Grundlagen der Säuglingsforschung
Weil, wie gesagt, im Rahmen der »intersubjektiven Wende« die reale Erfahrung bei der Entstehung der psychischen Strukturen – verkürzt gesprochen im Guten als Glaube an die eigene Selbstwirksamkeit, im Schlechten als basale Misserfolgserwartung mit allen Folgen von Lern- und Verhaltensauffälligkeiten – heutzutage eine viel größere Rolle spielt, so interessiert neben dem Gebiet der Bindungsforschung nun auch jenes der Säuglingsforschung (vgl. Neumann, Naumann-Lenzen 2017, S. 20). Beide zusammen genommen haben mit ihren vor allem empirisch begründeten Erkenntnissen unsere psychodynamische Sicht auf das Kind erweitert.
Den Gedanken von eben wieder aufnehmend lässt sich zunächst unstrittig konstatieren, dass die Entwicklung des Säuglings auf frühen Lernprozessen im Rahmen einer Bindungsbeziehung aufbaut, die seine Wahrnehmung und sein Gedächtnis entscheidend beeinflussen. Beginnend bei der Figur-Hintergrund-Gliederung, der Fähigkeit, unter verschiedenen Lichtverhältnissen Rot immer als Rot zu sehen oder in Bewegung befindliche Objekte als solche zu erkennen, spielt bei der Ausdifferenzierung der Wahrnehmung das Kind selbst von Anbeginn an eine aktive Rolle. Bereits im Alter von 6 Monaten können Babys zwischen dem Gesicht und der Größe eines Menschen unterscheiden. Ab dem 10. Lebenstag vermögen sie langsam sich bewegenden Objekten mit dem Auge zu folgen, auch wenn die korrekte Einschätzung der Geschwindigkeit zunächst noch schwer fällt. In der frühen Phase der Entwicklung lässt sich eine fein abgestimmte Synchronizität zwischen dem Säugling und seinem primären Objekt beobachten. Seine optimale Sehschärfe entspricht exakt dem Abstand zum Gesicht der Mutter beim Stillen. Schon im ersten Lebensmonat stellt das menschliche Gesicht einen privilegierten optischen Reiz dar. Ab dem 3. Lebensmonat reagiert das Kind mit einem Antwortlächeln, wenn ein sich bewegendes Gesicht erscheint. Mit acht Monaten wird der Sinneseindruck eines fremden Gesichts mit den jetzt bereits fest eingeprägten Gedächtnisspuren des mütterlichen Gesichts verglichen und als anders erkannt, was zu Ablehnung und Fremdeln führen kann (vgl. Seiffge-Krenke 2009, S. 61 ff.).
Im Folgenden möchte ich mich jetzt einigen wichtigen Säuglingsforschern und ihren empirischen Erkenntnissen zuwenden. Zuallererst ist da der Psychiater und Psychoanalytiker Daniel Stern (1934–2012) zu nennen. Mit seinen auf vielfachen Direktbeobachtungen gründenden Einsichten gehört er zweifelsohne zu den kreativsten Köpfen dieser Gattung. Ihm zufolge suchen Säuglinge nach sensorischer Stimulation und zeigen deutliche Vorlieben und Abneigungen im Hinblick auf die gewonnenen Sinneseindrücke. Auch offenbaren sie ein zentrales Bestreben zur Prüfung von Hypothesen, was in der Welt um sie herum vor sich geht, wobei sich hier affektive und kognitive Vorgänge nicht ohne weiteres auseinanderdividieren lassen. Lernen ist immer affektgeladen (vgl. Stern 1992, S. 66 f.). Die Entwicklung des Selbst wird von biologischen Reifungsprozessen einerseits und Beziehungserfahrungen andererseits getragen, beginnt vom ersten Tag an und ist nie abgeschlossen. Stern definiert die vier nachfolgend aufgeführten Stufen des Selbsterlebens, die stets mit einer typischen Bezogenheit zum Objekt verknüpft sind.
1. Stadium des auftauchenden Selbst (1.–2. Lebensmonat): Hier steht die Interaktionserfahrung mit einer empathischen primären Bezugsperson im Mittelpunkt, was sich in den Worten Winnicotts auch als »good-enough-mothering« umschreiben ließe. Für eine förderliche Unterstützung des Säuglings in diesem Stadium ist die Fähigkeit des Primärobjekts wesentlich, ihn als bedeutenden »Anderen« wahrzunehmen.
2. Stadium des Kern-Selbst (2.–9. Lebensmonat): Ausgangspunkt sind die sich täglich wiederholenden Pflegeleistungen und Hilfen des Primärobjekts bei der Regulation der körperlichen Erregungen und Impulse des Säuglings. (2a) Er macht die Erfahrung seiner eigenen Urheberschaft und kann seinen Körper lenken und z. B. seinen Fuß bewegen, wann immer er will; wenn er lächelt, lächelt die Mutter zurück. (2b) Indem er sich als physische Einheit mit Grenzen und einem Ort integrierter Handlungen erlebt, erfährt er Selbstkohärenz; das Selbst und der Andere werden als getrennte, eigenständige Einheiten realisiert. (2c) Über das Erleben strukturierter spezifischer Affekte stellt der Säugling eine charakteristische Konstellation von spezifischen körperlichen Rückmeldungen und inneren Erregungsempfindungen fest und erlebt damit seine Selbst-Affektivität. (2d) Der Säugling entwickelt über das Empfinden von Kontinuität hinsichtlich seiner Vergangenheit und des Umstands, dass er sich verändern kann und sich dennoch gleich bleibt, eine Geschichte seines Selbst.
