3 Bildnerische Entwicklung und Phasen der Kinderzeichnung
3.1 Modelle und Phaseneinteilungen zur Systematisierung von Entwicklung
Kinder erkunden und gestalten ihre Umwelt mit allen Sinnen ( Kap. 2.2 u. 2.3). Für eine angemessene Entwicklung jedes einzelnen Kindes ist diese ästhetische Zuwendung zur Welt notwendig. Diese wahrnehmende, empfindende und handelnde Auseinandersetzung mit der Umwelt und deren Materialien geschieht bildnerisch, beispielsweise durch Schmieren, Sudeln, Kritzeln, Zeichnen oder Malen sowie durch weitere bildnerische Verfahren wie Konstruieren, Bauen oder Formen mit Lehm und Erde ( Kap. 2.8).
Säuglinge gestalten zwar noch nicht im engeren Sinne, d. h. sie bringen nichts bewusst hervor, aber sie erfahren mit ihren Sinnen ihr näheres Umfeld und verändern dies bisweilen hierbei. Solche Erfahrungsprozesse sind die Grundlage für die weitere bildnerische Entwicklung, das bewusstere Gestalten und das Erlernen etwa des Einsatzes der Finger und der Hand sowie des Umgangs mit Werkzeugen. Damit jedes Kind seine Entwicklungsvermögen optimal ausbilden kann, ist es auf die Begleitung durch Erwachsene sowie auf vielerlei Anregungen angewiesen. Wer solche Anregungen etwa in pädagogischer Absicht gibt, sollte über diese Zusammenhänge in den unterschiedlichen Altersphasen sowie über die bildnerische Entwicklung Bescheid wissen. Eine adäquate Unterstützung und Förderung ( Kap. 11.3) kann nur auf der Grundlage dieses »Entwicklungs-Wissens« systematisch und nachhaltig wirksam erfolgen.
Es gibt unterschiedliche Modelle zur Phaseneinteilung der bildnerischen Entwicklung von Kindern, bedingt durch differierende wissenschaftliche Ansichten sowie Sichtweisen auf das Kind und als Folge hiervon bezogen auf die Einteilung und Benennung der einzelnen Entwicklungsphasen. Wichtig ist: Ein wissenschaftliches Modell – also auch die hier vorgestellten Entwicklungsmodelle – gibt nicht »Wahrheit« an sich wieder, sondern im Rahmen solcher Modelle versucht man Beobachtungen etwa zum Verhalten von Kindern zu systematisieren und zu erklären. Aufgrund dieser Erklärungsversuche entstehen Entwicklungsmodelle: von rudimentären sinnlichen Erkundungen des Säuglings hin zu komplexen und bewussten Gestaltungen eines zehnjährigen Kindes.
In Kap. 3 und 4 werden unterschiedliche Modelle für die bildnerische Entwicklung vorgestellt. Der Schwerpunkt liegt auf einer psychologischen Sicht der kognitiven Entwicklung (s. im Überblick Sodian, 2012), denn der größte Teil der Forscherinnen und Forscher zur Kinderzeichnung bezieht sich auf die Erkenntnisse und das in den 1950er und 1960er Jahren entworfene Entwicklungsmodell des Schweizer Entwicklungs- und Kinderpsychologen Jean Piaget (1972; Piaget & Inhelder, 1972); etwa Wolfgang Reiß (1996, S. 34ff.), Hans-Günther Richter (1997), Christa Seidel (2007), Rudolf Seitz (2009), Martin Schuster (2010) oder Barbara Wichelhaus (2010). Dieses Modell zur kognitiven Entwicklung bildet ebenfalls in den anderen Veröffentlichungen dieser Lehrbuchreihe »Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit« wichtige Grundlagen und Bezugspunkte, auch wenn es Revisionen erfährt (z. B. Hauser, 2013, S. 18ff.; Lorenz, 2012, S. 28ff.). Wie der Begriff der Kognition deutlich macht, wird hierbei in der wissenschaftlichen Erklärung der bildnerischen Entwicklung von Kindern die Kognition – also die geistige Verarbeitung, das Denken – ins Zentrum gestellt – bei Piaget eng verbunden u. a. mit Aspekten der körperlichen Reifung sowie der Ausbildung sozialer und intellektueller Fähigkeiten. Die Kinderpsychologin Christa Seidel informiert umfassend und detailliert über diesen Kognitionsansatz mit Blick auf die Entwicklung der Kinderzeichnung (Seidel, 2007, S. 30ff.).
Piagets Motor der kognitiven Entwicklung: Assimilation und Akkomodation
Im Blickpunkt stehen zwar die Kognition und der Intellekt des Menschen, dies wird aber mit Aspekten der Körperentwicklung und der Entwicklung sozialer Fähigkeiten (z. B. Rollenübernahmen) verbunden. »Dabei geht er [Jean Piaget; G. P.] von einem Entwicklungskontinuum fundamentaler Interaktion und Austauschprozesse zwischen Organismus und Umwelt auf phylo- wie ontogenetisch frühester Stufe und höchsten kognitiven Leistungen« aus (Seidel, 2007, S. 31). Stichworte sind hier die Assimilation und Akkomodation. Assimilation meint, dass Elemente aus der Umwelt an vorgegebene Strukturen des Organismus angeglichen werden. Akkomodation benennt den umgekehrten Vorgang, nämlich die modifizierte Anpassung des Organismus und seiner Strukturen an vorgegebene Eigenschaften der Umwelt (ebd.). Der Mensch gestaltet seine Umwelt und reagiert nicht nur auf sie. Kognitive Elemente der Umwelt werden im Sinne von Wahrnehmen, Wissen, Verstehen und Interpretieren aktiv an bestehende Erkenntnisstrukturen des jeweiligen Menschen assimiliert. Umgekehrt werden dieselben Erkenntnisstrukturen beim Vorgang der Akkomodation den zu erkennenden strukturellen Merkmalen des Objekts angepasst.
