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E-Book

Psychosomatische Anthropologie

Ein Lehr- und Arbeitsbuch für Unterricht und Studium

AutorEckhard Frick
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl286 Seiten
ISBN9783170288737
FormatePUB/PDF
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Medizin und Psychotherapie entwerfen mit verfeinerten diagnostischen Methoden ein immer klareres Bild vom Menschen, z. B. durch die Entschlüsselung des Genoms und durch die Untersuchung des Hirnstoffwechsels. Von welchem Menschenbild gehen die Wissenschaften aus, wenn sie den Menschen zum Gegenstand ihrer Forschung machen? Welcher Zusammenhang besteht zwischen unserem zunehmenden Wissen über den Menschen und dem Unbewussten als dem Kern des Psychischen? Wo liegt der Unterschied zwischen dem Leib, der ich bin, und dem Körper, den ich habe, der vom Arzt untersucht und behandelt wird? Die 2. Auflage greift Fragen und Erfahrungen von Fachleuten und Studierenden auf und erschließt in zehn Kapiteln die zentralen Themen des Menschseins (z. B. Bindung, Angst, Leiden, Trauer) für Gesundheit, Krankheit und Therapie. Besonderer Wert wird dabei auf den Dialog zwischen Psychosomatik und der philosophischen Auseinandersetzung mit dem Wesen des Menschen gelegt. Die Suche nach der Seele des Menschen wird ebenso thematisiert wie das Embodiment als aktueller Leitbegriff der Psychosomatik.

Prof. Dr. Eckhard Frick sj lehrt an der Hochschule für Philosophie der Jesuiten und an der Technischen Universität München. Er ist Facharzt für psychosomatische Medizin, Psychiater und Lehranalytiker des C.G. Jung-Instituts München.

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Leseprobe

Statt eines Vorworts: Ein Gespräch zwischen Eckhard Frick und Harald Gündel


 

 

 

EF:

Warum ist für Dich als psychosomatischer Kliniker und Forscher die Anthropologie interessant, die Lehre vom Menschen, wie sie von der Philosophie betrieben wird, aber auch von vielen anderen Einzelwissenschaften wie z. B. der Völkerkunde, Soziologie, Theologie?

HG:

Bei der Anthropologie geht es um unsere Wurzeln. Darauf kann die heutige Psychosomatik stehen und neue Ideen entwickeln, neue interdisziplinäre Projekte aufgreifen, um zu innovativen Lösungen zu kommen, z. B. um die gesundheitlichen Risiken der Arbeitslosigkeit zu erfassen und zu bekämpfen, oder um Konflikt- und Stressbewältigung in der Industrie zu verbessern. Wir brauchen dafür immer mehr Synergien zwischen der Psychosomatischen Medizin und der Psychotherapie einerseits und den Naturwissenschaften, der Ökonomie, der Politik und den Geisteswissenschaften andererseits.

EF:

Um Synergien zu entdecken, benötigen wir ein gemeinsames Fundament. Das scheint uns aber gerade bezüglich des Menschen als »Forschungsgegenstand« zu entgleiten. »Es weiß seit langer zeit/niemand mehr was ein mensch ist.« So hat Bertold Brecht das Paradox ausgedrückt, dass wir immer mehr über den Menschen wissen und immer weniger, was er/sie ist. Am Ende seiner »Archäologie der Humanwissenschaften« spricht M. Foucault davon, dass der Mensch verschwinden könnte »wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand« (Foucault 1966/1971: 462). Wir können den menschlichen Körper zwar immer genauer vermessen und auch wissenschaftlich-technisch manipulieren. Aber Kants Fragen: 1) Was kann ich wissen? 2) Was soll ich tun? 3) Was darf ich hoffen? beziehen sich auf die letzte: 4) Was ist der Mensch? (Logik IX: 25). Die Frage nach dem Wesen des Menschen bleibt in der Medizin unbeantwortet. Kants Frage »Was ist der Mensch?« wird von der Philosophischen Anthropologie nicht durch humanwissenschaftliche Fakten »beantwortet«, sondern vielmehr im Dialog mit den Humanwissenschaften offengehalten. Die Übereinstimmungen mit anderen Lebewesen scheinen das Menschengesicht auf den ersten Blick zu überspülen und zu verwischen, seine eigentümliche Geistigkeit und exzentrische Positionalität (Plessner) unterscheiden ihn jedoch radikal von Pflanzen und Tieren. Zugleich scheint es manchmal, als ob die evidenzbasierte Medizin eine implizite Anthropologie habe; als ob sie im Menschen eher eine Maschine, genauer gesagt: eine Maschine mit Bedürfnissen sehe. Wie können unsere impliziten Annahmen über den Menschen bewusst gemacht und reflektiert werden?

HG:

Irgendwie haben wir den Boden vergessen, auf dem wir stehen, die Fundamente unserer Geistesgeschichte. Die Generationen vor uns haben sich ja auch Gedanken über das Menschsein und Kranksein gemacht. Das sind Schätze, die es zu heben und zu bewahren gilt, die wir mit dem verknüpfen müssen, was heute aktuell ist, mit der Neurobiologie, mit den gemischten Methoden von qualitativ-verstehenden und quantitativ-messenden Zugängen.

EF:

Wie konnte es denn passieren, dass wir die Frage nach dem Menschen vergessen, wo wir es als Ärzte und Psychoanalytiker doch mit dem Menschen zu tun haben und schon dadurch Humanwissenschaftler sind?

HG:

Mir fällt da eine Visiten-Situation ein, eine Patientin, die nur ihre jetzigen Probleme lösen, aber nichts von ihrer Lebensgeschichte erzählen wollte. Sie war von ihrer Biographie abgeschnitten und wir haben ihr geholfen, wieder einen Zugang zur eigenen Geschichte zu finden, auch um die aktuellen Probleme besser und nachhaltiger zu lösen. Es gibt vielleicht so etwas wie eine große kollektive Biographie der Menschheit. Eine Erinnerung daran, was die Kulturen, Religionen, Denker, Künstler und Ärzte über unser Fühlen, Leiden, In-Beziehung-Sein wissen und wussten. Wie ein Einzelner von seiner Biographie abgeschnitten sein kann und dies anfangs überhaupt nicht mit seinem Leiden in Verbindung bringt, so sind wir vielleicht auch kollektiv in der Gefahr, von unserer gemeinsamen »Biographie« abgeschnitten zu werden. …

EF:

… und können vielleicht auch unser Leiden erst ungenau beschreiben. Aber es zeigt sich in den Symptomen der körperlosen Seelenheilkunde und der seelenlosen Körpermedizin. Ich finde diese Parallele zwischen dem Abgeschnittensein des Einzelnen von seiner Biographie und dem Abgeschnittensein von der Menschheits-»Biographie« sehr spannend. Wahrscheinlich können wir unseren Patientinnen und Patienten besser helfen, wenn wir als psychosomatische Fachleute das Vergessen der Seele bearbeiten. Hast Du den Eindruck, dass die Anthropologie dafür hilfreich sein kann?

HG:

Anthropologie fragt ja nach dem, was früher unbefangen als »Seele« des Menschen bezeichnet wurde, nach seinem Denken, Fühlen, Wünschen, nach seiner Ganzheit. Heute erforschen wir quantitativ und qualitativ das Verhalten und Erleben des Menschen. Aber im Gebrauch des Wortes »Psyche« werden wir immer unsicherer.

EF:

Eigentlich merkwürdig, dass ein Begriff, der im Namen unseres Fachgebietes steckt, von diesem Fachgebiet kaum mehr verwendet wird!

HG:

Ja, teilweise scheint die »Seele« in den Bereich der Spiritualität verschoben zu werden und in unserer medizinisch-naturwissenschaftlichen Sprache nicht mehr vorzukommen. Gerade die Neurobiologie will die dualistischen Tendenzen vermeiden, die mit dem Wort »Psyche« verbunden sind.

EF:

Sicher gibt es solche Tendenzen, besonders in der neuplatonischen Philosophie und ihren Auswirkungen auf das Christentum. Bei den vorsokratischen Dichtern und Denkern wird psychē jedoch überhaupt nicht dualistisch verstanden. Es meint Aspekte des ganzen Menschen: Atem, Lebendigkeit, Fühlen und Spüren. Wegen dieser Bedeutungen wurde das hebräische Wort næfæš (anatomische Grundbedeutung: Hals, Kehlkopf) meist mit dem griechischen psychē übersetzt. Auch Aristoteles und Thomas von Aquin denken nicht dualistisch, wenn sie die Seele als »Form des Leibes« definieren, gewissermaßen als unsichtbaren und identitätsstiftenden Bauplan. Dies passt erstaunlich gut zu einer neurobiologischen Sicht unseres Selbst:

 

»Erstaunlich ist die Erkenntnis, dass die scheinbar felsenfeste Stabilität, die dem einen Geist und dem einen Selbst zu Grunde liegt, ihrerseits von flüchtiger Natur ist und auf der Ebene der Zellen und Moleküle einem ständigen Rekonstruktionsprozess unterworfen ist. Diese merkwürdige Situation – ein scheinbares, kein wirkliches Paradox – hat eine einfache Erklärung: Zwar werden die Bausteine, aus denen sich unser Organismus zusammensetzt, regelmäßig ausgetauscht, doch die architektonischen Pläne für die verschiedenen Strukturen des Organismus werden sorgfältig aufbewahrt. Es gibt einen Bauplan für das Leben, und unser Körper ist ein Bauwerk« (Damasio 1999/2002:175f).

HG:

Solche »Baupläne« können wir jedoch nicht direkt beobachten, ebensowenig wie den Selbst-Sinn, den laut Damasio unser Gehirn konstruiert. Aber wir wissen inzwischen mehr über einige grobe neuroanatomische Korrelate psychischer Funktionen, z. B. in der Bindungs- und Traumaforschung.

EF:

Ja, das sind Korrelate. Direkt beobachten können wir das emotionale Geschehen der Bindung jedoch nicht. Wir sind, wie Viktor von Weizsäcker sagt, entweder auf der »Psycho«- oder auf der »Soma«-Seite der Drehtür. Walach spricht vom Komplementaritätsprinzip und beruft sich auf die Quantenmechanik. Das Gemeinte macht er am Phänomen des Vexierbildes deutlich.

 

Abb.: Ludwig Wittgensteins »H-E-Kopf«: »Man kann ihn als Hasenkopf, oder als Entenkopf sehen. Und ich muss zwischen dem ›stetigen Sehen‹ eines Aspekts und dem ›Aufleuchten‹ eines Aspekts unterscheiden« (Wittgenstein LWS: XI: 504).

Wenn wir als Beispiel Wittgensteins H-E-Kopf wählen: Entscheidend ist dabei, dass wir in der Regel nur ein Tier sehen (Hase oder Ente), nach einem Aspektwechsel möglicherweise das andere. Beide Aspekte sind erforderlich, um das Bild und den Gegenstand »H-E« korrekt zu beschreiben. So ist es auch mit der Psychosomatischen...

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