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Kinder zeichnen, malen und gestalten

Kunst und bildnerisch-ästhetische Praxis in der KiTa

AutorGeorg Peez
VerlagKohlhammer Verlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl187 Seiten
ISBN9783170287327
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis30,99 EUR
Die bildnerisch-ästhetische Praxis in der KiTa zielt einerseits auf den taktilen, visuellen und sensomotorischen Zugang zur Welt, auf sinnliche Erfahrungen als Ausgangspunkt von Bildung und Entwicklung der Kinder. Andererseits geht es um kreative Prozesse der Weltaneignung und Weltentdeckung, um den spielerischen Umgang der Kinder mit Materialien, auch mit Kunst. Ausdruck, Mitteilung und Darstellung sind wichtige zu fördernde Kompetenzen. Das Buch liefert neben dem theoretischen, mit vielen Abbildungen versehenen Grundlagenwissen inspirierende Praxisanregungen, Übungen und Tipps zur Förderung der ästhetischen Bildung und Erziehung in der KiTa.

Dr. Georg Peez ist Professor für Kunstpädagogik an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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Leseprobe

3          Bildnerische Entwicklung und Phasen der Kinderzeichnung


3.1        Modelle und Phaseneinteilungen zur Systematisierung von Entwicklung


Kinder erkunden und gestalten ihre Umwelt mit allen Sinnen ( Kap. 2.2 u. 2.3). Für eine angemessene Entwicklung jedes einzelnen Kindes ist diese ästhetische Zuwendung zur Welt notwendig. Diese wahrnehmende, empfindende und handelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt und deren Materialien geschieht bildnerisch, beispielsweise durch Schmieren, Sudeln, Kritzeln, Zeichnen oder Malen sowie durch weitere bildnerische Verfahren wie Konstruieren, Bauen oder Formen mit Lehm und Erde ( Kap. 2.8).

Säuglinge gestalten zwar noch nicht im engeren Sinne, d. h. sie bringen nichts bewusst hervor, aber sie erfahren mit ihren Sinnen ihr näheres Umfeld und verändern dies bisweilen hierbei. Solche Erfahrungsprozesse sind die Grundlage für die weitere bildnerische Entwicklung, das bewusstere Gestalten und das Erlernen etwa des Einsatzes der Finger und der Hand sowie des Umgangs mit Werkzeugen. Damit jedes Kind seine Entwicklungsvermögen optimal ausbilden kann, ist es auf die Begleitung durch Erwachsene sowie auf vielerlei Anregungen angewiesen. Wer solche Anregungen etwa in pädagogischer Absicht gibt, sollte über diese Zusammenhänge in den unterschiedlichen Altersphasen sowie über die bildnerische Entwicklung Bescheid wissen. Eine adäquate Unterstützung und Förderung ( Kap. 11.3) kann nur auf der Grundlage dieses »Entwicklungs-Wissens« systematisch und nachhaltig wirksam erfolgen.

Es gibt unterschiedliche Modelle zur Phaseneinteilung der bildnerischen Entwicklung von Kindern, bedingt durch differierende wissenschaftliche Ansichten sowie Sichtweisen auf das Kind und als Folge hiervon bezogen auf die Einteilung und Benennung der einzelnen Entwicklungsphasen. Wichtig ist: Ein wissenschaftliches Modell – also auch die hier vorgestellten Entwicklungsmodelle – gibt nicht »Wahrheit« an sich wieder, sondern im Rahmen solcher Modelle versucht man Beobachtungen etwa zum Verhalten von Kindern zu systematisieren und zu erklären. Aufgrund dieser Erklärungsversuche entstehen Entwicklungsmodelle: von rudimentären sinnlichen Erkundungen des Säuglings hin zu komplexen und bewussten Gestaltungen eines zehnjährigen Kindes.