Seidel stellt in einem Schaubild verschiedene hierauf bezogene »Stufenmodelle zur Entwicklung der Kinderzeichnung« nebeneinander (2007, S. 82), an dem sich die Einteilungen des Kapitels 6.3 orientieren ( Tab. 3.1). Im vorliegenden Buch wird allerdings nicht die Metapher der »Stufe« bevorzugt, sondern der Begriff »Phase«, um sprachlich deutlich zu machen, dass die Übergänge oft sehr fließend sind.
Aus diesem Modell der kognitiven Entwicklung werden häufig Altersnormen abgeleitet, mit denen die Leistungen eines Kindes in einem bestimmten Alter verbunden werden: Was sollte ein Kind in einem bestimmten Alter können? Unter anderem orientieren sich Schuleingangstests hieran (Barth, 2012; Ziler, 2000). Gegen solche strikten Altersnormen wenden sich jedoch alternative Modelle u. a. auch aus der Kinderzeichnungsforschung ( Kap. 4).
Weitere Entwicklungsmodelle der Kindheit fokussieren stärker andere Aspekte, wie soziale Komponenten, also das Verhältnis des Individuums zu anderen Gesellschaftsmitgliedern (z. B. kommunikative Kompetenz, Einnahme von Rollen, Selbstständigkeit) (Erikson, 1966). Manche Autorinnen und Autoren zum
Tab. 3.1: Vergleich des Modells der kognitiven Entwicklung nach Piaget (1972; Piaget & Inhelder, 1972) mit dem Modell zur Entwicklung der Kinderzeichnung nach Richter (1997; modifiziert nach Seidel, 2007, S. 82)
bildnerischen Verhalten von Kindern orientieren sich auch hieran (z. B. Jordan & Rettkowski-Felten, 2011; Schoppe, 1991). Im Phasenmodell der Psychoanalyse nach Sigmund Freud steht hingegen die psychosexuelle prägenitale Entwicklung im Blickpunkt, die Nutzung erogener Körperzonen verbunden mit Lust, Ängsten, Konflikten, Ambivalenzen oder Abwehrformen (Freud, 1964) sowie die zunehmende Selbstständigkeit im Hinblick auf die Kontrolle über die körperlichen Funktionen und die Auseinandersetzung mit den geschlechtlichen Rollenzuweisungen (Seidel, 2007, S. 144; Kap. 13). Auch dieses Phasen-Modell kann für das Verständnis des bildnerischen Verhaltens insbesondere von Kindern unter sechs Jahren, aber ebenso für die inhaltliche Interpretation späterer Kinderzeichnungen leitend sein, weil hier u. a. unbewussten, triebhaften Vorgängen eine zentrale Bedeutung zukommt (z. B. Richter, 1997, S. 286ff.; Widlöcher, 1984; Kap. 4.1 u. 4.2). Manche Veröffentlichungen zur Kinderzeichnung, die auf der Psychoanalyse fußen, sind jedoch als pseudo-wissenschaftlich und hoch spekulativ bis schädlich zu bezeichnen; schon reißerische, unwissenschaftliche Buchtitel mahnen zur Vorsicht, etwa: »Die geheime Sprache der Kinder. Kinderzeichnungen richtig deuten« (Crotti & Magni, 1999). Weder nutzen Kinder eine »geheime Sprache«, noch gibt es, wie oben erläutert, eine einzig »richtige« Deutung.
Die Darstellungen in diesem Kapitel 3 beziehen sich primär auf die Kinderzeichnung sowie -malerei, und hier insbesondere auf die zentralen Bereiche Menschendarstellung und Räumlichkeit/Raumdarstellung. Die Entwicklung des plastischen bzw. dreidimensionalen Gestaltens ist in ihren Merkmalen, Schritten und Phaseneinteilungen mit der Zeichenentwicklung eng verbunden, jedoch bis auf eine Studie von Stefan Becker (2003) wenig erforscht. Sammeln und Ordnen von Dingen und Materialien (Duncker, 1995, 2006; Duncker, Frohberg & Zierfuss, 1999; Kirchner, 2008, S. 13; Stieve, 2010), Fotografie und Videopraxis von Kindern (Heyl, 2008, S. 108ff.; Michl, 2014) spielen auch in der Forschung angesichts dieser Fokussierung auf die Entwicklung der Kinderzeichnung nur am Rande eine Rolle. Gleiches gilt für Mischtechniken wie Basteln, Konstruieren und Collagieren (Kirchner, 2008, S. 13; Schäfer, 1990) sowie Bildwahrnehmung und Kunstrezeption (Bilstein, 2011; Bilstein & Neysters, 2013; Braune, 2013; Hinkel,...