1 Wahrnehmung
Wahrnehmen heißt, Informationen aus der Umwelt über die Sinnesorgane aufzunehmen und zu verarbeiten. Darüber orientieren wir uns und können so Gefahren vermeiden und dafür sorgen, dass unsere Bedürfnisse befriedigt beziehungsweise nicht verletzt werden. Dabei sind bewusste, so genannte explizite Wahrnehmungen zu unterscheiden, die geistig verarbeitet werden, und implizite Wahrnehmungen, die nicht bis ins Bewusstsein vordringen, aber dennoch das Verhalten steuern und im Gedächtnis gespeichert werden. Die leise und eingängige Musik im Supermarkt zum Beispiel soll unser Einkaufsverhalten positiv beeinflussen und wird von uns meistens nicht direkt wahrgenommen – sie steuert aber unser Verhalten. Im Gegensatz dazu richtet sich unsere Wahrnehmung auf die Musik aus, wenn wir zu Hause bewusst eine CD anhören.
Charakteristika menschlicher Wahrnehmung
Wahrnehmung unterliegt bestimmten Gesetzmäßigkeiten, die im Alltag wichtig sind. Sie ist nicht passive Aufnahme von Reizen oder Informationen, sondern immer aktive Verarbeitung dieser. Ein Beispiel dafür: Sie grüßen einen Nachbarn, der antwortet nicht. Daraufhin sind Sie verstimmt, weil Sie erwarten, dass die Höflichkeitsregel, einen Gruß zu erwidern, eingehalten wird. Später erfahren Sie, dass Ihr Nachbar kurzsichtig und schwerhörig ist. Nun haben Sie eine andere Erklärung und sehen sein Verhalten in einem anderen Licht. Es stellt sich also die Frage, was und wie wir eigentlich wahrnehmen. Psychologische Forschungen auf diesem Gebiet haben ergeben, dass sich Wahrnehmung nicht nur an Realitäten, sondern auch an unseren psychischen Strukturen und Grundbedürfnissen orientiert.
Die Grundbedürfnisse sind in den Strukturen des Gehirns verankert: Wir streben danach, Lust zu erfahren sowie Unlust oder auch Schmerz zu vermeiden, nach Selbstwertbestätigung oder Geborgenheit und persönlichen Bindungen. Und auch die Wünsche nach Orientierung und Kontrolle gelten als Grundbedürfnisse. Aus diesen Bedürfnissen ergeben sich in jeder Lebenssituation bestimmte Ziele, die wir verfolgen. Kurz gesagt: Wir streben bestimmte Zustände an und versuchen, andere zu vermeiden (Motivation; siehe unten). Daran richtet sich auch unsere Wahrnehmung aus.
Wahrnehmungsfilter (Selektion von Informationen)
Die Informationsflut, der wir ausgesetzt sind, ist so groß, dass wir mit den begrenzten Möglichkeiten unseres Gehirns niemals alle Umweltreize zugleich verarbeiten können. In der Regel sind Situationen zu komplex, um auf alles achten zu können. Wir sind also gezwungen, auszuwählen: Man kann nicht gleichzeitig nach vorne und nach hinten schauen, nicht auf alle Situationsaspekte gleichermaßen achten, sondern muss die richtige Auswahl der Aspekte treffen, auf die geachtet werden soll. Hinzu kommt, dass diejenigen Informationen, auf die es ankommt, oft nicht so leicht zugänglich sind und erst zusammengesucht werden müssen. Dies können wir aber nur, wenn wir wissen, was gerade wichtig ist, der Wahrnehmungsfilter muss richtig eingestellt sein. Menschen nehmen in der Regel nur wahr, was sie kennen und was ihre Aufmerksamkeit erregt. Wenn wir zum Beispiel durch eine fremde Stadt gehen, bemerken wir die Hauptsehenswürdigkeiten oft gar nicht, wenn uns niemand darauf hinweist. Oft wählt unser Gehirn für uns aus und orientiert sich dabei an bereits vertrauten Reizen. Meist bemerken wir diesen Auswahlvorgang gar nicht, wir lassen uns ablenken. Wir achten dann nicht auf die unbekannten Sehenswürdigkeiten, sondern auf den Bratwurstduft, der uns in die Nase steigt. Unsere Wahrnehmung ist also immer gefiltert (selektiv; Goldstein, 2002).
Perspektiven der Wahrnehmung
Wahrnehmung geht immer von einer bestimmten Perspektive aus: Sie stehen entweder vor oder hinter einer anderen Person, ganz in der Nähe oder weiter weg. Aus der Nähe nehmen Sie andere Aspekte wahr als aus der Ferne, wo Sie zum Beispiel nur eine Gestalt oder Bewegungen erkennen können. Aus der Nähe nehmen Sie im Gegensatz dazu zum Beispiel Gerüche oder Details der Kleidung oder der Haut auf.