In Kap. 3 und 4 werden unterschiedliche Modelle für die bildnerische Entwicklung vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt auf einer psychologischen Sicht der kognitiven Entwicklung (s. im Überblick Sodian, 2012), denn der größte Teil der Forscherinnen und Forscher zur Kinderzeichnung bezieht sich auf die Erkenntnisse und das in den 1950er und 1960er Jahren entworfene Entwicklungsmodell des Schweizer Entwicklungs- und Kinderpsychologen Jean Piaget (1972; Piaget & Inhelder, 1972); etwa Wolfgang Reiß (1996, S. 34ff.), Hans-Günther Richter (1997), Christa Seidel (2007), Rudolf Seitz (2009), Martin Schuster (2010) oder Barbara Wichelhaus (2010). Dieses Modell zur kognitiven Entwicklung bildet ebenfalls in den anderen Veröffentlichungen dieser Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« wichtige Grundlagen und Bezugspunkte, auch wenn es Revisionen erfährt (z. B. Hauser, 2013, S. 18ff.; Lorenz, 2012, S. 28ff.). Wie der Begriff der Kognition deutlich macht, wird hierbei in der wissenschaftlichen Erklärung der bildnerischen Entwicklung von Kindern die Kognition – also die geistige Verarbeitung, das Denken – ins Zentrum gestellt – bei Piaget eng verbunden u. a. mit Aspekten der körperlichen Reifung sowie der Ausbildung sozialer und intellektueller Fähigkeiten. Die Kinderpsychologin Christa Seidel informiert umfassend und detailliert über diesen Kognitionsansatz mit Blick auf die Entwicklung der Kinderzeichnung (Seidel, 2007, S. 30ff.).

Piagets Motor der kognitiven Entwicklung: Assimilation und Akkomodation

Im Blickpunkt stehen zwar die Kognition und der Intellekt des Menschen, dies wird aber mit Aspekten der Körperentwicklung und der Entwicklung sozialer Fähigkeiten (z. B. Rollenübernahmen) verbunden. »Dabei geht er [Jean Piaget; G. P.] von einem Entwicklungskontinuum fundamentaler Interaktion und Austauschprozesse zwischen Organismus und Umwelt auf phylo- wie ontogenetisch frühester Stufe und höchsten kognitiven Leistungen« aus (Seidel, 2007, S. 31). Stichworte sind hier die Assimilation und Akkomodation. Assimilation meint, dass Elemente aus der Umwelt an vorgegebene Strukturen des Organismus angeglichen werden. Akkomodation benennt den umgekehrten Vorgang, nämlich die modifizierte Anpassung des Organismus und seiner Strukturen an vorgegebene Eigenschaften der Umwelt (ebd.). Der Mensch gestaltet seine Umwelt und reagiert nicht nur auf sie. Kognitive Elemente der Umwelt werden im Sinne von Wahrnehmen, Wissen, Verstehen und Interpretieren aktiv an bestehende Erkenntnisstrukturen des jeweiligen Menschen assimiliert. Umgekehrt werden dieselben Erkenntnisstrukturen beim Vorgang der Akkomodation den zu erkennenden strukturellen Merkmalen des Objekts angepasst.

Seidel stellt in einem Schaubild verschiedene hierauf bezogene »Stufenmodelle zur Entwicklung der Kinderzeichnung« nebeneinander (2007, S. 82), an dem sich die Einteilungen des Kapitels 6.3 orientieren ( Tab. 3.1). Im vorliegenden Buch wird allerdings nicht die Metapher der »Stufe« bevorzugt, sondern der Begriff »Phase«, um sprachlich deutlich zu machen, dass die Übergänge oft sehr fließend sind.

Aus diesem Modell der kognitiven Entwicklung werden häufig Altersnormen abgeleitet, mit denen die Leistungen eines Kindes in einem bestimmten Alter verbunden werden: Was sollte ein Kind in einem bestimmten Alter können? Unter anderem orientieren sich Schuleingangstests hieran (Barth, 2012; Ziler, 2000). Gegen solche strikten Altersnormen wenden sich jedoch alternative Modelle u. a. auch aus der Kinderzeichnungsforschung ( Kap. 4).

Weitere Entwicklungsmodelle der Kindheit fokussieren stärker andere Aspekte, wie soziale Komponenten, also das Verhältnis des Individuums zu anderen Gesellschaftsmitgliedern (z. B. kommunikative Kompetenz, Einnahme von Rollen, Selbstständigkeit) (Erikson, 1966). Manche Autorinnen und Autoren zum

Tab. 3.1: Vergleich des Modells der kognitiven Entwicklung nach Piaget (1972; Piaget & Inhelder, 1972) mit dem Modell zur Entwicklung der Kinderzeichnung nach Richter (1997; modifiziert nach Seidel, 2007, S. 82)

bildnerischen Verhalten von Kindern orientieren sich auch hieran (z. B. Jordan & Rettkowski-Felten, 2011; Schoppe, 1991). Im Phasenmodell der Psychoanalyse nach Sigmund Freud steht hingegen die psychosexuelle prägenitale Entwicklung im Blickpunkt, die Nutzung erogener Körperzonen verbunden mit Lust, Ängsten, Konflikten, Ambivalenzen oder Abwehrformen (Freud, 1964) sowie die zunehmende Selbstständigkeit im Hinblick auf die Kontrolle über die körperlichen Funktionen und die Auseinandersetzung mit den geschlechtlichen Rollenzuweisungen (Seidel, 2007, S. 144; Kap. 13). Auch dieses Phasen-Modell kann für das Verständnis des bildnerischen Verhaltens insbesondere von Kindern unter sechs Jahren, aber ebenso für die inhaltliche Interpretation späterer Kinderzeichnungen leitend sein, weil hier u. a. unbewussten, triebhaften Vorgängen eine zentrale Bedeutung zukommt (z. B. Richter, 1997, S. 286ff.; Widlöcher, 1984; Kap. 4.1 u. 4.2). Manche Veröffentlichungen zur Kinderzeichnung, die auf der Psychoanalyse fußen, sind jedoch als pseudo-wissenschaftlich und hoch spekulativ bis schädlich zu bezeichnen; schon reißerische, unwissenschaftliche Buchtitel mahnen zur Vorsicht, etwa: »Die geheime Sprache der Kinder. Kinderzeichnungen richtig deuten« (Crotti & Magni, 1999). Weder nutzen Kinder eine »geheime Sprache«, noch gibt es, wie oben erläutert, eine einzig »richtige« Deutung.

