zwischen niedergelassenen Psychiatern und Angehörigen! »Krankenhaus – Angehörige« ist eine »Schnittstelle«, die bei Weitem tiefer geht und dramatischere Folgen hat, als es bei »Schnittstellen« zwischen professionellen Einrichtungen der Fall ist. Die Beseitigung dieser Kluft ist ein »Muss«! Das ist eine notwendige Konsequenz aus der Psychiatriereform und ist eine unabdingbare Voraussetzung für die Fortsetzung einer schwerpunktmäßig im ambulanten Bereich liegenden psychiatrischen Versorgung. Patienten nach längerem stationären Aufenthalt in die unvorbereitete Familie zu entlassen, ist ein Kunstfehler!
Angehörige, die unverzichtbaren Partner
Die Mit- und Selbstbestimmung der Familien eines behinderten Menschen zu achten, ist nicht nur eine moralische Pflicht, es ist vor allem vernünftig! Es erhält die Gesundheit der betroffenen Familien und ihre Leistungsfähigkeit, und damit ist es eine volkswirtschaftlich vernünftige Maßnahme. »Jeder will gefragt werden, selbst dann, wenn er eigentlich keine Möglichkeit hat, Nein zu sagen!« Psychische Krankheiten sind, volkswirtschaftlich gesehen, teure Krankheiten. Nicht die direkten Kosten (Arzthonorare, Medikamente usw.) verursachen den Löwenanteil. Es sind die indirekten Kosten, wozu diejenigen durch Arbeitsausfall, durch Frühverrentung, durch beschützte Wohnplätze, Tagesstrukturmaßnahmen usw. zählen, die zwei Drittel der Gesamtkosten ausmachen. Angehörige übernehmen hierbei Leistungen, die, aus welchem Grund auch immer, von anderen nicht erbracht werden können oder nicht erbracht werden wollen. Es ergäbe sich eine milliardenschwere Mehrbelastung für das Gesundheits- und Sozialwesen, wenn allein die Familien, die in die Entlassungsplanung ihres kranken Familienmitglieds aus der psychiatrischen Klinik...