1 Einleitung
»Jedes Land bringt, wenn auch unbewusst, die Psychoanalyse hervor, die es braucht« (1995, S. 1), schrieb die Soziologin Edith Kurzweil in ihrer Einleitung zum Buch Freud und die Freudianer. 100 Jahre Psychoanalyse, in dem sie die Rezeption der Psychoanalyse in Wien, Berlin, London, Paris und New York und in den entsprechenden Ländern verglich und dabei zu dem Schluss kam, dass diese es mit einer ganzen Menge von Einflüssen zu tun hat, die den unterschiedlichen analytischen Gemeinschaften selbst oft entgehen bzw. nicht bewusst sind.
Werner Bohleber (2004) beleuchtete in einer weiteren Forschungsarbeit die Rezeption der Klein’schen Psychoanalyse in Deutschland: Diese konnte erst Anfang der 1980er Jahre stattfinden und zwar erst nachdem sich die deutsche analytische Gemeinschaft endlich mit der NS-Zeit auseinandergesetzt hatte bzw. mit dem dadurch verursachten Verlust der Verbindung zur internationalen analytischen Gemeinschaft und der daraus resultierenden Beschädigung der deutschen Psychoanalyse. Eine solche verspätete Rezeption der Freud’schen und Klein’schen Todestriebkonzepte im deutschsprachigen Raum ist in der Tat erst kürzlich von Claudia Frank (2015) klar aufgezeigt worden.
Es ist auch kein Wunder, dass erst Anfang Oktober 2014 in Nürnberg eine Rosenfeld-Gedächtnistagung durch die Initiative der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) stattfinden konnte (s. Conci & Kamm, 2015). Auf dieser konnte die Tochter Herbert Rosenfelds, Angela, von ihrem Vater (einem in Nürnberg im Jahre 1910 geborenen und in München als Arzt promovierten Juden, der im Anschluss an seine Emigration nach London zu einem der wichtigsten Mitarbeiter von Melanie Klein wurde) ein persönliches Bild vorstellen (s. Herrmans, 2015).
Früher oder später wurde im deutschsprachigen Raum aber die Arbeit beinahe aller Pioniere und Pionierinnen der Psychoanalyse rezipiert, deren Leben und Werk in diesem Band dargestellt werden. Dabei geht es um die folgenden zwölf Pioniere: Sándor Ferenczi, Anna Freud, Melanie Klein, Donald Winnicott, Wilfred Bion, John Bowlby, Jacques Lacan, Jean Laplanche, Harry Stack Sullivan, Heinz Kohut, Heinrich Racker und Alexander Mitscherlich. In der Tat freuen wir uns beide als Herausgeber dieses Bandes darüber, für die von uns vorgesehenen Kapitel hervorragende Kolleginnen und Kollegen gewonnen zu haben, und zwar nicht nur aus Deutschland, sondern auch aus Österreich, der Schweiz und Argentinien bzw. den USA, deren gemeinsamer Nenner darin besteht, mit beiden Dimensionen, nämlich der geschichtlichen und der klinischen sehr vertraut zu sein. Sie alle kennen sich mit dem Leben, der Entwicklung, der klinischen Anwendung und der Rezeption des Werkes der einzelnen Pioniere sehr gut aus. Es geht in der Tat um eine neue Generation von historisch ausgebildeten Psychoanalytikerinnen und Psychoanalytikern, deren Arbeit auch zur Verbreitung der Zeitschriften Luzifer-Amor (1987) und Psychoanalysis and History (1998) viel beigetragen hat und welche untereinander eine wichtige internationale wissenschaftliche Gemeinschaft aufgebaut haben.
Die nationalen Hindernisse zur Rezeption der Arbeit der oben genannten einzelnen Pioniere konnten auch dadurch behoben werden, dass sich in den letzten 30 Jahren die internationale analytische Gemeinschaft selbst stark in eine pluralistische Richtung entwickelt hat. Zu diesem wichtigen Phänomen trug z. B. der Tod von Anna Freud im Jahre 1982 bei, wodurch die Verarbeitung des Erbes des im Jahre 1939 verstorbenen Vaters (der Psychoanalyse) Sigmund Freud einen wichtigen weiteren Schritt machen konnte. Erst 1985 kamen die Freud’schen Analytiker (die Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung, IPV) dazu, auf deutschem Boden (in Hamburg) eine internationale Tagung zu halten (die letzte hatte 1932 in Wiesbaden stattgefunden!), was einen sehr wichtigen Schritt auf der Ebene des internationalen Dialoges darstellte (s. Kafka, 1988). In diesem Rahmen wurde auch eine bedeutende Ausstellung zur Geschichte der Psychoanalyse in Deutschland gezeigt, die von einer neuen Generation von Kandidaten (s. Brecht et al., 1985) vorbereitet wurde – dazu gehören auch die wichtigen Forschungsarbeiten von Geoffrey Cocks (1985) und Regine Lockot (1985). Robert Wallerstein (1921–2014), einer der wichtigsten nordamerikanischen Pioniere der empirischen Forschung in der Psychoanalyse, hatte auch 1985 in Hamburg eine zentrale Rolle gespielt (Wallerstein, 1988b) und widmete somit seine erste Rede als Präsident der IPV (Juli 1987, in Montreal) dem bedeutsamen Thema »One psychoanalysis or many?« (Wallerstein, 1988a). Damit eröffnete er auf der institutionellen Ebene die neue, pluralistische Phase unserer Entwicklung als Beruf und Wissenschaft, die in den weiteren Jahren sehr reiche Früchte bringen sollte.