Die Darstellungen in diesem Kapitel 3 beziehen sich primär auf die Kinderzeichnung sowie -malerei, und hier insbesondere auf die zentralen Bereiche Menschendarstellung und Räumlichkeit/Raumdarstellung. Die Entwicklung des plastischen bzw. dreidimensionalen Gestaltens ist in ihren Merkmalen, Schritten und Phaseneinteilungen mit der Zeichenentwicklung eng verbunden, jedoch bis auf eine Studie von Stefan Becker (2003) wenig erforscht. Sammeln und Ordnen von Dingen und Materialien (Duncker, 1995, 2006; Duncker, Frohberg & Zierfuss, 1999; Kirchner, 2008, S. 13; Stieve, 2010), Fotografie und Videopraxis von Kindern (Heyl, 2008, S. 108ff.; Michl, 2014) spielen auch in der Forschung angesichts dieser Fokussierung auf die Entwicklung der Kinderzeichnung nur am Rande eine Rolle. Gleiches gilt für Mischtechniken wie Basteln, Konstruieren und Collagieren (Kirchner, 2008, S. 13; Schäfer, 1990) sowie Bildwahrnehmung und Kunstrezeption (Bilstein, 2011; Bilstein & Neysters, 2013; Braune, 2013; Hinkel,...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Deckblatt1
Titelseite4
Impressum5
Vorwort6
Inhalt8
1 Einführung12
2 Eingrenzung und Begriffsklärungen15
2.1 Zusammentreffen von Bewegung und Material15
2.2 Mit den Sinnen wahrnehmen und empfinden: »ästhetisch« erleben16
2.3 Unsere Sinne17
2.4 Rezeption, Produktion und Reflexion18
2.5 Kulturelle Teilhabe und Bildkompetenz19
2.6 Bildnerische Gestaltung im »Konzert der Künste«19
2.7 Kinderbilder im Papierkorb21
2.8 Malen, Zeichnen, Basteln, plastisches Gestalten21
2.9 Bildnerisch-ästhetische Erfahrungsprozesse23
2.10 Ästhetische Erfahrungs- und Bildungsprozesse in der KiTa26
3 Bildnerische Entwicklung und Phasen der Kinderzeichnung30
3.1 Modelle und Phaseneinteilungen zur Systematisierung von Entwicklung30
3.2 Früheste Materialerkundungen33
3.3 Schmieren34
3.4 Kritzelphase38
3.5 Sinnunterlegtes Kritzeln41
3.6 Konzeptkritzel, erste Mensch-Darstellung und Streubild42
3.7 Frühe Schemaphase47
3.8 Mittlere Schemaphase53
3.9 Späte Schemaphase59
4 Weitere Modelle bildnerischer Entwicklung62
4.1 Psychoanalytisch orientierte Ansätze62
4.2 Tiefenpsychologisch orientierte Ansätze65
4.3 Zeichnen und Malen als Ausdruckshandlung – »Formulation« nach Arno Stern68
4.4 Zeichnungen als Mitteilungen – kommunikationstheoretisch orientiertes Verständnis71
4.5 Formal-grafisch orientierte Ansätze72
4.6 Bildnerische Entwicklung im plastischen Gestalten73
4.7 Die Verwendung von »Farbe« – Vom Ausdruck zur Darstellung76
5 Zeichentests80
5.1 Zeichentests als Diagnoseinstrumente80
5.2 Entwicklungsbezogene und projektive Tests81
5.3 Mensch-Zeichen-Tests82
5.4 Der »Mann-Zeichen-Test« (MZT)84
5.5 »Familie in Tieren«85
5.6 »Test zum Schöpferischen Denken – Zeichnerisch« (TSD-Z)88
5.7 Gütekriterien für Zeichentests und darüber hinaus91
6 Methoden zur Analyse von Kinderzeichnungen93
6.1 Beobachten, Dokumentieren und Forschen93
6.2 »Drei Qualitäten einer Zeichnung« (Barbara Wichelhaus und Hans-Günther Richter)93
6.3 »Modifizierter Ansatz zur Charakterisierung der Stufen der Kinderzeichnung« (Christa Seidel)95
6.4 »Handlungsmodell zur Analyse von Kinderzeichnungen« (Hermann Hinkel)98
6.5 »Modell zur qualitativ-empirischen Analyse von Kinder und Jugendzeichnungen« (Annette Wiegelmann-Bals)100
6.6 »Ebenen in Kinderzeichnungen« (Norbert Neuß)102
6.7 Datenschutz104
7 Machen Kinder»Kunst«?105
7.1 Kinderzeichnungen als Anregung für die bildende Kunst105
7.2 »Kunst«-Ansprüche an Kinderbilder aus pädagogischer Sicht106
8 Kreativität109
8.1 »Schlüsselkompetenz« Kreativität109
8.2 Kreativität – Was ist das?110
8.3 Kreativität bei Kindern112
8.4 Kreativitätsförderung in der KiTa115
8.5 Objektive und subjektive Kreativität117
9 Ästhetisch-bildnerische Kompetenzen und Standards in Bildungsplänen118
9.1 Grundsätzliches zu Kompetenzen und Standards118
9.2 Ein kritischer Blick in die fachspezifischen Anteile einiger Bildungspläne119
9.3 Dekorative Funktionalisierung von Kinderbildern121
9.4 Fachspezifische Schwerpunkte in den Bundesländern122
9.5 Fachspezifische Kompetenzen aus Sicht der Kunstpädagogik125
9.6 Über 40 Jahre alte Fähigkeitsbeschreibungen neu betrachtet126
10 Kulturelle Vielfalt128
10.1 Kulturelle Einflüsse und physiologische Voraussetzungen128
10.2 Transkulturelle Studien zur Kinderzeichnung129
10.3 Forschungsmethodische Herausforderungen135
10.4 Bildnerische Gestaltung im Rahmen einer kultursensitiven Frühpädagogik136
11 Heterogenität, Inklusion und Kompensation140
11.1 Inklusion und Kompensation als Herausforderungen in KiTa und Gesellschaft140
11.2 Funktionen ästhetisch-bildnerischer Prozesse im Rahmen inklusiver Ansätze141
11.3 Beobachtung, Diagnose und Förderung des Individuums in der Gruppe145
12 Kunstbegegnung in Museen und Ausstellungen147
12.1 Formen der Kunstbegegnung in der Frühpädagogik147
12.2 Bildungswirkungen durch Kunstbegegnung147
12.3 Unterschied von Original und Reproduktion148
12.4 Pädagogische Haltungen zum Umgang mit Kunst für Kinder149
12.5 Museum als Raum153
12.6 Bild-Präferenzen von Kindern und hierauf bezogene pädagogische Werkauswahl153
12.7 Rezeption kombiniert mit bildnerischer Praxis154
13 Sexualität in Kinderzeichnungen und sexuelle Gewalt an Kindern157
13.1 Kindliche Sexualität157
13.2 Differenz zwischen Geschlecht und Sexualität anhand von Kinderzeichnungen158
13.3 Sexuelle Gewalt und Kinderzeichnung161
14 »Kunst und bildnerische Gestaltung« in drei frühpädagogischen Konzepten164
14.1 Konzepte zur »Befreiung der schöpferischen Natur des Kindes«164
14.2 Montessori-Pädagogik165
14.3 Waldorf-Pädagogik169
14.4 Reggio-Pädagogik172
Literatur178

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