1 Begriffsbestimmung
Antje Otto
1.1 Einleitung
Der Begriff der Compliance war lange Zeit gleichbedeutend mit der Befolgung von Anweisungen des Arztes, ohne diese zu hinterfragen. Im Zuge der weiten Verbreitung des Internets ist heute allerdings eine Fülle an Informationen abrufbar und für bestimmte Diagnosen werden verschiedenste alternative Heilmethoden vorgeschlagen. Der Patient kann sich ohne Arzt über Therapien informieren und tritt durch das eigene erworbene Wissen auf kongenialer Ebene in das Gespräch mit dem Arzt ein, er wird mündig (empowered). Damit eine Therapie möglichst konstruktiv verläuft, muss sich der Umgang mit dem Patienten an die aktuellen Gegebenheiten anpassen. Der Fokus auf die „Compliance“ (d. h. auf die strikte Befolgung der ärztlich-medizinischen Anweisungen) wird verschoben in Richtung Hilfe zur Selbsthilfe und somit einem Problemlösetraining. Das Ziel der am Versorgungsprozess beteiligten Leistungserbringer ist nicht mehr nur die „Compliance“, sondern die „Adherence“ des Patienten. Das bedeutet, der Patient soll selbstverantwortlich aus eigener Überzeugung heraus das Beste für sich und seine Gesundheit tun, indem auch eigene Ressourcen genutzt werden. Voraussetzung hierfür ist eine partnerschaftliche Beziehung zwischen dem Arzt und seinem Patienten. Hieraus entstehen Herausforderungen für den Arzt und seine Mitarbeiter, die aber, wenn sie gut umgesetzt werden, bessere Bedingungen für die Behandlung schaffen, indem die Mitwirkungsbereitschaft durch intrinsische Motivation des Patienten nachhaltig gestärkt wird.
Die Theorien zum Thema Selbstmanagement zeigen diese Herausforderungen für den Arzt und seine Mitarbeiter auf und geben Ansätze zur Lösung der damit verbundenen Aufgaben. Zuerst wird hier der Begriff des Selbstmanagements genauer erläutert, bevor die Herausforderungen und Ansatzpunkte zur Lösung beschrieben werden. Aus der Vielzahl der Theorien zum Thema Selbstmanagement wie der Lerntheorie (Rotter, 1954; Bandura, 1979), Motivationstheorie (Heckhausen, 2006), Handlungstheorie (Skinner, 1973) etc. wurde hier die Theorie der Selbstwirksamkeitserwartung (Schwarzer, 1992) ausgewählt, da sich hieraus zahlreiche Implikationen für die Praxis ableiten lassen.
1.2 Eine Begriffsklärung im Kontext der Patientenversorgung
Selbstmanagement ist ein Oberbegriff für Therapieansätze, die darauf abzielen, Patienten zu einer besseren Selbststeuerung anzuleiten und sie so zur möglichst eigenständigen und aktiven Problembewältigung zu befähigen (Kanfer, 1987, 2006). Folgende Ziele resultieren daraus:
- Eine aktive Problembewältigung, d. h. nicht medizinische Wunder werden erwartet, sondern der Patient kann seine Situation durch eigenes Verhalten positiv beeinflussen.
- Die Autonomie des Patienten, d. h. der Patient wird als Individuum in seiner eigenen speziellen Lage gesehen, so dass nicht bei allen Patienten mit der gleichen Diagnose die gleiche Therapie immer genauso effektiv und effizient sein muss.
- Die Anleitung zur Selbststeuerung, d. h. zur Selbstregulation, die später noch genauer erläutert wird.
Die Grundlage der Selbstmanagement-Theorien ist ein bestimmtes Menschenbild, demgemäß alle Menschen danach streben, über alle Ereignisse, die ihr Leben unmittelbar betreffen, Kontrolle auszuüben. Mangelnde Einflussmöglichkeiten auf diese Ereignisse führen dahingegen zu Resignation oder sogar Verzweiflung (Bandura, 1997). Tritt eine Erkrankung auf, ist die Kontrollierbarkeit des Lebens gefährdet. Die Therapie, die dem Patienten von Ärzten angeboten wird, stellt eine Verhaltensmöglichkeit für den Patienten dar, die es ermöglicht, ein gewisses Maß an Kontrolle zurückzuerlangen. Wenn ein Patient die Therapie in diesem Sinne als wirksame Verhaltensmöglichkeit begreift, wird die „Compliance“ verbessert, da eine positive Wirksamkeitseinschätzung des Verhaltens gegeben ist und dadurch die Häufigkeit des Verhaltens steigt – in diesem Fall die Durchführung der erforderlichen Therapiemaßnahmen. Positive Wirksamkeitseinschätzung bedeutet jedoch nicht, dass der Patient lediglich von der Wirksamkeit der Therapie überzeugt ist, sondern die Wirksamkeitseinschätzung ist zu verstehen als Selbstwirksamkeitserwartung des Patienten.