3. Stadium des subjektiven Selbst (7.–9. Lebensmonat): Der Säugling entdeckt, dass er seine subjektiven Erfahrungen mit anderen zu teilen vermag und entfaltet so die Fähigkeit zur »Inter-Affektivität«. Mit Hilfe ihres Spiegelns und ihrer emotionalen Verfügbarkeit stimmt sich die Mutter im Sinne des »affect attunements« auf den affektiven Zustand ihres Säuglings ein und drückt diesen ihrerseits über verschiedene Sinneskanäle aus, indem sie z. B. summt oder den gleichen Schaukelrhythmus übernimmt. Der Säugling entdeckt, dass seine subjektiven Erfahrungen mit anderen geteilt werden können, und so entsteht eine »interpersonelle Kommunikation«.
4. Stadium des sprachlichen Selbst (nach dem 18. Lebensmonat): Jetzt erwirbt das Kind die Fähigkeit zur Umkehrbarkeit der Koordination von mentalen und motorischen Schemata; es entsteht ein »objektives Selbst«. Das Kind kann sich erkennen, wenn es sich im Spiegel »von außen« sieht. Gleichzeitig setzt der Spracherwerb ein. Einerseits ermöglicht dieser eine »eindeutige« Kommunikation, andrerseits geht die amodale, ganzheitliche Verständigung mit den Primärobjekten verloren. Eine Trauerreaktion setzt ein, weil das Kind sich zunehmend als getrennt von ihnen erlebt (vgl. Leuzinger-Bohleber 2009, S. 103 ff.).
Als nächstes komme ich auf Robert Emde (1934–1994), ebenfalls Psychiater und Psychoanalytiker, zu sprechen. Sein Interesse gilt dem »affektiven Kern des Selbst«. Zwar geht er beim frühen Selbst von einer weitgehenden biologischen Determiniertheit aus, erkennt dieser aber eine hohe Komplexität zu, nicht zuletzt weil sich »Gene im Entwicklungsverlauf ein- und ausschalten« (vgl. Emde 1991, S. 749). Nach seiner Auffassung ist das Neugeborene ein aktives, sich selbst regulierendes soziales Wesen, das sofort an menschlicher Interaktion teilnimmt und soziale Beziehungen aufzubauen vermag (vgl. Emde 1988, S. 285). Neben der Bedeutung der Affekte für die Entwicklung des frühen Selbst gilt es jene des prozeduralen Wissens zu beachten, welches den Handlungsabläufen zugrunde liegt, ohne dass es im Bewusstsein Vorstellungen dazu geben müsste. Das frühe Selbst enthält also noch keine seelischen Repräsentanzen, beruht aber auf der Erfahrung, dass jede Handlung von einem bestimmten Gesichtsausdruck, der Stimme sowie emotional getönten Signalen des Anderen begleitet und reflektiert wird. Emotionen erscheinen hernach als fundamental sozial, und ihr gemeinsames Erleben begründet Interpersonalität beim Kind. Die Grundmotive von Aktivität und Selbstregulation, von sozialer Beziehung, affektiver Spiegelung und kognitiver Assimilation werden von Emde als Ausdruck einer übergreifenden Regulationsfunktion erachtet. Gestatten die emotional verfügbaren Eltern deren Entfaltung, tragen sie in den ersten drei Jahren wesentlich zu einer günstigen Entwicklung bei: das affektive Kern-Selbst wird konsolidiert; ein Gefühl von Wechselseitigkeit, das ein empathisches Empfinden einschließt, beginnt zu wachsen; schließlich entsteht im dritten Jahr ein Wir-Gefühl, wobei sich Autonomie und Sozialsinn gleichermaßen zu entfalten beginnen (vgl. Ludwig-Körner 2014, S. 95 f.).
Es folgt der Mediziner und Psychoanalytiker Joseph Lichtenberg (1925–1996). Zunächst einmal gibt er Stern darin Recht, dass der Säugling keine andauernde Vermischung zwischen sich und dem Anderen im Sinne einer normalen Entwicklung erlebt. Gleichzeitig geht er nicht davon aus, dass die Psychoanalyse imstande sei, eine stringente Strukturtheorie vorzulegen, sondern allein eine Theorie strukturierter Motivationen. Seine fünf basalen Motivationssysteme, die jedes für sich während der Kindheit über einen wechselseitigen Austausch mit der primären Bezugsperson zur Selbstregulation des Kindes beitrügen, sind wie folgt geschnitten: