1 Emotionstheorien zentraler Vorgänge
Die ersten Emotionstheorien, die zur Zeit der Entstehung der modernen Naturwissenschaften (und insbesondere der Neurophysiologie) entwickelt wurden, bezogen den Gegenstand ihrer Bemühungen entweder auf das zentrale Nervensystem oder auf das periphere Nervensystem. Die Wissenschaftler der ersten Gruppe, die sogenannten Zentralisten, beschäftigten sich mit den neurophysiologischen Korrelaten der Emotionen im Zentralen Nervensystem. Zu ihren Zielsetzungen gehörte es, den »Sitz« der Emotionen im Gehirn zu finden. Die erwartete »Entdeckung« stellte sich nicht ein. Die Forschungsarbeiten erbrachten zwar erste Befunde, doch diese betrafen lange Zeit mehr Wortbilder als Emotionen. Gelang es den Forschern schließlich doch noch das Zentrum der Emotionen im Gehirn zu lokalisieren?
Unter dem Nervensystem (NS) wird die Gesamtheit der Zellen verstanden, die zur Entstehung und Weiterleitung von Erregung spezialisiert sind. Das NS wird topographisch in das zentrale Nervensystem (ZNS) und das periphere Nervensystem (PNZ) unterteilt. Dabei bilden zahlreiche zwischengeschaltete Nervenzellen (Interneurone) komplexe neuronale Schaltkreise. Das ZNS setzt sich aus dem Gehirn und dem Rückenmark zusammen. Im Rückenmark leiten aufsteigende Bahnen Nervenimpulse aus der Peripherie zum Gehirn und absteigende Bahnen leiten Impulse vom Gehirn zu den ausführenden Organen (bzw. Erfolgsorganen) an der Peripherie zurück, wobei bestimmte Teile des NS tätig sind, ohne dass die Menschen etwas davon merken. Das periphere Nervensystem (PNS) besteht aus willkürlich und einem unwillkürlich tätigen Teil. Beim unwillkürlich tätigen Teil handelt es sich um das autonome Nervensystem (ANS), das auch vegetatives Nervensystem (VNS) genannt wird.
1.1 Lokalisationstheorie
Ausgangspunkte
Der im Jahre 1758 in Wien geborene Gall, ein studierter Mediziner und Anatom, behauptete schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts, dass menschliche Stärken, Potentiale, Fähigkeiten oder »Vermögen« in besonderen und voneinander abgegrenzten Gehirnarealen lokalisiert seien. Galls phrenologische Karten stellten einen Versuch dar, menschliche Kräfte i. S. der damals noch weit verbreiteten Vermögenspsychologie auf das Gehirn zu projizieren. Später wurde der Versuch unternommen, anhand von Beobachtungen der Veränderung menschlicher Verhaltensweisen nach Hirnverletzungen Funktionen der Hirnrinde zu bestimmen. Die klinische Beobachtung und wissenschaftliche Erforschung der Folgeerscheinungen derartiger Verletzungen begann aber erst mit den Forschungsarbeiten eines französischen Naturwissenschaftlers, nämlich mit dem Anatomen BROCA.
Theorie
Broca (1861) beschrieb das Gehirn eines Patienten, der schon mehrere Jahre in der Salpêtrière in Paris lag. Dieser Patient hatte schwere motorische Sprachstörungen, ja, er konnte faktisch nicht mehr sprechen.
Beispiel
Der von Broca untersuchte Patient hatte vom Krankenpersonal den Spitznamen »Tan« erhalten. Das lag daran, dass dieser Patient nur noch eine Silbe aussprechen konnte. Es handelte sich um die Silbe »Tan«.
Broca nahm nach dem Tod des Patienten Tan eine Autopsie vor und stellte fest, dass die linke Seite des Kortex im hinteren Drittel der Stirnhirnwindung zerstört war. Er schloss daraus, dass die linke Großhirnhälfte jener Bereich des Gehirns sein müsse, der auf die Sprachproduktion spezialisiert ist. Weiterhin nahm Broca die Spezifikation vor, dass die motorische Komponente des Sprechens mit dem hinteren Drittel der unteren Schläfenwindung verbunden sei. Er betrachtete diese Region als das Zentrum motorischer Wortbilder. Eine Verletzung dieses Zentrums führe zu einem typischen Verlust der Sprachäußerungen. Dieser Verlust wurde später als Aphasie bezeichnet. Die vom Forscher für die höheren Sprachfunktionen lokalisierte linke Hemisphäre des Gehirns erwies sich für Rechtshänder als die dominierende; eine Präzisierung, auf die Broca bereits selbst schon hingewiesen hatte (Broca, 1878).
Empirie
Broca entwickelte die Forschungsmethode der Untersuchung örtlicher Hirnverletzungen. Aus den Folgeerscheinungen dieser Verletzungen wurde die psychische Funktion erschlossen. Wernicke (1874) überprüfte die Untersuchungen von Broca, und seine Untersuchungen bestätigten im Wesentlichen Brocas Befund einer Beziehung zwischen der Schädigung der linken Großhirnhälfte und Sprachstörungen. Allerdings handelte es sich bei den von Wernicke beschriebenen zehn Fällen um Verletzungen des hinteren Drittels der oberen Schläfenwindung (Gyrus temporalis superior). Diese Verletzungen ergaben ein ähnlich klares Krankheitsbild wie bei Broca, jedoch war es dem von Broca registrierten Phänomen auf der gemeinsamen Grundlage einer Sprachstörung geradezu entgegengesetzt. Während es sich bei den Patienten von Broca um eine Läsion der Fähigkeit zur Verbalisierung und Symbolisierung handelte, war bei Wernickes Patienten die Fähigkeit beeinträchtigt, Sprechäußerungen zu verstehen.