Stets kommt es auf die Situation an, in der wir jemandem begegnen. Wer gestresst ist, kann nur noch begrenzt Informationen aufnehmen und verarbeiten. Doch wer Kontakt sucht, zum Beispiel im Urlaub oder in einer Disco, hält aktiv Ausschau nach Menschen, die ihn interessieren könnten. Dabei werden bestimmte Merkmale beachtet, die uns wichtig sind (Alter, Geschlecht, Attraktivität etc.). Zugleich hängt von der Situation ab, was wir wahrnehmen (Goldstein, 2002): Ein Fußballfeld stellt sich außerhalb der Spielzeit völlig anders dar als zum Beispiel während der WM. Oder: Dieselbe Person gibt und verhält sich anders, wenn sie Ihre Nähe sucht oder Sie meiden möchte. Wenn wir müde oder krank sind, bekommen wir weniger mit, weil wir stärker mit uns selbst beschäftigt sind. Wer mit Spannung auf etwas sehr Ersehntes wartet, dem kann die Zeit lang werden. Eine glückliche Zeit geht hingegen meist viel zu schnell vorüber. Wir nehmen das Vergehen der Zeit unterschiedlich wahr. Andere Personen nehmen wir als vertrauenswürdig wahr, wenn sie bestimmte Merkmale wie seriöse Kleidung und gutes Auftreten zeigen. Dabei fallen wir leicht auf Täuschung und Betrug herein (Argyle, 1979). Doch nicht nur von anderen Menschen lassen wir uns täuschen, sondern auch durch Mechanismen innerhalb unserer eigenen Psyche.
Abwehrmechanismen
Unbequeme Informationen, die nicht mit dem eigenen Selbstbild vereinbar sind oder das Selbstwertgefühl bedrohen, versucht das Gehirn „auszusortieren“. So bleibt es uns erspart zu bemerken, dass wir vielleicht gar nicht so perfekt sind, wie wir uns gerne darstellen, oder dass das Leben nicht so ungefährlich ist, wie wir es gerne hätten. Die Risiken des Sonnenbadens zum Beispiel werden einfach ausgeblendet, wenn wir an den Strand gehen, und kaum einer denkt an Unfallgefahren, wenn er eine Reise antritt. Wir verdrängen oder „vergessen“ bisweilen solche Bedrohungen, um unsere Stimmung zu schützen. Manche Risiken oder Verstöße verharmlosen oder verleugnen wir sogar, weil wir sonst anders handeln müssten. Verstöße gegen Verkehrsregeln oder Steuergesetze werden gerne als „Kavaliersdelikte“ oder gar als sportliche Herausforderung umdefiniert, um auf diese Weise ihre Strafwürdigkeit zu vertuschen. Geraten wir mit jemandem in Streit, ist selbstverständlich der andere schuld, wir schieben ihm auch die Verantwortung und Motive zu, die wir eigentlich selbst haben. In der Psychologie heißt dies „Projektion“ (Thomä/Kächele, 2006).
Besonders kompliziert wird es, wenn die an einer Situation Beteiligten ihre „Altlasten“ einbringen. Werden alte Kränkungen oder Ängste aus früheren Lebensabschnitten in einer aktuellen Situation aktiviert, vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart leicht auf verwirrende Weise. Empirische Forschungen haben zum Beispiel ergeben, dass Untergebene gegenüber Vorgesetzten oft ihre Autoritätsprobleme aus der Schulzeit abarbeiten und ihre Arbeitskraft blockieren, indem sie sich „bockig“ stellen. Solche Übertragungen können die Zusammenarbeit erheblich erschweren. In Familie und Partnerschaft reißen aktuelle Begebenheiten leicht alte Wunden auf, was Auseinandersetzungen schnell eine völlig andere Richtung gibt. Daher ist es sehr interessant, eigene und fremde Übertragungen möglichst schnell und präzise zu erkennen. Nur so können Situationen wieder auf ihren aktuellen Gehalt reduziert und Eskalationen verhindert werden (Thomä/Kächele, 2006). Wie dies zu machen ist, wird uns noch ausführlich beschäftigen (siehe Kapitel A10).
Ist Wahrnehmung gleich Wahrheit?
Wie wir sehen, nimmt Wahrnehmung also weniger die Wahrheit auf, sondern konstruiert ein Bild, das wir für wahr nehmen. In der Psychologie unterscheiden wir daher zwischen objektiv feststellbaren Realitäten in unserer Umwelt und deren subjektiver Verarbeitung, die wir als individuelle Lebenswelt bezeichnen (Kaiser, 1982). Wie nützlich und zuträglich unser Bild ist, das wir uns von einer Realität machen, muss immer wieder überprüft und gegebenenfalls ausgehandelt werden. Im Zusammenleben mit anderen Menschen oder innerhalb von sozialen Systemen (zum Beispiel in der Familie oder im Betrieb) ist ein Abgleich der verschiedenen Wahrnehmungen und Sichtweisen wichtig, weil dieselbe Situation von jedem Beteiligten unterschiedlich gesehen und gewichtet wird. Da sich viele Menschen ganz selbstverständlich mit ihrer...