1.3 Selbstwirksamkeitserwartung
Will man ein bestimmtes Verhalten fördern, wie z. B. die Therapieeinhaltung und -aufrechterhaltung, sollte zunächst die Selbstwirksamkeitserwartung genauer betrachtet werden, da diese ein Schlüsselfaktor für menschliches Handeln ist und als wichtigster Mediator für die Veränderung von Verhalten gilt. Die Selbstwirksamkeitserwartung ist die Erwartung, aufgrund eigener Kompetenzen gewünschte Handlungen durchführen zu können, die zu einem angestrebten Ziel führen (Schwarzer, 1992). Aus dieser Definition geht hervor, dass bei Selbstwirksamkeitserwartung ein angestrebtes Ziel existieren muss, was besonders bei chronischen Erkrankungen, insbesondere bei progredient verlaufenden, keine einfache Aufgabe darstellt. Weiterhin müssen die eigenen Kompetenzen bekannt sein, was wiederum die Fähigkeit zur Selbstreflexion voraussetzt. Auch die nötigen Handlungen müssen geläufig sein, wie die genaue Vorgehensweise bei der Therapie, und es muss die Erwartung bestehen, dass diese Handlungen korrekt ausgeführt werden können. Wenn z. B. ein Diabetespatient eine Spritzenphobie hat, wird die Erwartung, in der Lage zu sein, sich täglich mehrmals Insulin zu injizieren, eher gering sein.
Im Folgenden sollen die Prozesse, aus denen sich die Selbstwirksamkeitserwartung zusammensetzt, detaillierter beschrieben werden.
Kognitive Prozesse
Kognitive Prozesse umfassen die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung eines Individuums. Die Kognition befähigt ein Individuum, sich selbst einzuschätzen und zu reflektieren, sich Strategien und Handlungsalternativen zu überlegen sowie sich selbst zu regulieren (Bandura, 1986). Die Selbstregulation stellt eine besondere Form der Kognition dar, nämlich die kontrollierte Kognition. Die kontrollierte Kognition ist das Gegenteil zur automatisierten Kognition, wie sie beim Autofahren oder Essen erfolgt. Die Selbstregulation setzt ein, wenn ein gewohnter Verhaltensfluss bewusst unterbrochen wird. Der Ablauf ist seriell und wird in Abbildung 1.1 dargestellt.
Abb. 1.1: Ablaufschema der Selbstregulation (in Anlehnung an Kanfer, 1987)
Zuerst tritt der externe Stimulus auf, d. h. die Situation, die den gewohnten Verhaltensablauf unterbricht. Dieser wird von dem Individuum aufgenommen, wobei diese Reizaufnahme von individuellen biologischen und psychologischen Komponenten abhängt. Die Sehstärke, die physiologische Sensibilität und die Intelligenz beeinflussen, wie viel und auf welche Art und Weise der Reiz aufgenommen wird. Die internal psychologischen Komponenten sind ausschlaggebend für die Verarbeitung und Interpretation der wahrgenommen Reize. Was gesehen und begriffen wird, ist zum größten Teil von Erfahrungen abhängig. Der antizipatorische Zyklus beginnt, indem sich das Individuum Handlungsweisen und mögliche Konsequenzen vorstellt. Nach der Verarbeitung und Interpretation folgt die Reaktion. Die Reaktion ist wiederum von Erfahrungen abhängig, d. h. von bereits erlebten ähnlichen Situationen und auch vom Vergleich der eigenen Reaktion mit bestimmten Standards oder mit anderen Personen, die in der gleichen Situation auf eine bestimmte Art und Weise reagieren. Das ist Teil des korrektiven Zyklus der Selbstregulation. Ein weiterer Teil dieser Korrektur des eigenen Verhaltens ist die Selbstreflexion, d. h. die Bewertung der Konsequenzen, welche die internal psychologischen Vorgänge beeinflusst und damit auch das Verhalten bei der nächsten ähnlichen Situation. Für eine gute Selbstregulation ist damit Selbstreflexion ausschlaggebend. Diese Rückkoppelung durch die Selbstreflexion ermöglicht, dass Selbstregulation erlernt werden kann.
Motivationale Prozesse
Auch Motivation entsteht durch einen kognitiven Prozess, der drei kognitive Motivatoren beinhaltet (Heckhausen, 1980, 1985, 2006). Einer dieser Motivatoren ist die Attribution. Mit Attribution wird das Bemühen beschrieben, Erklärungen für Effekte in der Umwelt zu finden und ihnen Ursachen zuzuschreiben. Diese Ursachenzuschreibung hat bestimmte Eigenschaften, die ausschlaggebend dafür sind, ob sich der Patient aktiv um seine Therapie bemüht oder sich passiv dem Schicksal ergibt.
Die erste dieser Eigenschaften ist die Lokation. Die Ursache kann entweder internal bedingt sein und somit in der eigenen Person liegen oder external, d. h. durch die Umwelt hervorgerufen sein. Des Weiteren ist die Ursache stabil oder variabel, also nicht veränderbar oder änderbar bzw. kontrollierbar versus unkontrollierbar. Darüber hinaus kann die Ursache global oder spezifisch wirken, d. h. immer oder nur in bestimmten Situationen. Ein Beispiel für eine externale, stabile und globale Ursache ist, wenn der Grund für eine Erkrankung auf den Willen Gottes zurückgeführt wird. In diesem Fall wird sich der Patient eher dem Schicksal ergeben und sich passiv bei der Therapiegestaltung und -durchführung zeigen. Eine internale, variable und spezifische Attribution ist dagegen z. B. bei einem Patienten gegeben, der den Grund für seinen Gesundheitszustand sich und seiner bisherigen Lebensweise zuschreibt, die er ändern kann. Hier kann der Patient die Erkrankung als Herausforderung betrachten und sich aktiv um seine Therapie bemühen. Der zweite Motivator ist die Ergebniserwartung, d. h. die...