Des Weiteren überlegte sich Wernicke die Folgen einer Verletzung des Gyrus temporalis superior, der Verbindung zwischen rechter und linker Hirnhälfte. Dabei würden, so seine Überlegung, die beiden Sprachzentren zwar ungestört bleiben, die unterbrochene Verbindung zwischen den beiden Zentren müsste aber sicherlich andere Konsequenzen nach sich ziehen. Der Autor prognostizierte, dass Patienten mit Schädigungen an dieser Verbindungsstelle im Gehirn sicherlich nichts Vorgesagtes repetieren könnten, obgleich sie sich weiterhin sprachlich ausdrücken und nach wie vor über Sprachverständnis verfügen würden. Diese theoretisch abgeleitete Prognose begründete Wernicke wie folgt: Die Trennung der beiden Sprachzentren hält den Teil des Gehirns, der darauf spezialisiert ist, die von außen hereinkommende Sprache zu verstehen (die heutige Wernicke-Region) davon ab, irgendeine Information an den Teil des Großhirns weiterzuleiten, der für die Produktion von Sprache zuständig ist (die heutige Broca-Region). Als später Patienten gefunden wurden, die an dem genannten Syndrom litten (heute als Konduktions-Aphasie bezeichnet), konnte sich diese Hypothese bewähren.
Abb. 1: Sprachzentren nach Broca und Wernicke
Der Gyrus temporalis superior ist die Stelle, an der das Wernicke-Sprachzentrum mit dem Broca-Sprachzentrum verbunden ist. Wird der Gyrus temporalis superior verletzt, können keine Informationen mehr zwischen den beiden Zentren vermittelt werden, was genau bestimmbare Konsequenzen hat. So ist es erwartungsgemäß nicht mehr möglich, gehörte Wörter zu wiederholen.
Kritik
Brocas Untersuchungen bezogen sich auf eine Gruppe von Patienten mit Verletzungen an ganz bestimmten Stellen des Gehirns. Die Nachfolger von Broca befassten sich dann meistens ebenfalls mit der linken Hirnhälfte. Lange Zeit fehlten nicht nur Befunde über die rechte Hemisphäre, sondern auch solche, die sich nicht ausschließlich auf intellektuelle Aspekte der Sprachproduktion und des Sprachverstehens bezogen. Sprache hat nicht nur mit Verstand und Vernunft, sondern auch mit Gefühl zu tun.
Wissenschaftliche Nachwirkungen
Brocas und Wernickes theoretische Lokalisierungen lösten bei den damaligen Neurologen einen beispiellosen Enthusiasmus aus. Mit großem Aufwand suchten sie nach Belegen weiterer Lokalisationen komplexer psychischer Vorgänge. Allerdings wurden zur rechten Hemisphäre des Gehirns vorerst kaum Ergebnisse eingebracht, wahrscheinlich, weil nach Unfällen ausschließlich oder jedenfalls fast nur Personen mit offensichtlichen körperlichen Verletzungen oder offensichtlichen Sprechstörungen behandelt wurden.
Diese Situation verbesserte sich erst mit den Untersuchungen Sperrys (1968), der ein neues Verfahren für die genaue Funktionsanalyse entwickeln sollte (s. u.). Dessen ungeachtet muteten sich die Neurologen schon früh zu, funktionale Karten des Kortex zu erstellen. Ihrer Meinung nach war die Frage nach dem funktionellen Aufbau des Gehirns in absehbarer Zeit größtenteils beantwortet, was sich jedoch später als Trugschluss herausstellen sollte (vgl. u. a. Lurija, 1973, 1996). So wird heute angenommen, dass bei dem für die Psychologie aufschlussreichen inneren Sprechen u. a. eine Aktivierung der Broca- und Wernicke-Regionen erfolgt. Die Vorgänge des Arbeitsgedächtnisses werden in den lateralen präfrontalen Kortexregionen lokalisiert, die freilich bei ihrer Aktivierung auch mit anderen (mitunter sensorischen) Kortexregionen kooperieren (vgl. u. a. auch Damasio, 2002).
1.2 Lateralisierungstheorie
Ausgangspunkte
Nach den grundlegenden Erkenntnissen von Broca (1878) und Wernicke (1894) stellten sich Wissenschaftler, darunter DAVID-SON die Frage, ob neben dem Sprachvermögen auch den Emotionen im Kortex ein besonderer Platz zukommt und, wenn ja, wo die Emotionen im Kortex zu verorten sind. Dem damaligen Stand der Wissenschaft entsprechend mussten sie sich allerdings auf die Frage beschränken, ob Emotionen in der rechten oder linken Hemisphäre des Gehirns zu lokalisieren sind.
Theorie
Davidson (1993) stellte die bisherigen Forschungsergebnisse zur Lokalisation von Emotionen zusammenfassend dar. Aufgrund dieser Arbeit behauptet er, dass die...