In einem der eloquentesten Absätze des Beitrages von 2001 zum Thema »Psychoanalytischer Pluralismus. Fortschritt oder Chaos?« schrieb Arnold Cooper:
»Meines Wissens gibt es heute keinen Grund, ein bestimmtes System psychoanalytischen Denkens zugunsten eines anderen aufzugeben. Unter dem Dach des gegenwärtigen Pluralismus haben wir alle die Freiheit, uns unterschiedlicher Ideen und Techniken zu bedienen. Es gibt zwar einige Erneuerer wie auch Konservative, die versuchen, sich an eine reine Fassung ihrer Art von Psychoanalyse zu halten, aber ich glaube, dass die meisten von uns schließlich bei Mischkonstruktionen landen. Wir nehmen uns nützlich erscheinende Teile aus anderen Theorien und pfropfen sie unserem bisherigen System von Überzeugungen auf. Die meisten Psychoanalytiker in Nordamerika mischen heute meines Erachtens Teile der traditionellen, auf dem Triebkonzept basierenden Ich-Psychologie mit der Objektbeziehungstheorie, dem beziehungstheoretischen und dem interpersonalen Ansatz, nehmen dazu die Kleinianischen Konzepte der Projektion und projektiven Identifizierung, Kohuts Vorstellungen einer empathischen Resonanz und der vertikalen Spaltung und kombinieren das alles mit Vorstellungen unterschiedlicher Herkunft über die frühe kindliche Entwicklung. Es gibt vor allem keine überzeugenden Belege, dass die eine Form der Psychoanalyse – ob alt oder neu – zu besseren Ergebnissen führen würde als eine andere« (Cooper, 2001, S. 68 f.).
Bei diesen Worten von Cooper bleibt die wichtige Tatsache implizit, dass die von ihm erwähnten Sichtweisen den folgenden klinischen gemeinsamen Nenner haben: die Arbeit an der Übertragung (was der Patient in die Sitzung bringt bzw. wie er sich dem Analytiker gegenüber benimmt) und an der Gegenübertragung (welche Gefühle dadurch im Analytiker entstehen) bzw. das, was Wallerstein (1990) den »common ground« genannt hat. Andererseits ist es kein Wunder, dass die Auswahl der um dieses Kernthema zentrierten ausgewählten Schriften von Arnold Cooper (1923–2011) unter dem Titel The quiet revolution in American psychoanalysis (2005) veröffentlicht wurde.
Dass es um eine »ruhige Revolution« ging, kann auch dadurch bewiesen werden, dass ein wichtiger Beitrag in die pluralistische Richtung ursprünglich von analytischen Zeitschriften kam, welche außerhalb der IPV standen – und noch teilweise stehen. Wir beziehen uns dabei auf das von Michael Ermann und Jürgen Körner 1985 begründete Forum der Psychoanalyse (s. auch Ermann, 2014), an die von Stephen Mitchell (1946–2000) im Jahre 1991 gegründete Zeitschrift Psychoanalytic Dialogues und auf das von Jan Stensson gegründete (und von der Internationalen Föderation der Psychoanalytischen Gesellschaften, IFPS, getragene) International Forum of Psychoanalysis – von welchem einer von uns, M. C., seit 2007 der Mitherausgeber ist. Andererseits ist es auch nicht verwunderlich, dass der aktuelle Präsident der IPV aus dem Land (Italien) stammt, welches aus der Peripherie der »analytischen Bewegung« kommend in deren Mitte genau dank der Tatsache rücken konnte, dass es dort keine Pioniere wie Anna Freud oder Melanie Klein gab, sondern nur die Möglichkeit bestand, sich in einer sehr mühevollen und langwierigen Arbeit die unterschiedlichen analytischen Sprachen anzueignen (s. auch Conci, 2008). Eine solch pluralistische Entwicklung und Ausrichtung zeigt sich sehr klar in Stefano Bologninis (IPV-Präsident 2013–2017) Buch Verborgene Wege. Die Beziehung zwischen Analytiker und Patient: Unsere Patienten sind so unterschiedlich und facettenreich, dass wir mit einer Vielfalt von analytischen Autorinnen und Autoren und Theorien sehr gut vertraut sein müssen, um ihnen gerecht zu werden (s. auch Conci, 2011).
In der Tat spiegelt sich eine solche – theoretisch breite und technisch patientenzentrierte – Perspektive nicht nur in dem allgemeinen Konzept dieser ganzen Bücherreihe, Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen wider, sondern diese stellt auch einen...